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Weltdorf XXVII

Hello, Freunde des Weltdorfs XXVII,

„denn das Reich Gottes besteht nicht in Essen und Trinken“.

Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frißt,
Daß unsre Seele unsterblich ist.

Im hungrigen Magen Eingang finden
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten.

Das Opium des Volkes erfuhr im gottlosen Sozialismus eine wunderbare Widerfahrnis und verwandelte sich in Opium für das Volk. Aus einem pfäffischen Fürstenknecht wurde ein Vorläufer des Karl Marx, aus der Reformation der Innerlichkeit eine Vorläuferin der politischen Revolution. Christen waren keine spirituellen Gegner des Systems mehr, sondern wurden zu Mitarbeitern des Materialismus – wenn auch mit verträumten oder verspäteten Ideologiedefiziten. Umgekehrt wurden Marxisten für Christen Stiefbrüder der Gesinnung, die hinter der irdischen Revolution die jesuanische noch nicht erkannt hatten: der Marxist in seinem dunklen Drang ist sich des Weges nach Jerusalem noch nicht bewusst.

Atheismus ist der Kern des Christentums, Christentum Kern des Atheismus, verkündete Ernst Bloch in nie versagender Hoffnung und – haste nich gesehen – hatte der Theologe Jürgen Moltmann aus dem Bloch‘schen Prinzip Hoffnung seine Theologie der Hoffnung in geistbegabter Windeseile gezimmert.

Ernst Fuchs, führender DDR-Theologe mit sozialistischen Neigungen, anerkannte

dankbar die Gerechtigkeitsbestrebungen des Marxismus, die vom staatsdevoten Thron & Altar-Christentum verraten worden waren:

„… dann werden wir erkennen, dass der Marxismus eine Wahrheit enthüllt hat, die wir als Christen anerkennen müssen.“ („Christliche und marxistische Ethik“)

Welche Wahrheit? „Wir müssen sehen, dass es ein Christentum gab und gibt, das für die furchtbare Zerstörungsgewalt der bestehenden Machtverhältnisse kein Auge hatte, ja den Menschen die Sicht verdunkelte und sie auf kleine persönliche Pflichterfüllung und Selbstbehauptung abdrängte.“ (ebenda)

Für den frühen Sozialisten Wilhelm Weitling war die Bibel eine revolutionäre Schrift in religiöser Terminologie – die nur zeitgemäß interpretiert werden müsste, um den Arbeitern das Reich Gottes auf Erden zu verkündigen:

„Auf ein ewiges Leben, auf Vergeltung dort oben hoffen wir nicht, solange es hier unten nicht besser wird: dass es aber bald anders und besser werde, darauf hoffen wir, auf ein sorgenfreies, glückliches Leben und auf Gerechtigkeit für alle Menschen auf Erden: darauf hoffen wir.“ („Das Evangelium des armen Sünders“)

Für Marx-Engels war Weitling noch allzu pietistisch und gottesfürchtig. Die Kritik der Religion war für Marx die Voraussetzung aller Kritik – dennoch blieb sein Reich der Freiheit nichts anderes als das Reich Gottes auf Erden, das sich aber nicht mit transzendenter Macht, sondern mit natürlicher Gesetzmäßigkeit realisieren werde. Wie Newton die Gesetze der Natur, so wollte der Trierer die Gesetze der Geschichte erkennen.

Weder Marx noch seine linken Gefolgsleute erkannten bis zum heutigen Tage, dass die Notwendigkeit der Natur identisch war mit der Gesetzmäßigkeit einer göttlichen Heilsgeschichte, in der nicht der Mensch, sondern die Geschichte die Zügel des Schicksals in der Hand hält.

Sich auf der rechten Seite der Geschichte befinden: das war die Losung der Deutschen, die das Wehen des Geistes zu spüren glaubten – also fast aller. Zwar verstanden sie unter dem Ziel der Geschichte Widersprüchliches, doch bei allen musste es Geschichte sein, um die Zielvorstellungen der Hungernden und Unzufriedenen ins Werk zu setzen.

