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Weltdorf XXIX

Hello, Freunde des Weltdorfs XXIX,

viel Lärm um fast Nichts. Was ist Trump gegen einen gewaltverherrlichenden Nietzsche, einen berserkerischen Luther, einen monomanischen Stirner?

„Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die „Natur“, auch gegen die „Vernunft“. Auf die reine Gier zum Dasein gründet sich die Ethik. Moral ist die Wichtigtuerei des Menschen vor der Natur. Es gibt Herren-Moral und es gibt Sklavenmoral.“

Moral ohne Religion? Für den Pastorensohn eine Illusion:

„Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: Aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig.“

Welch geifernde Moral-Attacken gegen einen Spießerschreck, besonders unter leicht erschreckbaren Deutschen, die sonst moralische Sätze nicht genug verhöhnen können? Hat der Sproß erfolgreicher Pfälzer unwissentlich das deutsche Geheimnis enttarnt: Preisung der Amoral ist Kennzeichen kraftstrotzender Germanen – nur pöbelhaft darstellen sollte man sie nicht? Was partout unanständig wäre.

Benimm und Anstand gehen weit über jeglichen Moralismus. Blut darf kleben an beiden Händen, wer aber mit Messer und Gabel nicht dinieren kann, auch jeden Anstand vermissen lässt, schließt sich aus dem Kreis der Vornehmen aus. Knigge ist wichtiger als der kategorische Imperativ. Wie haben die romantischen Bürschchen gelacht, als Schiller sein moralisches Lied von der Glocke

veröffentlichte!

Welch bigotte Empörung über das Böse – in einer Kultur, die ihren Gottessohn ans Kreuz nagelt, um das Böse zu überwinden! Behütete Bürgersprösslinge beginnen zu zittern, wenn sie auf der Straße zum ersten Mal die Ungeheuerlichkeiten hören: du Arsch, ich fick deine Mutter!

Trump ist ein ordinärer Kapitalist. Weiß nicht jeder, was ein krachlederner Herr über Geld und Menschen ist? Und nun tun sie, als ob sie nie einen Hollywoodfilm über Macht und Sittenlosigkeit gesehen hätten. Kleinkinder halten sich die Hände vors Gesicht – und glauben, sie seien unsichtbar. Weiter hat es die Selbstwahrnehmung der Moderne auch nicht gebracht.

Trump – ein verführerischer Populist? Gibt es einen gigantischeren Populismus als die Verkündigung der Frohen Botschaft?

„Siehe, ich verkündige ich euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird? Friede auf Erden unter den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat.“

Wo erschien die Freude, wo kam der Frieden ins Leben der Völker? Nichts, aber auch gar nichts von diesen populistischen Versprechungen ist Realität geworden. Im Namen der Guten Botschaft kam mehr Unheil über die Welt als in der gesamten Geschichte der Menschheit zuvor.

Lag es etwa an den Menschen, an denen Gott partout kein Wohlgefallen haben konnte? Lieber nehmen die irrenden Schafe alle Schuld auf sich, als den himmlischen Populisten in die unverdiente Pension zu schicken. Auf seine Wiederkunft wartet die gläubige Gemeinde noch immer in wachsender Ungeduld. Längst erfüllen sie ihre Prophetien selbst, um ihr sinnloses Warten weiterhin zu verdrängen.

Nur nicht wahrnehmen, was ist, lautet das subkutane Motto der Fakten-Fakten-Fakten-Huber. Gab es je Epochen der Menschheit, die sich mehr belogen hätten als die jetzige? In Deutschland feiern sie einen Reformator als „Glücksfall der Demokratiegeschichte“, dessen Obrigkeitslehre direkt in den Nationalsozialismus mündete:

„Von Staats wegen ist Luther, der Ketzer, ein Glücksfall der Demokratiegeschichte.“ (FAZ.NET)

Römer 13, von allen Reformationsfreunden totgeschwiegen, bleibt die religiöse Urlegitimation jedes westlichen Totalitarismus:

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen. Denn die Gewaltigen sind ein Gegenstand der Furcht nicht für den, der Gutes tut, sondern für den Bösen. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, so wirst du Lob von ihr haben. Denn sie ist Gottes Dienerin dir zu gut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut.“

Eine Freisprechung, eine ungeheure Voraus-Reinwaschung und Rechtfertigung jedes Verbrechersystems. Jede Regierung belohnt das Gute und bestraft das Böse? Das ist ein Schlag ins Gesicht jedes Opfers eines Faschistenführers.

