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Weltdorfs XXIII

Hello, Freunde des Weltdorfs XXIII,

die Macht des Wortes ist auf der Flucht. Hat es ihr die Sprache verschlagen? Wohin ist sie geflüchtet?

Just im Lutherjahr muss das Land der Reformation auf den Mann verzichten, der seinem Volk den Weg der Wahrheit und des Lebens weisen könnte? Weibliche Wesen sind für das hohe Amt ungeeignet. Es sei, sie sind Kanzlerin und könnten – mangels fähiger Männer – den Job im notgedrungenen Doppelpack verrichten. Alle sagen sie ab, die Berühmten und Weisen – die weise nicht sein dürfen, sondern zukunftsdevot und wachstumsergeben.

Es scheint keine Ehre mehr zu sein, fürs hohe Amt zu kandidieren. Von Wahl kann keine Rede sein. Schon vor dem Abnicken und Durchwinken soll das Ergebnis der Wahl feststehen. Die Parteien haben die Republik im Griff, die Kanzlerin die Parteien.

Notstand in der schrecklichen, der kaiserlosen Zeit. Woher soll uns Hilfe kommen? Die führenden Politklassen bluten aus. Streber und Ehrgeizlinge drängen in die Wirtschaft. Doch niemand will undankbaren demokratischen Horden dienen. Muss ich mir das antun? fragen sie und winken ab.

Im Zeitalter der glitzernden und grenzenlosen Individuen sterben Persönlichkeiten aus. Die Epoche der Männer ist vorbei, die Frauen trauen sich noch nicht. Bleiben jene Zwittergestalten, die männlicher sind als der Mann: die fromme Hillary und die beiden Pastorentöchter.

Propheten hatten die Macht des Wortes, aber nicht des eigenen: sie waren

angewiesen auf das gegebene Wort von Oben.

„Ach mein HERR, ich bin je und je nicht wohl beredt gewesen, auch nicht seit der Zeit, da du mit deinem Knecht geredet hast; denn ich habe eine schwere Sprache und eine schwere Zunge. Der HERR sprach zu ihm: Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? Oder wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich’s nicht getan, der HERR? So geh nun hin: Ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du sagen sollst.“

Die Macht des himmlischen Wortes ist die Ohnmacht des irdischen Megaphons: menschliche Torheiten sind nicht gefragt, sondern Erleuchtungen des Himmels. Ohnehin haben sie heute keine schwere Sprache mehr, die Kandidaten auf der Flucht, sondern eine aalglatte, putzmuntere Zunge, die nicht das Lautere und Unmissverständliche will, sondern das Tändelnde und Vieldeutige.

Ja gewiss doch, wir müssen unsere Demokratie verteidigen – oder so ähnlich. Ja gewiss doch müssen wir für unsere Grundwerte streiten – vielleicht, möglicherweise oder vielleicht doch nicht? Es ist unfein geworden, sich festzulegen. Das Unreine und Graue ist das zeitgemäß Eindeutige.

Warum festlegen, wenn alles anders sein könnte? Das Wort, sie sollen lassen stahn: Luthers Glaube an das unverrückbare Wort haben sie umgedeutet in den Glauben an beliebige Wörterkaskaden. Luther wird gefeiert, indem er hermeneutisch ausgebeint wird. Heißen die Deutschen nicht die Tiuschen, die Fälscher? Waren sie früher Knechte des Wortes, wollen sie heute seine Herren sein. Luther befreite sie von der Knute des unfehlbaren Papismus, um sie der Knute eines unfehlbaren Buches und unfehlbarer Landesfürsten zu unterwerfen. Aus einem Käfig wurden zwei. Luthers Fortschritt war ein Rückschritt unter die Allmacht der Obrigkeit und des Wortes.

Die Romantik verwarf das unfehlbare Wort und machte das Ich zum Alleinherrscher des Buchstabens. Zum Ausgleich erhöhte sie die deutsche Obrigkeit zum Messias der Völker. Je koketter sie mit den Buchstaben hantieren, umso eiserner lassen sie die Kirche im Dorf: an den Grundwerten des Abendlandes wird nicht gerüttelt.