Der Einheitsbrei der gegenwärtigen GAGROKO (der Ganz Großen Koalition aller Parteien) ist das Ergebnis dieser Rückbindung aller politischen Köpfe an die Geschichte. Links und rechts sind einerlei? Nicht dem Inhalt, aber der Zuversicht in die Geschichte nach, die im Kairos der Zeiten die Visionen der Menschheit erfüllen werde. Die Maische aus links und rechts bestätigt, dass abendländische Werte – der Glaube an die Heilsgeschichte – das öffentliche Leben in Deutschland bestimmen.

Für Marxisten ist das Reich der Freiheit das Reich der Proleten, die als Gesamtsieger der Geschichte prämiiert werden – unter Eliminierung aller Ausbeuter und Charaktermasken.

Für Chauvinisten und Faschisten ist das Reich der Freiheit das Reich der richtigen Rasse oder Nation – unter Eliminierung aller lebensuntüchtigen, minderwertigen und bösartigen Rassen.

Ausgerechnet die Konservativen, meistens christliche Volksparteien, neigen am wenigsten zu heilsgeschichtlichen Visionen. Ihnen genügt die gottgegebene Macht der Gegenwart, die sie so lange zu bewahren gedenken, bis der Herr dem irdischen Treiben persönlich ein Ende setzen wird. Der Gläubige hat sich nicht zu erkühnen, eigene Visionen zu entwerfen und deren Verwirklichung von Gott zu erwarten. Er begnüge sich mit dem, was der Herr der Geschichte ihm gnädig von Tag zu Tag gewährt.

Offiziell setzen die Neoliberalen nicht auf überlegene Rassen und Völker. Sondern auf die ökonomisch und technisch Leistungsstarken aller Welt, die sich unausweichlich zu einer führenden Oberschicht der Minderheiten quer über den gesamten Planeten zusammenballen. Insgeheim aber bleiben sie von der Überlegenheit ihrer weißen und religiösen Erwähltheit überzeugt. Jetzt klumpen sie noch mit allen Tüchtigen zusammen, um sich von den ordinären Massen der Welt abzusetzen. Doch einst wird der Tag des Finales kommen, wo die Minderheit der auserwählten Kultur alle Konkurrenten ausschalten wird, um als Gesamtsieger der Geschichte durchs Ziel zu eilen.

Warum empfanden die Frühsozialisten das Christentum als sozialrevolutionäre Bewegung, verpackt in religiöse Eierschalen?

Seit Erfindung der Geldwirtschaft hatten sich in den mittelmeerischen Ostländern kapitalistische Ungleichheiten entwickelt. In der athenischen Polis entbrannte der Streit um gerechte Verhältnisse am heftigsten. Hier gab es keine mächtige Obrigkeit, die das Volk zur Ruhe zwingen konnte. Die Erfindung der Demokratie war das Ergebnis einer philosophischen und politischen Auseinandersetzung um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.

„Die gewaltige Umwälzung des Wirtschaftslebens, die sich seit dem 8. Jahrhundert vollzog, das Aufkommen der Geldwirtschaft, das Einsetzen einer industriellen und merkantilen Entwicklung führte zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Schichtung, die der Herrschaft des Adels gefährlich werden musste. Zwar wusste dieser vielfach die Anfänge des Kapitalismus zu nutzen, um dank seiner wirtschaftlichen Überlegenheit den eignen Grundbesitz auf Kosten der freien Bauern zu vermehren und diese zu Zinsbauern oder gar zu Leibeigenen herabzudrücken, schuf aber dadurch eine derartige Not und Erbitterung, die zu den radikalsten Forderungen führte. Aufhebung der Schulden und Neuaufteilung von Grund und Boden wurden Programmpunkte im wirtschaftlichen Kampfe. (Max Pohlenz, Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen)

Solon, Begründer der athenischen Demokratie, erließ den Bauern die Schulden und stellte ein Gleichgewicht von oben und unten her. Ein starker Mittelstand, eine Oberschicht, die nicht in Luxus versank und eine Unterschicht, die nicht in Armut verelendete, waren die wirtschaftlichen Stabilisatoren der gerechten Polis. Nicht Uniformität, aber auch keine klaffenden Unterschiede zwischen den Klassen des Stadtstaates sollten die relative Homogenität des Gemeinwesens prägen.