Bleiben wir nur in der Gegenwart. Assad: von Gott eingesetzt. Erdogan: Diener Gottes. Ortega: von Gott verordnet. Der Diktator Nordkoreas: ein Belohner des Guten und Bestrafer des Bösen. Despoten rund um die Welt: Garanten der göttlichen Ordnung.

Auch in Demokratien dürfte es – nach Luther – keinerlei Berechtigung zu irgendeiner Kritik geben. Denn alle Obrigkeit ist nur dazu da, dem Untertanen zu nützen. Es gibt keine Machteliten, gewählte oder ungewählte, die nicht von Gott wären. Auch die Raubritter und Kapitalisten der Welt, die sich den Reichtum der Welt einverleiben, sind Obrigkeiten, denen der Untertan zu gehorchen hat. Duckt euch, seid untertan, haltet die Klappe, ist die Predigt der Kirchen seit Tausenden von Jahren.

Warum kommen die Ausgelaugten und Ausgebeuteten nicht in die Gänge? Warum haben sie nicht längst die religiöse Absicherung ihrer Tyrannen durchschaut? Weil sie ihre Religion nicht durchschauen dürfen.

Klerus und Eliten halten zusammen wie Pech und Schwefel. Obgleich sich die Kirchen leeren, wächst ihr Einfluss ins Grenzenlose. Zwei weitere Feiertage wird Merkel demnächst dem Oberprotestanten Bedford-Strohm zum Luther-Jubiläum als kleine Dankesgabe für die Zähmung der Meute überreichen.

Ohnehin gibt es fast keine Feiertage zum Ruhm der Welt. Jeder Feiertag muss soli deo gloria sein. Es gibt keine Freudentage zum Ruhm der Demokratie und der Menschenrechte. Am höchsten Feiertag der Welthasser wird ein nicht existenter Sohn eines nicht existenten Vaters an ein nicht existentes Marterlholz genagelt. Zur Rettung aus einer nicht existenten Erbsünde, die die Menschheit nicht existenten Ureltern zu verdanken hat. Alles frei erfundene Romane und Geschichten, die amüsant, skurril und schauderhaft wären, wenn sie nicht Macht über die Menschheit gewonnen hätten.

Bei Andreas Öhler lesen wir eine seltene Warnung vor der ungehemmten Verluderung – äh, Verlutherung – der Gesellschaft:

„Weil die Berliner Republik den Menschen keine Hoffnung mehr geben kann, leiht sie sich die von der evangelischen Kirche. Warum sich Politik und Protestantismus zu nah sind in Deutschland. Eine Warnung.“ (ZEIT.de)

Allerdings: eine „Republik“ an sich hat keine Hoffnung zu geben. Sie hat zu regieren. Sie ist keine pädagogische Zentrale der Gesellschaft. Citoyens brauchen keine pastoralen Ermunterungen aus Berlin. Mündige Menschen können sich selbst ermutigen und anspornen. „Wir schaffen das“ hätte eine Ermutigung sein können, wenn, ja wenn man den Eindruck gehabt hätte, dass die „Republik“ ihre eigenen Worte ernst nähme. Wenn aber jeder Satz von gestern heute in den Wind geblasen wird unter dem Motto: wir schauen nicht nach hinten, sondern erfinden uns täglich neu, dann ist das rhetorische Gebläse von oben keinen Pfifferling wert.

In einer „utopielosen Gesellschaft“ versorgt das protestantische Ethos niemanden mit versöhnenden Werten. Das christliche Credo kennt Hoffnung nur für Erwählte und Heidenangst für ewig Verdammte. Eine Demokratie aber ist eine politische Gemeinde der Gleichwertigen und lässt sich nicht durch Ukas von Oben in zwei Hälften aufspalten. Selbstbewusste Menschen machen sich selber Mut. Auf geölte Mutmacher als Stimmen des Himmels können sie dankend verzichten.

Wie gehen Protestanten mit Römer 13 um? Entweder ignorieren sie, was ihnen nicht in den Kram passt – oder sie lügen sich die Hucke voll. Das nennen sie zeitgemäß deuten. Was ihnen nicht passt, wird zum Teufel gedeutet. Das Buch, das für sie am wichtigsten ist, wird zum Selbstbedienungsladen, in dem das Motto des Monaco Franze gilt: a bisserl was geht immer. Wenn das bisserl ständig ausgeweitet wird, geht am Schluss alles.

