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Weltdorf XVII

Hello, Freunde des Weltdorfs XVII,

„als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“

Nichts hassen Eliten mehr als den Begriff „Eliten“ – die Erwählten. Erwählt werden ist ein passiver Vorgang. Wahre Eliten aber empfinden sich als die Aktivsten und Tüchtigsten. Wäre es nicht eine Kränkung für sie, wenn sie nicht aus eigener Kraft die Spitze erklommen hätten, sondern von Mächtigeren ausgesucht worden wären? Gar nach undurchsichtigen, willkürlichen Kriterien? Wären die Auswähler im Hintergrund nicht die eigentlichen Eliten – und sie nur deren zufälligen Lieblinge?

Kinder, die ihre gleichaltrigen Freunde überragen, leiden nicht selten unter Schuldgefühlen. Dass sie die Möglichkeit hatten, sich mit bestechenden Leistungen hervorzutun, empfinden sie als unverdientes Glück. Entweder werden sie auffällig sozial, um ihre ungerechten Privilegien auszugleichen – oder aufreizend arrogant, um ihre Schuldgefühle durch den Anschein des Gegenteils zu verleugnen.

Auch auserwählte Völker fühlen sich getrieben, ihre umstrittene Vorrangstellung durch übermäßige Leistungen zu legitimieren. Eliten wollen die Besten sein. Also müssen sie durch beste Leistungen ihren Anspruch rechtfertigen.

Die Besten als Auserwählte sind ein religiöses Artefakt. Himmlische Mächte, die das Schicksal der Menschen bestimmen – oder gar die Welt erschaffen haben wollen –, müssen verantwortlich sein für die Ungleichheit ihrer Geschöpfe. Werden Ungleichheiten als defizitäre Gerechtigkeit empfunden, müssen die verantwortlichen Schöpfer durch brillante Leistungen ihrer Bevorzugten entlastet werden. Ungerechtigkeit verträgt sich nicht mit gerecht sein wollenden Göttern.

Kinder ertragen keine Ungerechtigkeiten, auch wenn sie selbst davon

profitieren. Der Mensch ist von Natur aus feinfühliger gegenüber seinen Mitmenschen als darwinistische Ideologen oder Anbeter des angeborenen Bösen wahrhaben wollen. Das ist der Stoff, aus dem politische Dogmen und religiöse Glaubensgebäude entstehen.

Die gesamte Geschichte der Demokratie ist ohne Konflikt zwischen politischer Gleichheit und führungs-beanspruchender Ungleichheit nicht zu verstehen. Die Besten glauben, zum Wohl der Polis am meisten beizutragen, also beanspruchen sie aus Gerechtigkeitsgründen einen größeren Anteil an der Macht. Die Schwächeren empfinden ihre Benachteiligung als ungerechtes „Geworfensein“ – haben sie sich etwa selbst erschaffen? – und bekämpfen alle Privilegien als unverdiente Anmaßungen.

Den auserwählten Kindern Israels erklärt Gott mehr als einmal, dass er sie nicht wegen ihrer angeblichen Vorzüge vor allen Völkern auserwählt habe. Nicht wegen ihrer Eigenschaften, sondern aus irrationaler Liebe habe er sie erwählt. Liebe und Ratio beginnen auseinander zu driften:

„Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, darum daß euer mehr wäre als alle Völker, denn du bist das kleinste unter allen Völkern; sondern darum, daß er euch geliebt hat.“

Die Auserwählung ist nicht umsonst. Die Lieblinge Gottes müssen ihre Vorzugsstellung „bezahlen“:

„Aus allen Geschlechtern auf Erden habe ich allein euch erkannt; darum will ich auch euch heimsuchen in all eurer Missetat.

Ihren Vorzug erkennen die Kinder Israels an der Liebe Gottes, der ihre sündigen Taten nicht in falscher Nachsicht übersieht, sondern sie in aller Strenge bestraft. Wen Gott liebt, den züchtigt er. Wen er unbehelligt lässt, den hasst er. Gottes Strafen sind für die Erwählten das Zeichen seiner Fürsorge und der Beweis ihrer tatsächlichen Auserwähltheit. Menschen im unverdienten Glück hingegen rennen in ihr Verderben.