Am liebsten hätten sie eine Erbmonarchie. Vielleicht sollten sie die Dänen bitten, ihre zum lutherischen Glauben verpflichtete Königin mit ihnen zu teilen. Sie kann hervorragend sticken und könnte der deutschen Jugend viele handwerkliche Fähigkeiten beibringen.

Der erste Mann des Staates hat keine Macht. Dafür soll er reden können, als hätte er welche. Einst waren Macht und Wort identisch:

„Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.“

Und Gott sprach: es werde … Am Anfang war das Wort. Das heilige Wort schafft alles aus Nichts, es ist von Nichts abhängig und muss sich nach Nichts richten. Alles muss sich nach ihm richten. Die Natur wird dem Wort eines allmächtigen Mannes untertan gemacht.

Ein Mann, ein Wort. Das allmächtige Wort des heutigen Mannes ist der Algorithmus, die rechnende Sprache der Natur, die vom Menschen beherrscht wird. Das heilige Wort schafft erst die Wirklichkeit, die es benennt. Ich denke, also bin ich. Ich denke die Natur, also ist sie. Ich konstituiere oder setze mich und die Natur, also bin ich Herr der Natur, die ich ausbeuten und ruinieren kann. Kann ich doch nach Belieben eine andere Natur aus Nichts erschaffen.

Das rationale Wort hingegen, der griechische Logos, ist abhängig von der Wirklichkeit, die er Kosmos nennt. Das Wort der Vernunft ist wahr, wenn es den Kosmos erkennt, wenn es Natur zum Sprechen bringt. Es ist Dolmetscher und Übersetzer der Natur, der sie nicht erschaffen, sondern nur erkennen kann.

„Denn der Logos sucht die Wirklichkeit in vernünftiger Rede, in begrifflichem Ausdruck zutreffend wiederzugeben: der religiöse Mythos aber macht aus dem Begriff ein Bild, aus einem tatsächlichen Sachverhalt eine erdichtete Geschichte.“

Der Logos gibt wieder, was ohne ihn vorhanden ist. Erkennend verdoppelt er das Reale durch das spiegelnde Wort. Nie kann das erkennende Wort die Wirklichkeit ersetzen. Es bleibt auf die unabhängige Natur angewiesen.

Vom Angewiesensein auf ein Anderes will sich das männliche Wort befreien, indem es das Andere – aus seiner Rippe – erschafft. Das Weibliche ist die Erfindung eines allmächtigen Mannes, das er vernichten und neu erschaffen kann. Ein Narrativ, eine Geschichte erzählen, ist noch immer das Nonplusultra deutscher Wahrheitssucher, die nicht die Wahrheit einer unabhängigen Natur sein dürfen.

Wollen Sie uns eine Erkenntnis mitteilen mit Ihrem neuen Buch, Herr Schriftsteller? Gott steh mir bei, ich will nur eine Geschichte erzählen, eine Fiktion, eine phantasmagorische Erfindung.

Ein Narrativ ist eine privatistische Heilsgeschichte. Indem sie es ablehnen, eine unabhängige Realität zu erkennen, wird ihr Erkennen zu einem Schaffen aus dem Nichts, dem eine Geschichte übergestülpt wird. Aus ewiger Natur wird das endliche Produkt männlicher Narren oder Erfinder eines Narrativs.

Der Wahrheitsbegriff der Medien ist zwiespältig. Die Wörter „spannend“ und „Fakten“ sind ihre Hauptbegriffe. Unter Fakten oder Faktencheck verstehen sie empirische Ereignisse, die von jedem Menschen überprüft werden können. Meinungen über Fakten sind für sie keine realen Fakten, sondern postmoderne Relativismen ohne weitere Bedeutung. Meinungen können spannend sein: wie Kinder eine gut erzählte Geschichte spannend finden.

Dass Meinungen aber wahr oder falsch sein können, gehört nicht zum Vokabular der Faktoten. Aus dem Kampf um Wahrheit oder Unwahrheit, um Moral oder Unmoral halten sie sich raus. Mit solchen Petitessen geben sie sich nicht ab.