Kein Paulus würde heute seine Briefe wiedererkennen. Ein Lukas würde sich im Grabe umdrehen, wenn er die Vexierkünste seiner Deuter erführe. Mündiger Christ, so die Devise der heutigen Allmachtsdeutungskunst: du bist Herr der Schrift. Kein Buchstabe kann dir befehlen, wie du selig werden sollst. Ändere die Schrift, bis sie dir leise schnurrend zu Diensten steht.

Nehmen wir Wolfgang Thierse, der sich – als sein intellektuelles Gewissen noch nicht total verluthert war – mit Römer 13 auseinandersetzte. In einer Fastenpredigt im Berliner Dom beginnt er erstaunlich ehrlich:

„Mit Berufung auf Römer 13 wurde die jeweilige staatliche Ordnung religiös überhöht, wurden Unterordnung und Gehorsam als Christenpflicht gefordert, wurde die Todesstrafe gerechtfertigt, wurde ein politisches Widerstandsrecht bestritten. Für die unselige Verquickung von Thron und Altar war dieser Text eine theologische Berufungsinstanz. Bei Martin Luther findet sich dazu durchaus Erschreckendes. In seinem Pamphlet „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ (1525) schreibt er: „Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein. Das wusste Gott wohl; drum gab er der Obrigkeit nicht einen Fuchsschwanz, sondern ein Schwert in die Hand … steche, schlage, würge hier, wer da kann. Bleibst du darüber tot, wohl dir, seliglicheren Tod kannst du nimmermehr überkommen. Denn du stirbst im Gehorsam göttlichen Wortes und Befehls, Römer 13,4 und im Dienst der Liebe …“. So weit Luther.“ (Thierse.de)

Er steuert eigene biografische Schwierigkeiten bei:

„Ich erinnere mich daran, wie schwer erträglich mir in der DDR die Forderung des Paulus war, der Obrigkeit untertan sein zu sollen, nicht nur wenn diese nach dem Gesetz Gottes handelt, sondern auch wenn sie dagegen handelt. Wie verhält man sich als Christ gegenüber einer Macht und in einer Ordnung, zu der man nicht gehörte, von der man sich benachteiligt, bedrängt fühlte, in der man Unfreiheit erlebte? Ist etwa das realsozialistische Regime auch von Gott? Das abzulehnen, gegen das zu rebellieren oder das mindestens nicht zu unterstützen, sich nicht auf Römer 13 berufen dürfe? Reichte es nicht, wenn wir – weil es nach dem Mauerbau 61 keine Alternative mehr gab – uns auf dieses System einließen, weil wir mussten, uns in ihm einrichteten und an seinem Funktionieren, an seiner Verbesserung mitarbeiteten, sofern wir durften – um der Menschen willen. Ein Realismus des Sich-Einlassen-Müssens auf Verhältnisse, die wir uns nicht haben aussuchen können, verbunden mit dem ständigen, alltäglichen, mühsamen Versuch, seinen eben auch christlichen Maßstäben von Anstand und Intelligenz zu folgen, danach zu leben und zu handeln. Was sollte da noch eine religiöse Überhöhung von Obrigkeit? Zumal wenn sie mit der Absage von Widerspruch und Rebellion verbunden wurde?“

Doch schon naht auf unhörbaren Pfoten die Hilfe der Gottesexperten. Gibt es nicht die Barmer Erklärung von 1934, mit welcher der calvinistische Theologe Karl Barth die damaligen lutherischen Obrigkeits- und Hitleranbeter der satanischen Irrlehre zieh? Die lutherischen Dogmatiker Althaus, Emanuel Hirsch u.a. sahen im deutschen Führer den wiedergekehrten Messias. Gott offenbart sich „je und je“ in der Geschichte und hat sich in der deutschen unzweideutig zu Wort gemeldet. Das war fast einhelliger Konsens der Protestanten (und der meisten Katholiken):

