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Weltdorf VI

Hello, Freunde des Weltdorfs VI,

Was wäre, wenn das Datum des Weltuntergangs unwiderruflich feststünde? Wie würden sich die deutschen Medien verhalten? Hier eine Auswahl eschatologischer Schlagzeilen.

„Erleben Sie das einmalige und einzigartige Ende der Menschheit – bei uns im live-Ticker!“

„Vom Glauben zum Schauen. Woran Menschen seit Jahrtausenden geglaubt: bald werden sie es mit eigenen Augen sehen. Das Unerhörte, bei uns wird’s Ereignis.

„Jede Krise ist eine Chance: die Menschheit erfindet sich neu. Bei uns können Sie sagen, Sie sind dabei gewesen.“

„Was denkt und fühlt man zum berauschenden Finale? Optimieren Sie sich mit uns zur Apotheose Ihrer Pilgerschaft auf Erden.“

„Die Bibel hat doch Recht und Luther ist ihr Prophet: Pflanzen Sie jetzt ein Apfelbäumchen und harren Sie der letzten Dinge. Bei uns zum einmaligen Sonderpreis.“

„Kinder: Segen oder Fluch beim letzten Gang? Diskutieren Sie bei uns die Phänomene verführerischer Nähe beim allerletzten Loslassen.“

„Armageddon: die endgültige Beantwortung aller Welträtsel. Was den Klügsten auf Erden unlösbar und überkomplex schien: bei uns werden alle Probleme gelöst.“

„Sieger oder Verlierer? Die Geschichte bringt es an den Tag. Gehören Sie zu den Erwählten oder zu den Verdammten? Berechnen Sie die Wahrscheinlichkeit Ihres ewigen Geschicks mit Hilfe unseres johanneischen Apokalyps-O-Mats.“

„Sammeln Sie unverrottbare Schätze und wuchern Sie mit ihnen, bevor es zu spät ist. Jetzt bei uns. Investieren Sie in Fonds der Ewigkeit. Das Seligkeits-Immerdar-

Produkt (SIP) wird grenzenlos.“

„Kehren Sie um zu Ihrem himmlischen Vater – solange es Zeit ist. Wir zeigen Ihnen eine Auswahl an himmlischen Freuden, die Sie im Jenseits erwarten. Wer zu spät kommt, bei dem wird sein Heulen und Zähneklappen.“

„Nehmen Sie Abschied von der Welt, solange die Frist läuft. Haben Sie auf das richtige Pferd gesetzt, auf die Endsieger der Geschichte gewettet? Singen Sie mit uns den Zocker-Song der Ewigkeit:

Es ist in jedem Anbeginn
das Ende nicht mehr weit,
wir kommen her und gehen hin,
und mit uns geht die Zeit.
Der Himmel wölbt sich überm Land.
Ade, auf Wiederseh’n!

Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis!
Das Leben ist ein Spiel;
und wer es recht zu spielen weiß,
gelangt ans große Ziel.“

Was hingegen wäre so sicher wie das Amen im Gebet? Dass die Medien sich keinem einzigen Verhängnis widersetzen werden. Sie hüpfen auf jeden Zug der Geschichte, unterstützen jede Macht, die die Welt erobert, propagieren alles, was das Etikett „unvermeidlich“ auf der Stirne trägt. Sie machen sich mit nichts gemein, weder mit dem Guten noch mit dem Bösen. Also mit dem Bösen. Denn wenn sie das Gute nicht unterstützen, widerstehen sie nicht dem Bösen.

Sind sie überhaupt Zeitgenossen aus Fleisch und Blut – oder so etwas wie moderne Engel? Die außerhalb alles Irdischen schweben und dem Himmel berichten, welch lächerliche Kämpfe die Sterblichen führen – als ob sie Herren ihrer Geschichte wären?