Jüdische Ultras haben kein Problem, den Holocaust als gerechte Strafe für den Abfall vom wahren Glauben zu betrachten. Hitler ist für sie ein bloßes Werkzeug Seiner furchtbaren, aber gerechten Rache am Glaubensabfall vieler seiner Erwählten. Das Völkerverbrechen der Deutschen ist für sie auch kein „unvergleichliches“ Ereignis, sondern nur ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe göttlicher Züchtigungen.

Solange ich mich bestraft fühle, hat Gott mich nicht im Stich gelassen – das ist das Credo des fundamentalistischen Gläubigen. Die Ultraorthodoxen empfinden sich als „heiligen Rest“, der der Mehrheit seines Volkes zuruft: Wäret ihr nicht vom wahren Glauben abgefallen, hättet ihr den Holocaust vermeiden können. Die Sicht der rationalen Schuld – Täter ist, wer die Tat vollbracht hat – ist hier auf den Kopf gestellt: Juden als Opfer sind an ihrem Schicksal selber schuld, die Deutschen nur belanglose Marionetten des göttlichen Willens.

Je mehr Fundamentalisten die Politik des jungen Staates Israel bestimmen, je mehr verbreiten sie die atmosphärische Botschaft, dass ein glückliches Land in friedlichen Beziehungen mit Gojim das untrügliche Zeichen der Lieblosigkeit Gottes ist. Erst am Ende aller Tage werde die goldene Stadt Jerusalem zum sichtbaren, triumphalen Mittelpunkt der Weltgeschichte.

Säkulare Religionskritiker in Israel haben es immer schwerer, die orthodoxer werdende Gesellschaft zur Trennung von diesem selbst-schädigenden Glauben aufzurufen. Nicht nur im christlichen Westen und in muslimischen Ländern, auch in Israel droht eine archaische Religion die Menschen ins Verderben zu stürzen.

Die allgemeine Verwilderung der globalen Sitten läuft parallel zur Regression in theokratischen Antinomien: erlaubt ist, was der emotionale Glaube gebietet. Die offiziellen Schranken der Vernunft sind unehrlich und müssen abgebaut werden. Ein frommes Gemüt muss aus seinem feurigen Herzen keine Mördergrube machen. Hassgefühle gegen Andersgläubige sind keine vernunftlosen Triebregungen, sondern abgesegnete himmlische Imperative.

In der vorbildlichen Nachkriegszeit beherrschte die Vernunft die demokratisch gezügelten Religionen. Je mehr aber ein messianischer Futurismus und eine grenzenlos wütende Wirtschaft den Geist solidarischen Bessermachens unterliefen, je mehr wurde das Tor zu verdrängten Religionsgeistern der Vergangenheit sperrangelweit geöffnet.

Heute wiederholt sich, was in der deutschen Aufklärung beim Loslösen vom traditionellen Glauben – und der wütenden Rückkehr der Romantiker in die Fänge der Religion – geschah und hundert Jahre später im Dritten Reich zum völkerverderbenden Ereignis wurde. Bereits fünf Jahre vor der Französischen Revolution hatten süddeutsche Jesuiten Kampfschriften veröffentlicht, die den Nachweis erbringen sollten: „Freimaurer, Aufklärer und Weltbürger (die heutigen Befürworter eines globalen Friedens in geschwisterlicher Freiheit und Gleichheit) werden den Umsturz der Staaten und der Religion und die Aufhebung aller Subordination erstreben.“ Friedrich Schlegels programmatischer Satz wirkte wie ein Donnerschlag, der das kommende Jahrhundert bis zum Ausbruch der beiden Weltkriege prägen sollte:

„Der revoluzionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Auftrag der modernen Geschichte. Was in keiner Beziehung aufs Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache.“

Obama, Putin, Erdogan, Merkel, Orban, Netanjahu, die muslimischen Nahoststaaten: sie alle fühlen sich berufen, ihre wahre Religion politisch zu exekutieren. Sei es mit wirtschaftlichen, technischen oder militärischen Mitteln. Aleppo wurde zum Kreuzungspunkt aller gegeneinander wütenden Religionen, die unter Weltpolitik nichts anderes mehr verstehen, als das eigene „Reich Gottes“ auf Erden im Endkampf gegen die Reiche Gottes der Andersgläubigen zu realisieren.