„Nichts konnte die unvergleichliche Stellung, die Hitler inzwischen gewonnen hatte, und die Veränderungen, die in Deutschland vorgegangen waren, besser kennzeichnen als die Tatsache, dass sämtliche führenden Bischöfe und Theologen der evangelischen Kirche die Lösung der kirchlichen Schwierigkeiten von einem Mann erwarteten, der die ganze Kirchenfrage nur politisch sah und überdies katholisch war. Ähnliches wäre noch ein Jahr zuvor unter einem Kanzler der Republik undenkbar gewesen. Dieser merkwürdige Führerglaube beschränkte sich keineswegs auf die evangelische Seite, auch der katholische Episkopat erhoffte sich das ganze Jahr 1934 hindurch einen Ausweg aus der bedrängten Lage der Kirche allein von Hitler. Kein Zweifel: Deutschland war innerlich zu einem Führerstaat geworden.“ (Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich)

Waren die Barmer Erklärungen politische Antithesen gegen das führertrunkene Luthertum? Keineswegs. Karl Barth, Schweizer und Calvinist, widersprach aus rein theologischen Gründen der Theologie der Lutheraner. Uralte Animositäten taten sich auf, die sich im Abendmahlsstreit zwischen Genf und Wittenberg zugetragen hatten. Für die deutschen Lutheraner offenbarte sich Gott in der Geschichte in gleichem Maß, wie Brot und Wein sich in, mit und unter dem Wort in Fleisch und Blut Christi manifestierten. Für den kühlen Calvin gab es keine Identität von göttlicher und irdischer Materie, so wenig wie für Barth eine wirkliche Offenbarung Gottes in einem deutschen Führer. Dennoch ging es nicht um einen politischen, sondern um einen rein theologischen Disput – der das Judenproblem schändlicherweise gar nicht zur Kenntnis nahm. Barth, für den Martin Walser vor nicht allzulanger Zeit in allen Redaktionen der BRD Reklame lief, war nicht weniger antisemitisch als die von ihm bekämpften Lutheraner.

„Die Bekennende Kirche, die von Barmen herkam, hatte nach ihrem eigenen Verständnis einen theologischen und keinen politischen Auftrag. Ihr Verzicht, sich im Dritten Reich als politische Widerstandsgruppe zu verstehen, entsprang nicht der allgemein kritisierten Blindheit, Mutlosigkeit und Anpassungsbereitschaft, die gewiss auch im Spiele waren. Im Kern entsprang dieser Verzicht einer theologischen Entscheidung. Mit dieser Bescheidung auf ihr theologisches Amt konnte niemand der Kirche vorwerfen, sie hätte sich mit ihren Aussagen in ein fremdes Amt gemischt. Aber jeder, der es hören wollte, konnte hören, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes der Gottähnlichkeit des totalen Staates und seiner Träger und Ideen eine unübersehbare Grenze setzte.“ (Scholder)

Ist das keine raffinierte, sich selbst und alle Gemeindemitglieder betrügende Strategie? Ihre Feigheit wegen mangelnden Widerstandes gegen die NS-Clique konnten sich die Barmer durch ein rein theologisches Mäntelchen retten. Würden sich aber eines Tages die Machtverhältnisse ändern, könnten sie ihre vagen Formulierungen als politischen Widerstand ausgeben.

Die Barmer Erklärung dient der gegenwärtigen Kirche als Ausweis ihrer tapferen Widerstandsrolle. Wenn Lügen heilige Pflicht wären, müssten die Kirchen für immer selig gesprochen werden. Scholder resümiert:

„Von einem Widerstand gegen das Regime im strengen Sinn konnte keine Rede sein, dazu fehlte den Protestierenden völlig das Bewusstsein eines grundsätzlichen politischen oder moralischen Gegensatzes zum System.“ Mit den Worten eines Württemberger Theologen: „Die Kirche ist nicht Richterin über den Staat, sie hat das Evangelium zu verkündigen, das das Gericht über alles Irdische impliziert.“ Wann? Am Ende aller Tage. Doch bis dorthin galt das Gebot der schlechthinigen Untertänigkeit und Unterwürfigkeit unter jedwede Obrigkeit – und sei sie noch so verbrecherisch.