Einen Schuldenschnitt, den Solon athenischen Bauern gewährte, gewährt eine deutsche Kanzlerin modernen Neugriechen ums Verrecken nicht.

Die deutsche Ökonomie hat sich in einem nationalen Sonderweg isoliert. Fast alle führenden Ökonomen der Welt beobachten die Spar- und Erdrosselungsmethoden der größenwahnsinnigen Deutschen mit Besorgnis. Wie Luther die rebellischen Bauern in heiligem Zorn verfluchte, so traktiert Merkel die Griechen mit innerem Zürnen, das sich als äußerliche Kälte geriert: „Ich weiß, dass ich Recht habe.“

Merkel fährt in alle Welt, nur nicht zu jenen Völkern, die sie unerbittlich malträtiert. Die Deutschen haben den Makel ihrer militärischen Niederlage und die Schande ihrer Verbrechen überwunden und suhlen sich in der Paraderolle der Vorreiter Europas.

Der griechische Streit um Gerechtigkeit schwappte auch nach Palästina. Vollends die Eroberung des Nahen Ostens durch Alexander verschärfte die wachsenden Konflikte im Heiligen Land, das die Homogenität seiner abrahamitischen Anfänge verloren hatte. Die Frage der Gerechtigkeit, von den Griechen mit autonomer Vernunft durchkämpft, wurde in ein Land importiert, das alle wesentlichen Fragen mit einem allmächtigen Gott in Verbindung brachte. Nicht der Mensch war Urheber seiner Moral, sondern der Schöpfer Himmels und der Erden. Die Gerechtigkeit des Menschen wurde zur Gerechtigkeit Gottes verfremdet.

Viele Formulierungen klingen ähnlich und sind dennoch Bestandteile eines gänzlich anderen Zusammenhanges. Weshalb es unstatthaft ist, human klingende Moralsentenzen herauszupicken, ohne den dogmatischen Kontext zu berücksichtigen.

Deutsche Führungsklassen mit hohem Bedarf an metaphysischer Verankerung kümmert dieses Gebot intellektueller Redlichkeit nicht. Das Einzige, was sie von Luther heute noch lernen könnten: das Wort, sie sollen lassen stahn, haben sie durch zeitgeist-gemäße Willkürdeutungen vernichtet. Ihre hermeneutische Anarchie, die die verlässliche Stabilität der Sprache und des logischen Buchstabens vernichtet, soll Kritik sein, die sich nicht traut, Kritik zu sein. Wer seine Religion humanisieren will, muss sich von ihrer inhumanen Originalversion scharf und unmißverständlich distanzieren. Sie berufen sich auf einen heiligen Text, den sie für Offenbarung ausgeben, aber gleichzeitig in ein Chaos verwandeln, das mit dem Urtext nichts mehr zu tun hat.

Wie sie evangelische Freiheit als Freiheit vom Gesetz definieren, definieren sie ihre Deutungsfreiheit als Freiheit von der Eindeutigkeit der Sprache. Die Neuzeit will durch keine objektive Wirklichkeit gezügelt werden. Ständige Neudeutungen sollen die Verträglichkeit ihrer Schrift mit modernen Zeitphilosophien beweisen. Doch ihre Deutungen sind keine Deutungen, sondern dreiste Fälschungen.

Die neue ökumenische Bibelübersetzung, „genderbereinigt“ und auch sonst windschlüpfrig abgeschliffen, ist ein öffentlicher Betrug, zu welchem alle deutschen Intellektuellen schweigen. Wen wundert es, dass das Wort im öffentlichen Raum nichts mehr gilt, wenn der Buchstabe im heiligen Raum zur Projektionsfigur pervertierte? Einerseits wird die Deutung freigegeben, andererseits beharren die Offenbarungsempfänger auf der Überlegenheit ihrer eigenen, alle 10 Jahre wechselnden Text-Illuminationen.