„Der mediale Mainstream ist im Grunde deckungsgleich mit dem politischen Mainstream. Wenn es dort Kontroversen gibt, spiegeln die Mainstreammedien diese wider – sowohl in der Berichterstattung als auch in der Kommentierung; wenn der politische Mainstream sich aber weitgehend einig ist, dann ist es auch der mediale. Und wenn sich außerhalb des politischen Mainstreams Alternativen bilden, sei es links oder rechts davon, macht der mediale Mainstream nicht selten geschlossen Front dagegen. Will im Ernst jemand behaupten, die deutschen Leitmedien hätten es sich „zur Gewohnheit“ gemacht, die politisch und wirtschaftlich Mächtigen zu ärgern? Bei allem Respekt, aber da ist ja wohl das genaue Gegenteil der Fall. In der Redaktionskonferenz einer Radiowelle hat ein Kollege ein schwieriges, unangenehmes Thema vorgeschlagen. Und das wurde dann von der Redaktionsleitung mit dem Argument abgebügelt: „Ach, das zieht unsere Hörer nur runter.“ (Ulrich Teusch in Hintergrund.de)

Sie tun, als könnten sie objektive Beobachter sein, die nur über Fakten berichten. Doch es gibt keine objektiven Fakten. Alle Fakten und Tatsachen sind deutungsbedürftig. Wer sie nicht kritisch sieht, deutet sie machtkonform.

Gibt es irgendjemanden, der nicht den medialen Inzest-Zirkus kennt, der ständig rotiert und Mächtige mit Medien zum Tête-à-Tête lädt? Hier ein besonders obszönes Beispiel. Man betrachte das hemmungslos dreiste Gepränge der triumphierenden Bilder:

»BILD100 soll Deutschlands wichtigsten Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur Gelegenheit zum lockeren Austausch bieten – ohne Stress, ohne offizielle Statements«, sagte BILD-Herausgeber Kai Diekmann. Kanzlerin Angela Merkel war mit fast dem gesamten Bundeskabinett gekommen, um in lockerer Atmosphäre bei Bier und Wein zu plaudern.“ (BILD.de)

Wer sah, wie innig sich Angela und Friede in die seelenverwandten Augen schauten, konnte nicht erstaunt sein, dass Inzest-BILD kurz danach eine Serie zur Rettung der angeschlagenen Kanzlerin startete. Hin und wieder eine belanglose Alibi-Kritik zur Beruhigung der Beckmesser, ansonsten rückhaltlose Breitseiten gegen alles, was Muttern schaden könnte. (Am Rande: wer gesehen hat, wie Diekmann locker den Arm um seine Chefredakteurin legte, seinen Besitzanspruch in Körpersprache übersetzend, wird keine Zweifel mehr über journalistische Unabhängigkeit der Subalternen hegen.)

Wie viele Netzwerk-Veranstaltungen auf allen Ebenen gibt es in Berlin pro Jahr? Wer hier noch von Lügenpresse spricht, hat den institutionalisierten Inzest der vier Mächte nicht verstanden. Hier muss niemand bewusst lügen – das zeugte ja noch von einem intakten Gewissen –, es genügt, dass auf dem Humus der Vertraulichkeit die endothymen Synapsen des vorauseilenden Gehorsams ihres Amtes walten.

Es gehört zum Charme der BRD, dass zu den Netzwerken der Republik die Kirchen gehören. Sie selbst werden immer ununterscheidbarer. Der Papst pilgert nach Wittenberg, evangelische Bischöfe ermutigen ihre Protestanten zur Pilgerfahrt nach Trier zum Heiligen Rock. Für Luther wäre das eine Gotteslästerung gewesen. „»Bescheyßerei zu Trier« hatte Luther die Wallfahrt noch genannt, den »Teufelsmarkt zu Trier« ein »verführlich, lügenhaft und schändlich Narrenspiel«.“ (Sonntagsblatt.de)

Wenn alles mit allem heilig verrührt wird, reden wir von Ökumene. Je mächtiger die Ökumene, umso einflussreicher die Kirchen. Kein Politiker von Rang, der sich erlauben dürfte, in frommen Gremien kein Mitglied zu sein. Wer sitzt nicht im Zentralrat der Katholiken, wer war noch nicht Präsident des Evangelischen Kirchentages? CDU-Kauder gehört gar zu den besonders Frommen der schwäbischen Evangelikalen.

Müssen Lobbyisten des Bundestags inzwischen ihre Maulwurfsarbeit transparent machen, sind Machtverschlingungen per konfessionellem Engagement nicht meldepflichtig.

Der Einfluss der Kirchen gilt als demokratiestärkend an sich. Ja noch mehr. Laut Böckenförde-Diktum ist Volksherrschaft ohne klerikale Hintergrunds-Caritas eine fragile Chose mit schnellem Verfallsdatum.

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“ (Böckenförde-Doktrin)

Ist irgend etwas an diesen – zu Dogmen der Republik erstarrten – Sätzen eines katholischen Richters demokratie-kompatibel? Ist irgendjemandem aufgefallen, dass nirgendwo von Demokratie die Rede ist? Sondern nur von Staat? Demokratie ist keine Erfindung eines Staates, schon gar nicht eines deutschen Obrigkeitsstaates.