Thierse scheint sich mit all diesen Kleinigkeiten nicht beschäftigt zu haben. Nur allzugern hörte er auf die Lügenmärchen seiner westdeutschen Brüder, dass Barmen das evangelische Herz des Widerstands gegen Hitler gewesen sei. Dann schaut er noch bei zeitgenössischen Gottesgelehrten nach und erfährt zu seiner Zufriedenheit, dass Römer 13 keine zeitlose Aussage sei:

„Die Exegeten, bei denen ich nachgeschaut habe, die Theologieprofessoren sind sich einig: Paulus spricht in eine konkrete Situation hinein und über das Handeln und Verhalten der Christen in der Reichshauptstadt Rom. Er entfaltet keine allgemeine Lehre vom gerechten Staat, formuliert keine Staats-(Kirchen-)Rechts-Theorie.“

Und er kommt zur erwartbaren Wunschdeutung, dass totalitäre Untertänigkeit und demokratische Kritik sich nicht ausschließen. Man sieht, auch Lutheraner glauben an permanente Wunder:

„Der Demokratie verpflichtet sein und danach handeln – könnte das eine zeitgemäße Übersetzung des Satzes sein „Jedermann sei der Obrigkeit untertan“?

Die Schrift so lange misshandeln, bis sie sagt, was man hören will, das nennt sich moderne Hermeneutik. Die Anfänge dieses Systembetrugs liegen bereits im Urchristentum. Fromme Ekstatiker, die sich im Besitz des Heiligen Geistes wähnten, fühlten sich den neutestamentlichen Schriftstellern in keiner Hinsicht unterlegen und erteilten sich die Lizenz zu eigenen Offenbarungen, die den kanonischen gleichgestellt waren. Wer in Zungen reden konnte, die Sprachen aller Völker verstand – wie sollte der den Text der Offenbarung nicht vollmächtig und unfehlbar auslegen können? Die Romantiker übernahmen diese geistbegabte Sicht und machten sich zu omnipotenten Herren der Auslegung.

Wie Thierse sich diverser Theologen, so bedienen Medien sich des Tricks, sich auf „Kritiker und Experten“ zu berufen, die rein zufällig ihre eigene Meinung bestätigen. Gottesgelehrte und Edelschreiber bedienen sich derselben Deutungskünste.

Wer oder was ist Trump, wenn man ihn mit Luther vergleicht, der gegen die Juden oder die Bauern wütet?

Wer oder was ist Trump, wenn man ihn mit Nietzsches Äußerungen über die absolute Macht der Herrenmenschen vergleicht?

Hat der Westen die Lehre vom Über-Ich und vom Verdrängen ins Es – verdrängt? Wer den Menschen als Ausbund des Bösen betrachtet, was glaubt der, wo das Böse hinkommt? Verdampft es spurenlos im Äther? Dann wäre es keine Erbsünde, die lebenslang an den Sündern haftet, selbst wenn sie wiedergeboren werden. Empirisch (sagte Bultmann) bleiben sie Sünder. Nur vor Gott gelten sie als rein, weil sie den Erlöser „angezogen“ haben.

Amerika, die Avantgarde des demokratischen Westens, steht vor einer Zeitenwende. In Trump und seinen weißen Gefolgsleuten offenbart sich nichts, was nicht seit Jahrhunderten, ja von Anbeginn des Neuen Kanaan an, schon vorhanden gewesen wäre. Amerika ist ein Kontinent des neocalvinistischen Kapitalismus. Calvin, der nicht wenige seiner Glaubenskritiker mit Feuer bekehren wollte, war das Gegenteil eines Demokraten.

Solange Gottes eigenes Land sich im Aufwärtstrend befand, konnte die Balance aus antagonistischen Elementen bewahrt werden. Der Sieg über die Deutschen bestärkte die demokratischen Bestandteile des riesigen Landes und zog die Welt in den Bann der UNO. Im Parlament der Völker wollte die Menschheit ein neues Kapitel beginnen. Noch nicht lange her, dass Fukuyama den finalen Sieg der Demokratie verkündete. Es schien nur noch ökonomische Kleinigkeiten zu geben, die man nachjustieren müsste.

Doch die Scheinsynthese aus unendlicher Gier und demokratischer Fäulnis zerplatzte auf dem Höhepunkt der globalen Hybris. Trump ist nur ein Symptom, ein winziges Ventil eines planetarischen Gärens.