Das Selbstverständnis moderner Eliten ist ein Amalgam aus passiver Erwähltheit und selbstbestimmter Tüchtigkeit. Viele sind berufen, wenige auserwählt. Die Wenigen müssen durch Erfolg, Kreativität und Macht beweisen, dass Gott auf ihrer Seite ist. Ihr Gerechtigkeitsbegriff ist die weltliche Bestätigung ihrer überweltlichen Vortrefflichkeit.

In finalen Zeiten fallen Himmel und Erde zusammen. Die superintelligente Maschine, der homo novus, wird allen Herausforderungen der Klimakatastrophe gewachsen sein. Die unzulängliche Menschheit wird in den kommenden Gluten der Klimakatastrophe das höllische Feuer erleben. Eine Hand voll Auserwählter wird per Luftschiff eine neue Erde im Universum suchen.

In Griechenland waren Eliten die aristoi, die Besten. Eine religiöse Selektion war den Griechen unbekannt. Bei Sokrates war jeder Mensch für sein Leben selbst zuständig: Erkenne dich selbst. Überprüfe dein Leben durch streitbares Denken. Ein unüberprüfbares Leben ist nicht lebenswert. Demokratie ist der Schauplatz des strengsten Selbst- und Fremdüberprüfens.

Bei Platon beginnt bereits jene Wendung, die im späteren Christentum zur Prädestination der Menschen führen sollte. Nicht der Willkürentschluss eines Gottes, sondern das naturgegebene Erbe verschiedener Begabungen, das er als Gold, Silber etc. bezeichnete, sollte über die spätere Stellung im gerechten Staat entscheiden. Die passive Prägung durch verschiedene Naturgaben aber sollte durch eigene Erkenntnisleistung ans Licht kommen. Werde, der du bist. Da du nicht weißt, wer du bist, sollst du es durch Lernen und Selbstertüchtigung herausfinden.

Gerechtigkeit im utopischen Staat war keine Uniformität, sondern eine proportionale Entsprechung zwischen Leistung und politischer Klasse. Die Weisen sollen führen, auf persönliches Glück aber müssen sie verzichten. Das absolute Glück sahen sie im Reich der Sonne, dort aber dürfen sie nicht bleiben und müssen zurück in die Höhle, um ihre Pflicht zu tun: den anderen Klassen jenes Glück politisch zu ermöglichen, das auch ihnen zustand. Ausgeschieden wurde niemand, außer störrischen Dissidenten, die mit dem Tode bestraft wurden. Jeder Stand sollte nach seinen Fähigkeiten glücklich werden.

Im paulinischen Christentum gab es keine Selbstbetätigung mehr. Alles wurde von Gott entschieden. Im Calvinismus gab es noch ein letztes platonisches Restmoment: in ökonomischer Leistung sollte der Christ den Stand seiner Berufung oder Verwerfung erkennen. Alles aber verdankte der Fromme der Gnade des Herrn. Wer sich selbst rühmt, rühmt sich ins Verderben.

Im vordemokratischen Griechenland waren die Besten von adlig-vornehmer Geburt, die identisch war mit sittlicher Vorzüglichkeit. Edle Geburt und edle Gesinnung fielen zusammen. Im Verlaufe der Emanzipation der unteren Klassen und der allmählichen Forderung nach Gleichheit aller Menschen wurden die Adligen zu jenen Kräften, die bekämpft werden mussten. Die bislang Schlechten maßten sich an, besser zu sein als die bisherigen Besten. Es kam zur Rotation aller Wertigkeiten und Würdigkeiten. Kostbares wurde verächtlich, Verächtliches zum Zeichen demokratischer Errungenschaft.

