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Weltdorf IX

Hello, Freunde des Weltdorfs IX,

die Volksparteien gehen verschütt, das Volk macht sich aus dem Staub. „Wir sind das Volk“: wer sich selbst als Volk auszeichnet, gilt als räudige Masse. Wer auf sich hält, zählt sich zu den Eliten.

„Europa ist ein Elitenprojekt“, erklärte bei Anne Will (mediale Elite) der deutsche Professor Jaschke (intellektuelle Elite). Niemand in der Runde (allesamt Elitenangehörige) protestierte.

Bemerkte das Publikum, dass es vom Professor zur leicht lenkbaren Masse degradiert wurde? Warum muss das europäische Elitenprojekt scheitern? Weil die Massen es nicht unterstützen.

Arme Eliten, ihr bemüht euch und rackert euch ab, seid fleißig Tag und Nacht, schaut nach vorne und nie zurück, bringt immer gigantischere Leistungen, seid zuständig für Fortschritt und fruchtbare Zerstörung, vernichtet das Alte, schafft das Neue (gleichgültig, ob die Welt es will oder nicht), sorgt für Arbeitsplätze und überfließende Supermärkte, macht Natur überflüssig und erfindet eine neue aus dem hohlen Nichts eures Genies, brecht auf in den Weltenraum, überschreitet alle Grenzen des Kreatürlichen, verwandelt euch endlich in unsterbliche Götter – und kein störrisches Volk dankt es euch.

Löst diese räudigen Massen auf und ersetzt sie durch zuverlässige und intelligente Maschinen. Auf Knopfdruck werden sie euch gehorchen und die Abenteuer des roboter sapiens in allen Winkeln des Weltenraums verkünden.

Eliten, ihr habt Besseres verdient als diese Horden, die nur auf Befehle warten und das Maul aufsperren, damit ihr sie durchfüttert. Vertraut euch, ihr schafft es alleine. Ihr braucht keine neiderfüllten Mitesser, für deren Wohlergehen ihr verantwortlich seid, die euch mit Frechheit und Dreistigkeit danken. Fasst einen heroischen Entschluss, verabschiedet euch von diesen Neandertalern und sorgt dafür, dass

ihre Weiber keine Bälger mehr werfen. Binnen einer Generation habt ihr sie von der Platte gefegt, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen. Sonst müsstet ihr euch den Vorwurf machen, den Tod einer ganzen Gattung verursacht zu haben und würdet euch schuldig fühlen – obgleich ihr nur euren Interessen gefolgt seid.

Wie lange hattet ihr Geduld mit diesen Irrläufern, deren Evolutionszeit abgelaufen ist. Sie sind mit nichts kompatibel: weder mit eurer glänzenden Zukunft noch mit euren kreativen Fähigkeiten. Euch gibt es nur einmal in der Welt, im Universum seid Ihr unvergleichlich. Werdet grenzenlos, werdet alles.

Es hat sich erwiesen, dass das europäische Projekt mit Völkern nicht zu realisieren ist. Weder mit einheimischen, noch mit fremden. Hetzt sie aufeinander, dass sie sich aus dem Wege räumen. Die EU der Massen ist tot, es lebe die neue EU der Oligarchen, der Herrschaft der Wenigen.

Was sind das für unterirdische Spektakel: diese Wahlen subintelligenter Völker. Sie wählen und wählen – und sind doch unfähig, ihren Willen zu artikulieren. Am Abend jeder Wahl müssen Experten rätseln, was die Wahlergebnisse wohl zu bedeuten hätten. Sollte eine Wahl nicht den Willen der Massen unmissverständlich ans Licht bringen? Den für richtig befundenen Kurs bestätigen und den falschen abwählen? Nach der Wahl versammeln sich die Auguren, um mit Zahlen zu jonglieren – doch niemand weiß, was das Volk will.

Die Wahlslogans waren leer, die Versprechungen der Politiker hohl. Müssen sie koalieren und Kompromisse eingehen, fühlen sie sich an nichts gebunden, was sie vor der Wahl versprochen hatten.

Doch die wahren Schuldigen müssen die Wähler sein. Sie sind unfähig, einen klaren Kurs zu steuern und einen festen Willen zu bekunden. Das sollen sie auch nicht. Was immer sie in ihrer Einfalt wollen, es wäre zu einfach. Die Wirklichkeit ist nicht so, wie simple Toren es sich wünschen. Das Komplexe sollen sie jenen überlassen, die in entwaffnender Ehrlichkeit bekennen, dass sie der Komplexität nicht gewachsen sind – um den Lauf der Geschichte getrost dem Herrn zu überlassen. Die Eliten sind die Ehrlichen, die über das Geschick der Unmündigen so entscheiden wollen, dass jene glauben, sie hätten sich selbst entschieden.