Bislang wurde Vergangenheit sträflich vernachlässigt, ja komplett verleugnet. Das wird sich bitter rächen, denn die Lerngeschichte der Menschheit wird komplett gelöscht. Wie aber sollen wir lernen, wenn wir nicht alles prüfen, das Beste behalten? Verschreiben wir uns einem kollektiven Alzheimer – oder schauen wir „zurück“, um uns die beglückenden Erfahrungen der Menschheit zu vergegenwärtigen?

Ein zurück gibt es so wenig wie ein vorwärts, wenn es um lebenserhaltende Wahrheiten geht. Es gibt keine lineare Geschichte. Alles, was geschehen ist, ist für Wahrheitssucher synchron.

Barbara Junge konstatiert in der TAZ:

„Das politische Washington braucht strenge ethische Maßstäbe, rigide rechtliche Regeln und eine Entflechtung von der Macht der Lobbyisten. Es muss sich neu erfinden.“ (TAZ.de)

Gibt es denn keine strengen ethischen Maßstäbe mehr? Oder werden sie von einer fortschrittsbesoffenen Menschheit ignoriert? Haben wir schon alles gelernt, was wir aus der Vergangenheit lernen könnten?

Davon kann keine Rede sein. Die Moderne ist zu einem Beinhaus toter Erinnerungen und erschlagener Wahrheiten geworden. Mit Ausnahme demokratischer Fassaden ist die gesamte Moderne zu einem kollektiven Selbstbetrugs-System geworden. Der babylonische Turm der Gegenwart, der auf uns zu stürzen droht, besteht vor allem aus Lügen, die als Lügen gar nicht mehr empfunden werden.

Wir leben in keiner Epoche des Umbruchs. Alles bleibt unverändert, alles in bleierner Unbeweglichkeit: die wirtschaftliche Herrschaft der Tycoons, die faschistische Diktatur des technischen Fortschritts, die endlose Verwüstung der Natur, die gottgleiche Maßlosigkeit der westlichen Gattung Mensch. Was sich ändert, sind quantitative Wucherungen.

Keine Demokratie ist mit messianisch-apokalyptischer Heilsgeschichte kompatibel. Die Amerikaner scheinen diese Unverträglichkeit allmählich zu spüren. Ein SPIEGEL-Artikel behauptet, die hohen Zeiten des „In God, we trust“, seien vorüber.

„Auf jeder Dollarnote prangt das 1956 zum nationalen Wahlspruch gemachte „In God we Trust“ (Wir vertrauen auf Gott). Alle wichtigen Reden enden mit der Formel „God bless America“ (Gott segne Amerika). Von Anfang an waren die Vereinigten Staaten so tief religiös, dass die „civil religion“ für den französischen Staatstheoretiker Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert prägender für die amerikanische Union war als die Verfassung. Von all dem ist nicht viel geblieben. Michael Hochgeschwender vom Amerika-Institut der Universität München sieht in dem aktuellen US-Wahlkampf einen Wendepunkt. Religion spiele kaum noch eine Rolle. Der Bostoner Rechts- und Philosophieprofessor Thomas C. Kohler stuft die Vereinigten Staaten als bereits „nachchristliche Gesellschaft“ ein.“ (SPIEGEL.de)

Den Verlust des Glaubens gleichzusetzen mit dem Schwinden der Moral, ist christlicher Unfug. Christentum ist keine eindeutige Moral, sondern antinomisches Willkürverhalten. Dennoch zeigt sich ein Licht am Horizont, wenn die Macht der Pfaffen zu schwinden scheint. Der SPIEGEL bleibt kirchenfromm auf der Seite der Priester und Propheten:

„Insgesamt sind Trump und Clinton Phänomene einer Entwicklung, die die Würdigung des britischen Schriftstellers Gilbert Keith Chestertons auf den Kopf stellen. Für ihn war Amerika „die Nation mit der Seele einer Kirche“. Wir sind Zeuge, wie die Vereinigten Staaten gerade dabei sind, diese Seele zu verlieren“.

Im Gegenteil. Die Seele der Menschheit ist keine überirdische. Sie ist das Herzstück der symbiotischen Verbundenheit des Menschen mit der Natur. Sollte Amerika die Kraft der Selbstbesinnung aufbringen, seine calvinistischen Verkrustungen abzuwerfen und zu den Urwurzeln der Vernunft durchzustoßen, wird es seine Seele erst erringen – und die Devise seiner wahren Avantgarde erkennen:

„In Nature, in Reason, in Mankind we Trust.”  

 

Fortsetzung folgt.