Von Natur aus war jeder Mensch gut, seine Gutheit aber musste er durch Selbstüberprüfung und Lernen beweisen. Das Geschenk der Natur war eine Aufforderung, sich in Selbstbesinnung zu einem gleichwertigen Demokraten zu entwickeln. Klar, dass der Adel die Emanzipation der Massen nicht in rosigem Licht sah. Ihr Naturrecht der Starken erkannte in den Schwachen die „Gemeinheit der Schlechten, vor allem die Gewinnsucht und das ist der Schmerz ihres Lebens, dass er mit ansehen muss, wie die soziale Schichtung des Volkes sich vollständig umkehrt, wie die bisher Schlechten jetzt Edle sind und die früher Edlen jetzt Elende, d.h. wie der Adel verarmt und der Pöbel reich wird, womit der Wechsel des politischen Einflusses Hand in Hand geht.“

Halten wir inne: warum nur gab es in Matriarchaten keine Hierarchien, wo die natürliche Autorität der Frau sich mit keiner Klassengesellschaft vertrug? Die klüftebildende Ungleichheit war die ureigene Erfindung männlicher „Hochkulturen“, die mit Cheopspyramiden und Türmen zu Babylon in den Himmel wuchsen. Je höher hinauf, umso rigider die Abstufungen nach unten. Die ins Grenzenlose wachsenden Hochhäuser der Gegenwart suchen den Vater im Himmel, nicht die Mutter auf Erden, der Heimstatt irdischer Wesen. Ein interessantes Beispiel eines himmelwärts strebenden, alle herkömmlichen Maßlinien zerstörenden Höhengigantismus entdeckte Alan Posener im Zentrum Berlins:

„Hauptarchitekt des Daimler-Quartiers war der Italiener Renzo Piano, der sich nach einem Masterplan der Münchner Architekten Heinz Hilmer und Christoph Sattler richten sollte. Während sich aber Hilmer und Sattler, wie sie bekennen, „nicht der Hoffnung hingeben, etwas wirklich Neues erfinden zu können“, sondern sich „an den immer wiederkehrenden Formen der Architektur und des Städtebaus orientieren“, spricht Piano von der Notwendigkeit, in Berlin die Nostalgie durch einen „Prozess kollektiven Ausradierens“ zu überwinden.“ (WELT.de)

Eliten benötigen Klassen. Je mehr Abstufungen, desto höher werden sie gen Himmel hinaufgetragen. Je höher sie steigen, je verächtlicher können sie auf die Abgehängten hinunterschauen. Der Pöbel ist ungebildet, neidisch auf die Eliten, will den demokratischen Staat ausrauben und mit Gleichmacherei die aristoi tyrannisieren. Jeder pöbelhafte Mehrheitsbeschluss wird zur Diktatur über Minderheiten; alles, was nicht einstimmig ist, zur Despotie der großen Zahl. „Der Hass zwischen Demokraten und Oligarchen erreichte einen solchen Grad, dass in manchen Städten Alt-Griechenlands die Oligarchen zu schwören pflegten: „Ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und, so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“ (zitiert nach Wilhelm Nestle)

Ähnliche Erhitzungszustände wie in der gegenwärtigen Demokratie, wo selbst der sonst so gemäßigte SPIEGEL-Kolumnist Stefan Kuzmany seinem Hass auf die rechte Meute keinen Zügel mehr auferlegt. Mit diesem Gesindel sei nicht mehr zu sprechen:

„Wie soll man auf Leute eingehen, die Menschen anderer Hautfarbe mit Affenlauten begrüßen? Welche Kompromisse sind denkbar, wenn die Gegenseite auf inakzeptablen Maximalforderungen beharrt und sich dabei als Vorhut eines aufbegehrenden Volkes geriert? Bestenfalls sind sie zu bedauern, als Gefangene ihrer irrationalen Horrorvorstellung vom Untergang der Heimat, als Gefangene ihrer Angst. Der Dialog mit ihnen jedoch, sofern es sich nicht um einen therapeutischen handelt, ist vollkommen sinnlos. Diese Leute betrachten sich als abgehängt? Sie sind es. Und das ist auch gut so.“ (SPIEGEL.de)

Kuzmany lässt sich hinreißen, jenen Ungeist zu kopieren, den er selbst verwirft. Damit wird die Gentrifizierung mittels eingemauerter Wohnviertel durch geistige Separierung und soziale Exklusion komplettiert. Das wäre das Ende unserer Demokratie.