Eine Volkskennerin redet nicht um den heißen Brei herum:

„Die Zusammenballung von Risiken hat nicht nur das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung unterminiert, sondern auch das Vertrauen in die Politik. Insbesondere die Reaktion der etablierten Parteien auf die Flüchtlingskrise hat zu einer tiefen Entfremdung und zu Misstrauen geführt, ob sich die Ziele und Vorstellungen der Politik überhaupt noch näherungsweise mit denen der Bürger decken.“ – Schreibt Demoskopin Renate Köcher, die Röntgenologin der Gesellschaft aus Allensbach. (FAZ.NET)

Vertrauen in die Politik? Politik ist ein Abstraktum. Meint Köcher Vertrauen des Volkes in die Politiker? Würde sie vermutlich behaupten, wenn man sie fragte. In Wirklichkeit meint sie das Vertrauen der Eliten ins unzuverlässige Volk. Die Schicksalsgestalter der Erde haben keine Geduld mehr. Es wird Zeit, den Völker-Sud der Evolution, der zum Fortschritt der Gattung notwendig schien, zu entsorgen und auszuscheiden. Man braucht sie nicht mehr, weder als Handlanger, noch als gierige Konsumenten, schon gar nicht als Schiedsrichter der Entwicklung. Sie waren gut genug, um die Besten aus den Vielzuvielen nach oben zu mendeln.

Längst aber haben die Besten die Erdherrschaft übernommen. Noch immer unter dem trügerischen Etikett der Völkerherrschaft. Dabei herrschen sie schon lange nicht mehr, die demokratischen Propagandisten einer lächerlichen Selbstbestimmung.

Von Anfang an haben listige Eliten die Gefahren der Pöbelherrschaft durchschaut und unsichtbare Filter in die öffentliche Macht eingebaut. Die beste Lenkung eines Volkes ist die, die der demos nicht bemerkt und den Willen der Eliten als eigenen betrachtet.

Die wahren Zukunftsgestalter sitzen ohnehin in Trutzburgen des technischen Fortschritts. Wer wagt es, sich als Maschinengegner zu outen? Wer wagt es, der unaufhaltsamen Zeit ins Maul zu greifen und der Moderne Widerstand zu leisten – nur, um vom Zug der Geschichte überfahren zu werden?

Das Unaufhaltsame, das die Weltenbestimmer in geheimen Laboren entscheiden, bestimmt das Geschick der Vielzuvielen. Wer wäre so tollkühn, den Fortschritt anzuzweifeln, den Reichtum der Reichen für unsinnig zu erklären? Wo sie doch Tröpfchen für Tröpfchen ihres Reichtums nach unten durchsickern lassen, damit die Massen sich ihretwegen die Köpfe einschlagen?

Wagt einen Blick auf das Kommende, das in den Manifesten der Erwählten jetzt schon unauslöschlich festgelegt wurde. Ihr müsst nicht prophetisch in die Zukunft starren. Längst ist das Drehbuch der künftigen Dinge in goldenen Algorithmen eingebrannt und wird von allen Medien als tägliches Evangelium verkündet.

Die Medien sind zu Hilfspropheten der Propheten geworden. Ununterbrochen spekulieren sie über das Kommende. Zustimmung oder Verweigerung, Ja oder Nein, sind für sie lächerliche Moralistenparolen. Nur Hinterwäldler und Volltrottel wollen sich dem Unvermeidlichen in den Weg stellen.

Wie will das desolate Europa aus der Krise kommen? Durch Taten, sagte die Kanzlerin: an unseren Taten werden wir gemessen.

Womit wird gemessen, wenn es keinen Maßstab gibt? Physiker sollten wissen, dass ohne Messinstrumente der Fall des kleinsten Äpfelchens nicht gemessen werden kann. An welchem Maßstab will Merkel gemessen werden? An keinem.