Bis zur Aufklärung galt das Wort als stabiles Mittel der Argumentation und Auseinandersetzung. Die Romantiker, allergisch gegen die Rechthaber der Vernunft, machten ihre intellektuelle Unterlegenheit zur Tugend ihrer maßlosen Deutungsbeliebigkeit. Im Tohuwabohu ihrer assoziativen Einfälle fühlten sie sie geschützt. Wenn alle Recht haben, kann niemand mehr Unrecht haben.

Hatte das Wort die Aufgabe, konkurrierende Deutungen mit Verweis auf den stabilen Buchstaben des Irrtums zu überführen, begann ab der romantischen Beliebigkeit jeder Recht zu haben. Mit dem Wort hatte Luther die papistische Unfehlbarkeit attackiert. Nun waren alle Lutheraner selbst unfehlbar geworden. Die Postmoderne ist das Kind der Romantik. Wenn jeder subjektiv Recht hat, wozu bedarf es noch klerikaler Herrschaftsdogmatik?

Arno Widmann wehrt den nationalen Dünkel der Lutherfeiern ab und erliegt dennoch den Fantasiaspielen der Sprachanarchisten.

„Von einer kritischen Bibellektüre kann keine Rede sein. Luther predigt einen Schriftfundamentalismus wie wir ihn heute in vielen Sekten der verschiedensten Religionen finden. Die Etablierung von Heiligen Texten gebiert fortwährend diese Art mörderischer Texttreue. In der Praxis freilich nimmt sich jeder dieser Textfundis die Freiheit einer freieren Interpretation.“

Texttreue ist nur mörderisch, wenn der zugrunde liegende Text mörderisch ist. Einen terroristischen Aufruf zur Tötung von Ungläubigen kann man nicht per Willkür in einen Aufruf zur liebenden Versöhnung umdeuten. Den Journalisten möchte ich sehen, dessen Texte per Selbstermächtigung ins blanke Gegenteil verkehrt werden dürften. Wie wäre es, Hitlers Texte per völkischer Neudeutung in eine Liebeserklärung an alle Feinde Deutschlands zu verwandeln? Wie wäre es, Kants Aufruf zum ewigen Frieden per projektiver Erleuchtung in eine Kriegserklärung an alle Völker zu verhunzen? Das sind Unfasslichkeiten – die längst den akademischen Elfenbeinturm verlassen haben und die alltäglichen Redekünste der Politiker prägen.

Was Heilige können, können Profane allemal. Merkels Flüchtlingspolitik ist zum hartherzigen Gegenteil ihrer Augenblicksgnade geworden. Dennoch erweckt die fromme Frau den Eindruck, unveränderlich mit sich einig zu sein. Die Abwesenheit aller Selbstkritik schreckt kein Mitglied der illustren Merkelsekte, die ihre Mutter der Nation längst für immun erklärt haben. Sie kann tun und lassen, was sie will: solange sie sich gelassen und unberührbar gibt, bleibt sie unfehlbar.

Der innerste Kern der deutschen Kultur ist noch immer das Allerheiligste. Hier brennt das ewige Feuer, dessen flackernde Flamme die Welt nach Belieben ins verwirrende und vieldeutige Zwielicht versetzt. Das Mehr- und Vieldeutige ist das Lieblingsspielzeug postmoderner Deutungskünste.

Den Vorgang des Romantisierens als magische Verwandlung der objektiven Sprache und Welt in subjektive Gespenster nannte Novalis: Romantisieren. Es ist die Fähigkeit der Kinder, ihre Realität beliebig mit Dämonen und Engeln zu bevölkern, um die ungeliebte Welt in eine Wunschwelt zu verzaubern:

„Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es.“ (Novalis)

Die deutende Hexenkunst der Deutschen verleiht ihnen magische Macht, den Griechen die Errungenschaften der Demokratie und der Menschenrechte zu entwenden und als eigene Erfindungen auszugeben. Was sonst Sünde wäre, wird zur heiligen Pflicht, wenn es hehren Zwecken dient. Die Jesuitenmoral ist keine Erfindung der Neuzeit, sondern eine Frucht der biblischen Antinomie. Glaube – und tu, was du willst.