Fakten müssen sehr wohl verifizierbar oder falsifizierbar sein. Doch das genügt nicht. Welche Fakten halte ich für berichtenswert – und welche nicht? Das hängt von meiner subjektiven Weltsicht ab, die um den Anspruch der Objektivität streiten muss.

Bin ich ein Gegner ökologischer Politik, werde ich die Smogbildung über Peking nicht für erwähnenswert halten. Halte ich den religiösen Faktor für politisch irrelevant, werde ich die apokalyptische Stimmung der Amerikaner ignorieren. Halte ich Vergangenheit für unfähig, die Gegenwart zu prägen, werde ich keine historischen Anamnesen durchführen, um die politischen Stimmungen des Jetzt und Hier aufzuschlüsseln.

Die Auswahl der Fakten ist Angelegenheit einer subjektiven Weltsicht, die sich anscheischig macht, die objektive Wahrheit zu erkennen. Fakten nachprüfen ist einfach, Meinungen philosophisch und politisch durchzustreiten ist das Salz der Demokratie.

Wenn die Medien der Gegenwart fast manisch ihre Faktenfeststellung betonen, degradieren sie ihre Kommentare zu belanglosen Girlanden, über die nach objektiven Regeln nicht gestritten werden kann. Kein Wunder, dass in Deutschland Debatten mit präzisen Argumenten und Gegenargumenten unbekannt sind.

Deutsche bevorzugen weitschweifige Monologe, denen andere Predigten gegenübergestellt werden. Weder werden die Argumente des ersten herausgearbeitet, noch geht der zweite auf diese Argumente ein. Man betäubt sich gegenseitig mit rhetorischen Schwaden. Das soll der typisch deutsche Debattenstil sein, der es ablehnt, den präzisen und knappen Stil der angelsächsischen Schule zu übernehmen. Hier sind die Insulaner griechischer als die deutschen Graecomanen, die in Ästhetik und Mythologie schwelgten, aber von der Philosophie der griechischen Aufklärer nichts zur Kenntnis nahmen.

Deutsche Talkshows sind willkürlich aneinander gereihte Monologe, die sich emotional bekämpfen, aber unfähig sind, die Argumente des Gegners zu wiederholen, um sie minutiös auseinanderzunehmen. Deutsche Genies sind über solche Kärrnerarbeit des Geistes erhaben. Ihr Debattenstil ist in der lutherischen Orthodoxie stehen geblieben: Predigt gegen Predigt. Niemand macht sich die Mühe, seinen Schwall so durchsichtig zu machen, dass er Punkt für Punkt widerlegt oder bestätigt werden könnte.

Die meisten Kommentare der Edelschreiber beharken Andersdenkende, ohne auf ein einziges Fremdargument einzugehen. Wer mit dem Nebelwerfer kommt, kann das gegnerische Gelände mit einem einzigen Sprühvorgang unkenntlich machen. Nur Erbsenzähler lassen sich mit Einzelheiten aufhalten. Großflächig das gegnerische Revier eintrüben, das ist hier die Aufgabe.

Carolin Emcke, die den diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, hat in ihrer gestrigen Rede bemerkenswerte Sätze geäußert:

«Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird», betonte Emcke. «Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen», verlangte sie. «Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft. Für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung (…), dafür sind wir alle zuständig», sagte sie.“ (SPIEGEL.de)

Indem sie sich zu Recht gegen ein homogenes Volk zur Wehr setzt, plädiert sie gleichzeitig für das „Vieldeutige“. Jetzt wird’s brisant.

„Den „Populisten und Fanatikern“, die ein „homogenes Volk“ oder eine „wahre Religion“ forderten, setzt Emcke das „Vieldeutige“ und das „individuell Einzigartige“ gegenüber.“

Individuen sind einzigartig – und ähnlich zugleich. Wären wir nur verschieden einzigartig, könnten wir uns jede Bemühung um Demokratie ersparen. Wo es nichts Gleichartiges gibt, kann es keine politische Übereinstimmung geben. Es gäbe weder Mehrheits- noch Minderheitenpositionen. Jede individuelle Meinung wäre unvergleichlich und nicht kompatibel mit anderen Meinungen.