Alles, was bisher deutscher Staat war, hatte mit Demokratie so viel zu tun, wie Theokratie mit Herrschaft des Volkes. Insofern konnte kein Staat das „Wagnis der Freiheit“ eingehen, als ob Freiheit eine waghalsige Traumtänzerei wäre, nichts Solides im Vergleich zu allen autoritären und totalitären Obrigkeitsstaaten.

Böckenförde erläuterte sein Diktum später mit folgenden Worten:

Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art „Gemeinsinn“ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus. Aber nicht automatisch bei jeder Religion.“

Vom „Staat her gedacht“? Hier spricht ein Mitglied der judikativen Elite von der hohen Warte derer, die „selbstlos“ vom Staat her denken. Im Gegensatz zu den Massen, die selbstsüchtig ihre eigenen Interessen verfolgen.

An Böckenfördes abendländischen Wertesätzen ist alles falsch, was falsch sein kann. Hier haben wir alle Ideologie-Phrasen der Deutschen in geballter Konzentration vor uns. Christentum ist das Gegenteil von Aufklärung und Humanismus und hat sich erst vor wenigen Jahrzehnten zu Menschenrechten aus dem Geist der Aufklärung herabgelassen. Vor dem Krieg, als die Kirchen die Nationalsozialisten als Heilsbringer unterstützten, hätten sie sich bekreuzigt, wenn man sie als Vertreter säkularer Humanität bezeichnet hätte.

„Aber nicht automatisch bei jeder Religion“? Woran dürfen wir denken? Etwa an Muslime? Christentum und Judentum hingegen haben Demokratie und Menschenrechte erfunden? Kennt Böckenförde nur Zwänge, um demokratische Werte zu vermitteln? Wie wär‘s mit demokratischer Erziehung in Schulen und Familien, mit Argumenten auf Augenhöhe, mit demokratischem Vorbildsverhalten der Autoritäten? Wenn Gewalt ausscheidet, wo nur Gewalt etwas erzwingen könnte, bleibt nur noch – Religion.

Religion ist von jeher jene Gewaltmethode der Erziehung, die auf äußerliche Gewalt verzichtet, weil diese als innerliche Furcht vor Strafe und Verdammung funktioniert. Der verinnerlichte Prügel, der mit Himmel lockt und mit höllischen Strafen schreckt, ist effektiver als Steinigungen und Prügelstrafen. Jahrhundertelang gehörten innerliche und äußerliche Strafen zum klerikalen Gesamtpaket. Für einen überzeugten Katholiken war jede Form eines Staates, der sich päpstlicher Oberhoheit widersetzte, eine satanische Einrichtung.

„Jede Regierung, die auf feststehenden Gesetzen gründet, beruht zugleich auf einer Usurpation der Privilegien des göttlichen Gesetzgebers. Daher sind alle Verfassungen schlecht.“ Schrieb der glühende Papist und Widersacher Voltaires: Joseph de Maistre.

Aufklärer, Deisten, Freimaurer und Juden, Naturwissenschaftler und Demokraten, Liberale, Egalitaristen und alle, die an die Vervollkommnungsfähigkeiten der Welt und der Menschen glauben, sind für den glühenden Papisten Feinde eines theokratischen Staates, die um jeden Preis vernichtet werden müssen. Sie gehören alle zur „Sekte“, die weder schläft noch schlummert und von innen her alles unterwühlt. Nach de Maistre können Menschen nur gerettet werden, wenn man sie „mit Schrecken und Autorität“ in Schach hält. „In jedem Augenblick ihres Lebens müssen sie an das furchtbare Geheimnis erinnert werden, welches der Kern der Schöpfung ist: durch ständiges Leiden müssen sie geläutert werden und gedemütigt werden, indem man ihnen ihre Dummheit, Boshaftigkeit und Hilflosigkeit jederzeit vor Augen führt. Krieg, Folter und Leiden sind das unausweichliche Los der Menschen, sie müssen es auf sich nehmen, so gut sie können. Jene, die zu Herren über sie berufen werden, müssen ihre göttliche Pflicht tun, indem sie unbarmherzig für die Durchsetzung der Gebote sorgen und ebenso unbarmherzig bei der Vernichtung des Feindes zu Werke gehen.“ (Alles nach Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität)

Für Berlin ist de Maistre einer der wichtigsten Vorläufer des europäischen Faschismus. Kein nationalsozialistischer Ideologe hätte die Autorität eines Sohnes der Vorsehung präziser formulieren können als der glühende Feind der Französischen Revolution.