Außenminister Steinmeier hat seine Tauglichkeit für das höchste Amt der BRD mit einem Akt seliger Fälschung bewiesen:

„Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat aus Anlass der großen Luther-Schau „Here I stand …“ in den USA kürzlich behauptet, Deutschland und die moderne Gesellschaft verdankten „Luther und den anderen Reformatoren die entscheidenden Impulse für unser heutiges Verständnis von Freiheit, Bildung und gesellschaftlichem Zusammenleben. Das klingt harmlos, ist aber falsch. Die entscheidenden Impulse sind den konfliktreichen Auseinandersetzung von Reformatoren mit Katholiken, Humanisten, Philosophen zu verdanken. Steinmeier betreibt hier eine einseitige Vereinnahmung der Geschichte: Das ist Identitätspolitik, um Deutschland und Europa als modern und fortschrittlich aussehen zu lassen.“ Schreibt Dirk Pilz in der BLZ.

Eine seltene Stimme historischer Richtigstellung. Alles, was gut und teuer ist, wird gewöhnlich dem Christentum zugerechnet, das Gegenteil den Gottlosen und Aufklärern.

Die Freiheit eines Christenmenschen hat nichts mit politischer Freiheit, die Gerechtigkeit Gottes nichts mit wirtschaftlicher Gerechtigkeit zu tun – wie Pastor Gauck in seiner Gedenkrede an den Reformator psalmodierte. Gebannt hingen die protestantischen Eliten an seinen Lippen. Es war, als ob Nachkriegs-Deutschland seine Neugeburt im Geist des Mittelalters feiern wollte. Luther soll mit theologischen Vexierkünsten zum Urvater der deutschen Demokratie ernannt werden – im selben Heuchelstil, wie die Kirchen sich als Widerstandsbewegungen gegen Hitler aufspielen. Man könnte von kollektiven Lügenorgien sprechen.

Wo beginnen die Grundübel der Politik? Im verwüsteten Gehirn jener, die objektive Sprache und Wirklichkeit zu Erfindungen des grandiosen Ichs erklären. Der Pöbel wird geschmäht ob seiner hasserfüllten Flatulenzen. Die Eliten beherrschen das Geschäft der Lüge und Täuschung mit hochgestochenen, ja heiligmäßigen Methoden aus dem Effeff.

Ihre traditionellen Aversionen gegen den Mammonismus pflegen die Deutschen mit Stellen aus dem Neuen Testament zu begründen. „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich. Man kann nicht Gott und dem Mammon dienen. Verkaufe alles, was du hast und folge mir nach.“

Dieselbe Abneigung gilt den Mächtigen und Fürsten dieser Welt: „Die Fürsten dieser Welt herrschen und ihre Gewaltigen üben Macht, so soll es unter euch nicht sein, sondern wer unter euch der Größte sein will, der sei euer aller Knecht.“

Nietzsche spricht von der Umwertung aller Werte im Christentum. Doch die Umwertung kann man nur richtig einschätzen, wenn man auch die Kontinuität der Werte erkennt: Der Erste zu sein und voranzustreben den anderen: die griechische Lust zum Siegen (Agonistik) bleibt unverändert. Doch die Methoden des Siegens verkehren sich ins Gegenteil. Nicht der Mächtige soll siegen, sondern der Knecht, nicht der Stolze, sondern der Demütige, nicht der Fürst, sondern der Niedrige. Nicht der Reiche, sondern der Arme, nicht der Weise, sondern der Törichte. Die neue Bewertungsgrundlage ist die Potenz Gottes und die Inkompetenz des Menschen. Nicht aus eigener Fähigkeit, Macht und Klugheit soll der Mensch siegen. Nur der Gott in ihm darf den Sieg davon tragen.