Fast jeder Mensch will, dass man mit ihm redet. In einer erhitzten Massendemonstration aber herrscht kein dialogisches Klima – wie Claudia Roth vermutete, als sie in Verblendung auf jene Menge zuging, die sie mit hässlichen Reden zurückwies.

Warum redet man mit Menschen nicht in ihrer normalen Umgebung? In ihrem sorgenvollen Alltag? Wozu gibt es eine staatliche Schulpflicht, wenn nicht zum Zweck demokratischer Erziehung? Kuzmany fragt nicht nach den Versäumnissen des Staates, Kindern den Stolz der Selbstbestimmung zu vermitteln.

Jedes sinnvolle Gespräch ist ein therapeutisches, wie wir bei Sokrates sahen. Unsere Irrtumsfähigkeit ist lernfähig und hat es verdient, dass wir uns auf die gemeinsame Suche nach der Wahrheit begeben. Hier ist jeder auf jeden angewiesen. In ihrer Wut auf den Pöbel entlarven die Medien, welche Rolle sie die ganze Zeit spielen: die Rolle der Wächter der Unmündigen. Das gefährliche Schäumen der Menge zeigt den Eliten, dass die medialen Wächter die unteren Klassen nicht mehr unter Kontrolle haben. Die Leibwächter der Mächtigen haben auf der ganzen Linie versagt. Nun müssen sie fürchten, dass sie von den Eliten abgesetzt und durch neue Wächter ersetzt werden.

„Diese Leute wähnen sich als Opfer eines undemokratischen Unterdrückerstaats, dessen Spitzen sich von den Bürgern abschotten, während sie ihre Ansichten völlig ungehindert und ohne jegliche Repression der verhassten Bundestagsvizepräsidentin ins Gesicht sagen können. Sie beklagen den mangelnden Dialog, doch wenn Roth sich ihnen zuwendet, brüllen sie „Hau ab!“.

Eine seltsame Zuwendung der grünen Obfrau, wenn Kameras die Heuchelei als inszenierten Opfergang in jede Wohnstube tragen. Leben wir tatsächlich in der besten aller möglichen Demokratien? Wir leben in einer Demokratie, in der wir vieles sagen können: doch alle Konstanten der Politik werden unbeeindruckt weitergeführt.

Niemand fragt uns, in welcher Wirtschaftsordnung wir leben wollen, welche Technik uns ausreicht, welchen Fortschritt wir aus ökologischen Gründen ablehnen, welche Zukunft wir unseren Kindern wünschen.

Die wichtigsten Prinzipien unseres Lebens sollen unveränderlichen Naturgesetzen gehorchen: vom grenzenlosen Wirtschaftswachstum bis zur unerbittlichen Konkurrenz zwischen allen. Stets berufen sich die Eliten auf angebliche Gesetze eines Marktes oder der Evolution – Tarnbegriiffen ihrer eigenen schamlosen Machtgier. Wählen kann der Mensch nur beim Konsumieren. Alles andere hat er den Führern zu überlassen, die allein fähig sind, das Überkomplexe zu steuern – weil sie es angeblich nicht verstehen.