Taten müssten an Worten gemessen werden. Das Maß der Wahrhaftigkeit ist die Übereinstimmung von Wort und Tat. Doch Merkel hat keine Worte, die überprüfbar wären. Ihre Sätze sind Absichtserklärungen, die alles oder nichts bedeuten. Widersprüche sind das Elixier ihrer flatterhaften Antinomie. Selbst ihr Allez-hopp-Sätzchen: „wir schaffen das“ hat sie – nach einer lutherischen Trotzphase – aufgegeben. Mit der Begründung, es sei zur Leerformel verkommen. Nicht sie, ihre Kritiker hätten allzuviel in das Sätzchen hineingeheimnisst. Selbstkritik klingt anders.

Aussagekräftige Sätze ohne Widersprüche sind wetterfest und hochgradig stabil. Durch übermäßigen Gebrauch können sie nicht ausgehöhlt werden. Der falsche Gebrauch eines Satzes fällt auf den zurück, der ihn falsch nutzte. Nicht auf den Satz selbst. Alle Sätze der Heiligen Schrift, die seit Jahrtausenden benutzt werden, müssten sonst allein durch ihren Missbrauch unbrauchbar geworden sein. Sätze sind nur falsch, wenn sie die Wirklichkeit verfehlen und sich durch immanente Widersprüche selbst entsorgen.

Immer handelt Merkel nach bestem Wissen und Gewissen. Worin besteht ihr Wissen, was ist der Inhalt ihres Gewissens?

Die Sprache der Politiker hat jede vernünftige Substanz verloren. Subjektiv ist sie immer richtig, einen objektiven Maßstab des Falschen und Richtigen gibt es nicht. „Ich übernehme die Verantwortung für die Wahlniederlage“, sagte CDU-Henkel in der ARD. „Heißt das, Sie treten zurück?“ fragte Thomas Roth. Natürlich nicht, antwortete Henkel.

Verantwortung übernehmen hat keinen Inhalt. Ob ich Verantwortung übernehme oder nicht, es bleibt sich gleich. Die postmoderne – oder theologische – Subjektivierung der Sprache hat jede objektive Verbindlichkeit der Sprache ausgebrannt. Worte machen ist wie Haschen nach Wind.

Kein Intellektueller beginnt heute einen Satz ohne Bekundung des individuellen Eigenwillens: „Für mich persönlich bedeutet …“. Hat jemand ein Buch geschrieben, hört man Sätze wie: „was mich an diesem Thema ganz persönlich interessiert hat, ist …“.

Die Bekundung des Subjektiven wird zur Immunisierungsstrategie im Dienste der persönlichen Unfehlbarkeit. Gegen Persönliches und Individuelles gibt es kein generelles Argument. Das Subjektive ist das Himmelreich der vollkommenen Persönlichkeit.

Eine Demokratie ohne verbindliche Logik und allgemeine Sprache ist zum Tode verurteilt. Wer Wörter ad libitum benutzt und Logik als faschistisches Zwinginstrument verwirft, mit dem kann es keinen Streit geben.

Sinnvolles Streiten setzt verbindliche Definitionen und eine objektive Logik voraus. Beides ist in Deutschland seit Herder und Hegel nicht mehr vorhanden. Herders Lehre vom Sonderweg aller Völker, Hegels dialektische Aufweichung aller verbindlichen Logik begründeten die Leere aller Allgemeinbegriffe und die Hohlheit aller Schlussfolgerungen.

Was folgt? Die Misere heutiger Demokratien ist eine Verwüstung aller philosophischen Stabilitäten, die einst die Polis von Athen ermöglichten. Hätten relativistische Sophisten sich von Anfang durchgesetzt, hätte kein Sokrates seine Mitbürger zur Überprüfung ihrer Meinungen verführen können. Die Demokratie verfiel parallel zum Verfall des allgemein verbindlichen Denkens und Sprechens.

Wenn jeder seine Privatsprache spricht, hören wir eine Kakophonie, ein Konzert der Dissonanzen. Kann man Dissonanzen durch Verstehen, Widerlegen und Verständigen nicht harmonisieren, zerfällt die Polis in schrille Parzellen, die nicht mehr zueinander finden.

Woraus folgt: die Gesundung einer maroden Demokratie ohne Klärung philosophischer Grundfragen ist ausgeschlossen. Die Erfindung der athenischen Volksherrschaft war das Werk von Denkern und Dichtern. Deutsche Dichter und Denker waren unpolitisch und flüchteten ins Reich subjektiven Fühlens und Meinens. In Hellas umgekehrt. Alles klar Gedachte war ein solider Grundstein der streitenden und sich verständigenden Herrschaft der Gleichen. Mit den bekannten Defekten. Schritt für Schritt lernte ein Volk, was Freiheit und Gleichheit ist.