Gott muss sein alles in allem, der Mensch darf sich seiner eitlen Fähigkeiten nicht rühmen. Nicht wer arm, sondern wer arm im Geiste ist – also seine Fähigkeiten Gott verdankt –, der wird selig werden. Nicht wer reich ist, sondern seinen Reichtum nicht Gott unterwirft, der wird verdammt. Alles andere wäre Werkgerechtigkeit. Werde arm – und du wirst selig. Werde töricht – und du kommst ins Himmelreich. Seligkeit wäre die Folge menschlicher Tugendkompetenz und Überheblichkeit. Die griechische Autonomie war Sünde wider den Geist, die niemals vergeben wird.

Der deutsche Kampf gegen Moral ist der Kampf Luthers wider die Selbst-gerechten, die aus eigener Kraft glauben, gerecht zu werden. Jesus ist gekommen, die Sünder zu retten, nicht die Gerechten. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, also müssen die Gläubigen sich krank stellen, um dem Heiland das Gefühl zu geben, dass seine Heilkünste gebraucht werden.

Die Deutschen berufen sich auf Luthers subjektvernichtende Rechtfertigungslehre und wollen dennoch die Tüchtigsten und Besten sein. Das schließt sich aus.

Gauck scheint Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen nicht zu kennen. Sonst hätte er den konträren Paukenschlag seines Anfangs erwähnen müssen:

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.

Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Luther erläutert diesen Widerspruch:

„Um diese zwei sich widersprechenden Aussagen von der Freiheit und Dienstbarkeit zu verstehen, müssen wir bedenken, daß jeder Christenmensch zwiefacher Natur ist, einer geistlichen und einer leiblichen. Nach der Seele wird er ein geistlicher, neuer, innerlicher Mensch genannt; nach dem Fleisch und Blut wird er ein leiblicher, alter und äußerlicher Mensch genannt. Und um dieses Unterschieds willen werden von ihm in der Schrift Dinge gesagt, die sich vollständig widersprechen wie das, was ich jetzt von der Freiheit und Dienstbarkeit gesagt habe.“

Der Christ ist frei vor Gott, wenn er sich seinen Forderungen unterwirft. Als irdisches Wesen bleibt er unfrei. Der Obrigkeit muss er blind gehorchen, seinen Mitmenschen dienen, als sei er deren Knecht: „Ich bin frei in allen Dingen und habe mich zu jedermanns Knecht gemacht“.

Hegel hat aus diesem Wort die Überlegenheit des Knechtes über seinen Herrn geschlossen. Was aber ändert sich, wenn der Knecht zum Herrn, der Herr zum Knecht wird? Knechtschaft und Herrschaft bleiben, nur die Subjekte tauschen ihren Platz. Nicht anders als in der Revolution, die die Unteren nach oben und die Oberen nach unten spült, doch das Verhältnis der Dominanz bleibt.

Luthers Reformation wollte nicht die Welt verändern. So schnell wie möglich wollte er die Welt verlassen. Wie für seinen Lehrer Augustin war die politische Welt für ihn ein unveränderbarer Sündenpfuhl. Er wollte selig für immer werden, nicht glücklich für wenige Jahre auf Erden. Wenn die Deutschen ihn zum Pater germaniae erheben, entlarven sie sich als Fälscher der deutschen Geschichte und Verächter des Irdischen.

Merkel als lutherische Politikerin kann keine weltverbessernde Politik entwickeln. In der DDR war sie Mitläuferin des Sozialismus, heute ist sie Mitläuferin des Kapitalismus. Beides sind sündige Versionen menschlichen Rühmens. Der anämische Westen brauchte die Aura der kraftvollen Widerständlerin. Also absolvierte unter dieser trügerischen Legende die Pastorentochter ihre Karriere und arrivierte zur unschlagbaren Königin der Herzen. Das Lutherjahr wird ihrer Polit-Aura den ultimativen Heiligenschein hinzufügen.

Das Reich der Himmel besteht nicht aus Essen und Trinken. Das natürliche Reich der Menschen besteht aus Essen, Trinken und mannigfachen Dingen, die das Herz des Menschen beglücken und sein Leben in eine planetarische Freudenfeier verwandeln könnten, wenn – ja wenn der Mensch aufhören würde, den Sirenengesängen apokalyptischer Propheten zu folgen.  

 

Fortsetzung folgt.