Nur Elitenforscher Hartmann wagt es, die Eliten bei Namen zu nennen und empirisch zu beschreiben:

„Die Kern-Elite in Deutschland umfasst rund 1.000 Personen. Das sind alle die, die gesellschaftliche Entwicklungen über ihr Amt oder ihr Eigentum maßgeblich beeinflussen können: Minister, Staatssekretäre, Richter am Bundesverfassungsgericht, Spitzenmanager, Großunternehmer, aber auch Herausgeber und Chefredakteure von Zeitungen und Zeitschriften oder die Wissenschaftler an der Spitze der großen Wissenschaftsorganisationen.“ (ZEIT.de)

Die wenigsten dieser Eliten sind gewählt und maßen sich dennoch an, das Schicksal der Menschheit zu bestimmen. Warum? Weil sie Geld, einen akademischen Bildungsgrad, den richtigen Stallgeruch oder sonstige Blendwerkzeuge besitzen.

Betrachtet man die internationale Lage, so sind es gigantische Unternehmen und Banken – too big to fail –, die die Staaten an der Nasenkette führen. Der IWF betrachtet sich als Zentrum des Weltgeschehens, der die Staaten anmahnen darf, endlich für das Ankurbeln der Weltwirtschaft zu sorgen. Von Ökologie scheinen Ökonomen noch nie gehört zu haben: Wachstum, Wachstum, Wachstum, bis die Hütte brennt. Einen anderen Refrain scheinen die habgierigen Naturzerstörer nicht zu kennen.

In keinem ökonomischen Interview werden Fragen zur Klimarettung gestellt. Wenn Ökonomen sprechen, haben alle anderen Fakultäten zu schweigen. Ökonomen sind die unfehlbaren Theologen der Gegenwart. Man höre: demokratische Regierungen sollen einem Gremium hybrider Beamten Rechenschaft ablegen, warum sie für das Wachsen der Wirtschaft nicht mehr leisten! Demnächst wird der IWF bestimmte Regierungen absetzen, weil sie ihre Hausaufgaben versemmelt haben.

Die Eliten sind listig genug, dem Pöbel die Illusion einer intakten Demokratie zu lassen. Warum dürfen wir unbehindert reden? Weil unsere Reden völlig folgenlos bleiben. Deutschland hat eine Kanzlerin, die alternativlos ist. Die Alternativlosigkeit betrifft fast alle Länder und Parteien.

Es fehlen streitende philosophische Perspektiven. Alles soll mit allem konkurrieren, nur im Bereich der Macht soll alles monopolistischer und eindimensionaler werden.

Die Menge ist unfähig, den Skandal der Eliten mit deren Begriffen kritisch zu formulieren. Sie ist nicht geschult, ihre gottgewollte, elitäre Obrigkeit zu durchleuchten. Alles, was sie zu sagen hat, wird von Edelschreibern auf triebgesteuerte Emotionen reduziert und damit verfälscht.

Auch Emotionen begannen als rationale Sensibilitäten, die erst im Verlauf ihrer notorischen Verdummung zu Irrläufern werden mussten. Geht’s um das niedere Volk, hört man nur noch die Leier von Angst und Hass. Intakte Gefühle aber sind lebensnotwendig, sie informieren uns zuverlässig über eine feindliche oder freundliche Umwelt. Allerdings müssen sie reden und denken lernen. Sperrt man sie in stumme Käfige, werden sie zu Psychopathen, die den eigenen Irrsinn nicht von dem der Welt unterscheiden können.

Die Erneuerung der Gesellschaft beginnt nicht mit dem Ausschluss unliebsamer Populationen. Gewiss müssen sie scharf kritisiert werden. Doch wo bleibt die Selbstkritik der Kritiker, die ihre eigenen Abhängigkeiten und Privilegien im Dunklen lassen?

Die unteren Klassen können nicht sagen, was sie bewegt – können es die Eliten? Sie können sich in ihrer Machtsprache über Interessen verständigen. Ob ihre Interessen human oder inhuman, gerecht oder ungerecht, naturfeindlich oder -schädlich sind, darüber haben sie keine Sprache. Wenn‘s dramatisch wird in deutschen TV-Serien, heißt es regelmäßig: Du, wir müssen reden.

In unserer Gesellschaft beginnt es dramatisch zu werden. Hei, Demokraten: wir müssen reden. Was sagt ihr?

 

Fortsetzung folgt.