Es ist ein großer Trugschluss des neoliberalen Individualismus, dass die Menschen einer Konkurrenzgesellschaft nichts Gemeinsames haben könnten. Im Grundsätzlichen sind wir alle ähnlich oder gleich: wir sind auf Sympathie und Liebe angewiesen, besitzen alle die gleichen Grundbedürfnisse.

Gegen wen polemisiert Emcke, wenn wir in allen Dingen unvergleichlich wären? Niemand könnte ihre Rede verstehen, wenn wir nicht dieselbe Sprache hätten. Niemand könnte mit niemandem streiten, wenn wir unfähig wären, die Unterschiede auf verschiedene Lernerlebnisse zurückzuführen, die aus gleichen Urelementen entstanden sind.

Ist Emckes Plädoyer für Demokratie und gegen Hass eindeutig und unmissverständlich – oder so vieldeutig, dass jeder Leser schlussfolgern dürfte: so genau meint sie es gar nicht? Mit ihrem Bekenntnis zur Demokratie kann es ihr nicht ernst sein?

Was soll das Gerede von der Vieldeutigkeit? Prinzipien einer Gesellschaft müssen eindeutig sein. Nur belanglose, unentscheidbare und unerkennbare Dinge können vieldeutig bleiben.

Emckes Überlegungen sind eine Mischung aus Ernsthaftigkeit und Resten postmoderner Possenhaftigkeit, die von Wahrheit und Moral nichts wissen will.

Die Postmoderne ist eine Erbin der romantischen Ironie, die man besser als Zynismus bezeichnen sollte. Mit sokratischer Ironie hat sie nichts zu tun. Ja sie ist das genaue Gegenteil jenes fragenden und foppenden In-der-Schwebe-lassens des Mäeuten, der dem Zögling alle Vermutungen über die Meinung der fragenden Autorität aus der Hand schlagen will, damit dessen Selbstdenken gefördert werde.

Für Novalis ist Ironie die „Gleichstellung und Gleichbehandlung des Gemeinsten und des Wichtigsten … die keinen Bedacht auf Rang und Wert, Erstheit und Letztheit, Größe und Kleinheit nimmt.“ Dem „Gemeinen soll ein hoher Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein geben.“ Beliebig sollen die Dinge in ihr absolutes Gegenteil verkehrt werden. In dieser gigantesquen Willkür der Romantik entstand die Deutungskunst des Theologen Schleiermacher, der dem lutherisch-eindeutigen Wort den Laufpass gab und alle Schleusen der Deutungswillkür öffnete. Hegel, sein erbitterter Gegner, schrieb über die romantische Ironie: „es ist ihr Ernst mit nichts, es ist ein Spiel mit allen Formen.“ Ironie bestehe darin, „dass alles, was sich als schön, edel anlässt, hintennach sich zerstöre und aufs Gegenteil ausgehe.“ All dies sei die „Vereitelung des Objektiven.“

In ihrem neuen Buch „Gegen den Hass“ setzt sich Emcke nicht nur für das Vieldeutige ein, sondern für das Unreine, Graue und Ungewisse. Das sind nichts als spätpubertierende Auflehnungen gegen autoritäre Wahrheitsdiktate. Noch immer wird der Kampf gegen die Gewissheit des Glaubens gekämpft, aber so, dass nicht der Glaube, sondern die Vernunft attackiert wird.

Gibt es keine humanen Gewissheiten? Dann wären Bekenntnisse zum Frieden, zur Gleichheit aller Menschen und zur Demokratie hohle Phrasen. Wenn Einsichten und Tugenden der Menschen nur beliebige Vieldeutigkeiten wären, hätte die zunehmende Sucht nach Exklusion nicht nur nationale Dimensionen, sondern würde jeden Einzelnen von jedem Einzelnen trennen. Erneut wären wir bei den Leibniz‘schen Monaden gestrandet, die gegeneinander abgeschlossen sind und nicht miteinander kommunizieren können. Nur Gott kann die psychischen Atome von Oben leiten und miteinander harmonieren. In ihrem solistischen Wahn taumeln die Menschen lebenslang aneinander vorbei.