Moderne Demokratien brüsten sich, die Polis von Athen weit überrundet zu haben. Wie viele Schwarze werden in Amerika per Tricks von den Wahlen abgehalten? Wie viele Ideologien haben nur den einen Zweck, der Basis das politische Engagement zu vermiesen? Warum saugt der Kapitalismus seine Abhängigen immer mehr aus? Warum zwingt er die Frauen, sich aus Gründen der Unabhängigkeit dem Moloch der Wirtschaft zu unterwerfen? Damit weder Lust noch Energie zur politischen Betätigung übrig bleiben.

Europa muss von vorne beginnen und den Werdegang der athenischen Demokratie kritisch rekonstruieren. Wir müssen uns das Original erarbeiten, um das Einmaleins der Demokratie zu lernen.

Wer lernen als imitieren verwirft, weiß nicht, was lernen ist. Lernen ist intensives Durchdenken des Überlieferten und Durchdachten. Lernen ist Überprüfen. Ein ungeprüftes Leben ist nicht lebenswert, war das Motto eines philosophischen Demokraten. Ergibt das Prüfen eine Zustimmung zum Objekt, ist die Übernahme eines Vorbilds keine billige Imitation, sondern eine Bejahung mit Argumenten. Bloßes Imitieren ist Kopieren ohne eigene Prüfung. Folgt aus der Prüfung eine Verwerfung des Objekts, ist jeder Kritiker verpflichtet, seine eigenen Alternativen dem prüfenden Blick seiner Zeitgenossen auszuliefern.

Intakte Demokratien leben von der prickelnden Atmosphäre permanenten Prüfens, Streitens und sich Verständigens. Welchen Sinn hat es, von Vertrauensverlust in Demokratien zu sprechen, wie oben Demoskopin Köcher? Soll Vertrauen blinde Folgsamkeit sein, die alles als Misstrauen empfindet, was nicht unbesehen übernommen wird?

Es gibt Vertrauen in der Demokratie: das Vertrauen in mündige Mitmenschen, die keine Flucht in endlose Privatsprachen antreten, sondern sich dem öffentlichen Dialog stellen. Das Vertrauen, dass verlässliche Demokraten nicht der Macht folgen, sondern der Stringenz der Argumente. Eine Rede in der Volksversammlung soll niemanden mit Tricks beeinflussen, sondern mit Gründen und humanen Absichten gewinnen wollen. Wer nur sein eigenes Süppchen kochen will, soll coram publico überführt werden.

Wie kann es in Kulturen mit christlichem Menschenbild – das jeden Mitbürger als erbsündigen Lügner und Betrüger betrachtet – zur Ausbildung des Vertrauens kommen? Vertrauen in eine inkorrigible Sündensubstanz ist unmöglich. Wird das Es eines Menschen ausschließlich von selbstsüchtigen Triebregungen bestimmt, kann der Mensch sich nicht vertrauen. Seinen eigenen Gedanken und Gefühlen misstraut er ebenso wie denen seiner heidnischen Mitmenschen. Paulus darf sich selbst nicht vertrauen: ich bin mir nichts bewusst, dennoch bin ich nicht gerecht gesprochen. Wenn selbst unwillkürliche Gedanken – wie der begehrliche Blick auf die Nachbarin – todeswürdig sein sollen, muss ich mich als Sündenkrüppel verachten. Nur Gott kann mich aus dieser Verdammung retten. Demokratien aber bestehen weder aus Gott noch aus seinen Frommen. Kann ich nur Gläubigen vertrauen, Ungläubigen hingegen muss ich misstrauen?

Übersetzt man Vertrauen ins Griechische, ahnt man, wohin christliche Vertrauensprediger wollen. Pistis, Vertrauen, steht im Neuen Testament für – Glauben. Wir sollen der Politik blind glauben, wie der Christ die Dogmen der Kirche blind akzeptieren soll. Hier führt alles zur Böckenförde-Doktrin. Wer seine demokratischen Werte nicht im Glauben fundamentiert, kann kein guter Demokrat sein. Gottlose und Agnostiker müssen Demokraten zweiter Klasse sein. Ihr Mangel an Pistis ist ein Mangel an demokratischem Vertrauen.