Wie jede Emotion hat Hass sehr wohl einen sachlichen Kern. Kein Kind wird mit Hassgefühlen geboren. Emotionen sind sachgemäße Reaktionen auf Erlebnisse, denen niemand entfliehen kann. Kein Kind wird zum hasserfüllten Terroristen, wenn es keine pathologischen Zurückweisungen erlebt hätte.

Nebenbei: der Faktor Kind als Quelle der Gefühle kommt bei Emcke mit keinem Wörtchen vor. Die zeitgenössische Analyse der Gefühle negiert die Welt des Kindes. Auch hier sind Kinder nur überflüssige Existenzen, die man nicht weiter beachten muss.

Doch Gefühle sind keine irrationalen Dschungelgewächse, die man nie verstehen könne. Sie werden komplex, wenn widersprüchliche Erfahrungen zugrunde liegen. Die Komplexität aber ist nur eine Summierung einfacher Grunderfahrungen, die Schicht für Schicht abgetragen werden müssten, um ihre zusammengebackenen Einfachheiten freizulegen.

Jeder Mensch ist von jedem grundsätzlich verstehbar. Alles andere sprengte die Einheit des Menschengeschlechts. Das muss die Grundlage jeder politischen Problemlösung sein. Mein Kontrahent mag ein Neurotiker, Psychotiker, hinterlistiger Machiavellist sein: wenn ich die Entstehung seines Charakters biografisch entschlüsseln kann, kann ich ihn grundsätzlich verstehen. Auch wenn er mir unverständlich schiene, könnte ich doch wissen: ich würde ihn verstehen, wenn ich genug über ihn wüsste.

Es gibt keinen Grund, einen Menschen zu dämonisieren, weil seine Taten einer unergründlichen Bosheit entsprängen. Das unerklärliche Böse ist Dogma des christlichen Glaubens. Entweder ist das Böse calvinistisch vorherbestimmt und nicht mal Gott wüsste, warum er den einen retten und den anderen verdammen wollte. Oder das Böse ist das Produkt eines sogenannten freien Willens, der aus unerfindlichen Gründen gegen Gott und für den Satan Partei ergreift.

Hass hat einen sachlich-biografischen Kern, der studiert werden muss, um ihn bewusst zu machen. Erst im Stadium des Bewusstseins hat er die Chance, sich zu begreifen und zu korrigieren. Doch Hass entsteht nur, wenn „in der Welt etwas schief läuft.“

Die Meisten verstehen ihren Hass nicht. Nachträgliche Rationalisierungen der Hassgefühle sind keine bewussten Strukturen, die der Hassende aus Bosheit einbauen würde. Nein, Hass ist kein Sprössling der Gewissheit. Er ist seiner Sache so ungewiss, dass er sich immer mehr steigern muss, um seine Unsicherheiten zu überspielen.

Echte Gewissheit – einst Weisheit genannt – ist keine affektive Reaktionsbildung auf eine inhumane Umwelt. Sie hat sich vom Ping-Pong-Spiel mit der Welt gelöst und ruht in sich. Von der Umwelt hat sie sich unabhängig gemacht. Stoiker sprachen von Ataraxie, der Unerschütterlichkeit. Sie war „Freiheit von Sorgen und Aufregungen, die dem Menschen als Frucht seiner unerschütterlich festen sittlichen Haltung zuteil wird.“ Ursprünglich hatten die Stoiker von Apathie gesprochen, der heiteren Unempfindlichkeit der Seele. Erst die Moderne verfälschte Apathie zur Lähmungserscheinung eines seelisch Kranken.