Solche frommen Forderungen unterhöhlen jede Demokratie, die von gegenseitigem Überprüfen lebt – das Überprüfen aber nicht als Misstrauen definiert, sondern als Vertrauen in die menschliche Lernfähigkeit, die ihre Irrungen und Fehlschlüsse einsehen und korrigieren kann. Nur bei fluchwürdigen Sündern wäre ein unüberwindbares Misstrauen angesagt. Bei Menschen, die von Natur aus gut, und nur durch schlechte Erfahrungen schlecht wurden, bezieht sich das Misstrauen nur auf die sekundäre Lerngeschichte, nicht auf die etwaige teuflische Ursubstanz eines Sünders.

Demokratisches Vertrauen ist die Zuversicht, dass autonome Menschen mit Hilfe der Vernunft ihre Probleme durchstreiten und sich bei gutem Willen verständigen können. Das Vertrauen bezieht sich auf die Diskursfähigkeit des vernunftbegabten Mitmenschen. Das Überprüfen ist eine solidarische Unterstützung der freiwilligen Selbstüberprüfung des anderen – und vice versa. Ich lasse meine Meinungen von anderen überprüfen, weil ich selbst daran interessiert bin, meine dunkle Lerngeschichte zu entwirren und zu klären.

Was heute komplex und unlösbar genannt wird, ist nichts als potenzierte Problemverwirrung. Ungelöste Probleme werden im Verlaufe eines Lebens übereinander getürmt. Was ist dagegen zu tun? Die Verwirrungen müssen Schicht um Schicht abgetragen werden, damit jedes einzelne Problem in seiner ursprünglichen Einfachheit analysiert werden kann. Aktuelles Beispiel: der Syrienkonflikt. Laut SPIEGEL ist er komplex:

„Brok empfahl dringend, die Konflikte und Interessen der rund 100 Beteiligten „auseinander zu sortieren“, wobei die Rolle des schwierigen, aber eben unentbehrlichen Partners Ankara wegen der Kurdenfrage besonders heikel ist. War zunächst Assad ihr ärgster Feind, so sieht die Türkei inzwischen die Kurden als größere Gefahr im Nachbarland. Diese wiederum sind mit dem Nato-Partner USA verbündet und kämpfen teilweise mit deutschen Waffen. Allein daran zeigt sich die ganze Komplexität dieses Kapitels Realpolitik unter dem Stichwort »Fluchtursachenbekämpfung«.“ (SPIEGEL.de)

Wir erkennen das einfache System des Anwachsens und Verklumpens verschiedener Probleme zu einem undurchdringlich-komplexen Labyrinth. Doch der Eindruck täuscht. Der babylonische Turm von Irrungen und Wirrungen muss gründlich abgetragen werden, bis die Urprobleme gesondert zum Vorschein kommen. Alle menschlichen Probleme sind einfach. Nichts Menschliches kann einem Mensch fremd sein, der sich selbst nicht fremd bleiben will.

Das Gerede vom Unlösbaren und Komplexen hat einen einzigen Sinn: das Volk einzuschüchtern, um jede Kritik an der Politik der Eliten zu verhindern. Mischt euch nicht in unsere Machenschaften, sagen die Führungsklassen zum Pöbel, ihr seid zu ungebildet, um uns zu verstehen und zu töricht, um uns zu kritisieren. Das ist der Tod der Demokratie.

Blindes Vertrauen schadet jeder demokratischen Gemeinschaft. Das Gegenteil zu blindem Vertrauen wäre nicht hasserfülltes Misstrauen, sondern methodisches Prüfen aller gemeinsamen Angelegenheiten.

Wenn ich meine öffentlichen Überprüfungspflichten vernachlässige, ignoriere ich die Irrtumsfähigkeit der Menschen und verwandle sie in unantastbare Götter. Das wäre das Gegenteil demokratischer Solidarität und Freundschaft. Jeder, der um seine Fehlbarkeit weiß, will in fürsorglichem Geist überprüft werden, um seine Irrungen zu erkennen und nach Möglichkeit zu korrigieren.

Gegenseitiges Überprüfen sollte ein Beitrag zur Stabilisierung der athenischen Demokratie sein. So verstand Sokrates sein Lebenswerk. Heute würde man ihn nicht mehr anklagen und zum Tode verurteilen, heute würde man ihn als totalitären Eiferer verfemen.

Wer in demokratischen Dingen nicht Recht haben will, hat die Menschenrechte schon verraten. Recht haben wollen, ist nicht identisch mit Recht haben. Den Unterschied muss jede vitale Demokratie im Streit der Meinungen selbst herausfinden.

 

Fortsetzung folgt.