Wenn Zeitbeobachter die Verfallserscheinungen der heutigen Gesellschaft kommentieren, als seien diese wie vom Himmel gefallen, sollten sie das BLZ-Interview mit dem Sozialforscher Heitmeyer nachlesen:

Arno Widmann: „Sie haben schon früh darauf hingewiesen, dass es in der Mitte der Gesellschaft nicht so aussieht, wie sie in Sonntagsreden gerne als liberal und weltoffen beschworen wird.“

Heitmeyer: „Wir haben auch auf das Phänomen einer „rohen Bürgerlichkeit“ hingewiesen, weil wir feststellten, dass sich hinter der glatten Fassade wohlgesetzter Worte oft ein Jargon der Verachtung verbirgt. In neuerer Zeit zeigt sich auch die Tendenz, Menschengruppen nach Kriterien der Effizienz, Verwertbarkeit und Nützlichkeit zu bewerten. Das sind Gesichtspunkte, die in der kapitalistischen Wirtschaft funktional sind. Das Fatale ist, dass sich diese Maxime in die sozialen Lebenswelten hineingefressen haben. Es ist eine der verhängnisvollsten Entwicklungen der letzten Jahren. Der Kapitalismus ist übergriffig geworden.“ (Berliner-Zeitung.de)

Was heute geschieht, ist nicht das Ergebnis bewusst bösartiger Entscheidungen von Zeitgenossen. Der Neoliberalismus vieler Jahre entlässt vielmehr seine räudigen Kinder. Die Asozialität der heutigen Wirtschaft bemisst sich nicht nur in Zahlen, nicht nur in wachsender Kluft zwischen Oben und Unten, nicht nur in steigender Ungerechtigkeit. Die Gewalten der Gegenwart erzeugen gewalttätige Gefühle und psychopathologische Symptome. Heitmeyers Forschungsergebnisse wurden bei ihrer Präsentation als Bielefelder Alarmismus vom Tisch gefegt. Von Politikern wie von Edelschreibern. Das wollen sie heute nicht mehr wissen und verdrängen ihre Fehlleistungen von gestern.

Trump zerstöre, was Amerika ausmache, schreibt Charles Hawley im SPIEGEL. Doch der Inhalt seines Kommentars widerlegt seine reißerische Überschrift.

„Trumps Aufstieg ist eine Folge eines republikanisch dominierten Kongresses, der die Regierung lahmlegt, von Radiomoderatoren, die seit Jahren eine Verschwörungstheorie nach der anderen von sich geben und von Tea-Party-Aktivisten, die den demokratischen Konsens lächerlich machen. Bei den Republikanern ist der opportunistische Anti-Intellektualismus mittlerweile so tief verwurzelt, dass jedem, der über eine Art von Expertise verfügt, Argwohn und offene Feindschaft entgegenschlagen – vor allem Journalisten.“

Trump ist nicht die Ursache, sondern die Folge eines gesamtgesellschaftlichen Verfallsprozesses der USA. Die Ursachen des Verfalls waren schon lange untergründig in den Urelementen Amerikas angelegt. Viele Faktoren der amerikanischen Erfolgsgeschichte trugen dazu bei, die verdrängten Widersprüche zu überspielen. Das kollektive Es wurde durch äußerliche Erfolge im Zaume gehalten. Maßlose Übertreibungen eines enthemmten Kapitalismus zertrümmerten die Kontrollen und öffneten den unterdrückten Aggressionen Tür und Tor.

Trump ist nur ein stellvertretender Eiterpickel der amerikanischen Seelenverwüstung. Doch jede Verwüstung ist gleichzeitig eine Entlarvung des bislang Unterdrückten. Was sich öffnet, macht sich ehrlich, so weh es auch tut.

Amerika muss sich entscheiden, ob es sich verstehen oder in biografischer Blindheit zugrunde richten will. Nicht das Allmachtsgetue eines christlichen Wortes wird die Weltmacht retten, sondern die Erinnerungsarbeit eines jungen Kontinents, der seine Geschichte furchtlos zur Kenntnis nimmt.

Amerika, du hast es nicht mehr besser; längst hast auch du Folterkammern, Geheimdienste, machtgierige Kleriker und superreiche Schlösser – und den Mut zu einem radikalen Neuanfang.


Fortsetzung folgt.