Heute winken sie ab, die Nachkommen de Maistres. Das war einmal! Schnee von gestern! Bedauerlich, aber längst bereut und von Gott vergeben! Frage: Was ist Vergebung auf modern? Antwort: wir schauen nicht zurück, wir schauen nur noch nach vorne. Täglich erfinden wir uns neu.

Jetzt wird klar, welche Funktion die tägliche Neuerfindung erfüllt. Wenn ich meine sündige Vergangenheit ignoriere, ist sie mir vergeben. Vergeben heißt: aus den Augen, aus dem Sinn. Am Punkte Null beginnen. Man könnte auch von Taufe sprechen. Täglich soll der Fromme seinen alten Adam ersäufen, um ein neuer Mensch zu werden.

Die Moderne hat es verstanden, uralte Rituale so umzufunktionieren, dass ihre klerikale Herkunft mit fortschrittlichem Flair unsichtbar gemacht werden kann. Vergebung ist nicht: erinnern, wiederholen, durcharbeiten. Ich habe nicht mit meinem Ich zu arbeiten, sondern mit einem klerikalen Über-Ich.

Wenn deutsche Parlamentarier das imperative Mandat als Nötigung ihrer Wähler ablehnen, flüchten sie in ihr religiöses Gewissen, das nur dem Gott in der Verfassung Rede und Antwort stehen muss. Oder, was auf dasselbe hinausläuft, auf die Vorhaltungen der Kirchen. Ein religiöses Gewissen ist grenzenlos offen. Wenn ihnen der Pöbel auf den Wecker geht, schalten sie um: vom Modus „Basis“ auf den Modus „Gottes Stimme“.

Jürgen Habermas, Deutschlands oberster Aufklärer, hat das Böckenförde-Diktum mit säkularem Segen abgesegnet. Nicht ohne den neckischen Zusatz: er selbst sei religiös unmusikalisch. Welch eine altdeutsche Gelehrten-Arroganz. Religion ist notwendig, um den Pöbel an die Leine zu legen. Doch ein deutscher Gelehrter hat solchen Tand nicht nötig. Er legt sich freiwillig an die Kette.

So viel zum Thema Aufklärung in Nachkriegsdeutschland, das es für richtig hielt, sich in die Fänge eines katholischen Staatsdenkers zu begeben, der in vagen Formulierungen noch immer den Spuren eines de Maistre folgt. Wenn hier nicht die Steine zum Himmel schreien. Das also sind die abendländischen Werte, auf die Merkel und ihr Freund Seehofer ihr allseits geliebtes Deutschland gründen.

Was ist Laizismus? Nichts anderes als – Populismus. Laizismus kommt von laios, das Volk, Populismus von populus, das Volk. Vielleicht verstehen wir allmählich, warum Populismus in Deutschland zum Gottseibeiuns werden musste. Alles, was dem Volk zu dienen scheint, spucken sie aus ihrem Munde.

Nicht alles, was zu dienen scheint, dient tatsächlich. Doch ob nützlich oder schädlich, muss im Einzelnen geprüft werden. Das haben die gegenwärtigen deutschen McCarthy-Populisten-Häscher nicht nötig. Ein Populist ist wie ein Verschwörungstheoretiker. Er mag sagen, was er will: a priori ist es falsch. Argumente sind überflüssig. Wer also sind die wahren Verschwörungstheoretiker?  

Laizismus ist Trennung von Kirche und Staat – eine selbstverständliche Einrichtung, wenn man nicht vom Staat, sondern von Demokratie ausgeht. Vergesst den Staat. Wenn eine Demokratie zum Staat wurde, ist sie zur Herrschaft der „Staatsdiener“ deformiert worden.

In einer Demokratie geht jede Macht vom Volke aus – und bleibt beim Volk. Für immer und ewig, halleluja. (Eine Staatsmacht gibt es nicht in einer intakten Demokratie, denn es gibt keinen Staat). Das Volk übergibt per Wahlen einen Teil seiner Macht an die gewählten Abgeordneten, die die Regierung bilden. Die Grundmacht bleibt immer beim Volk. Sie geht nicht aus, indem sie sich entfernt – und nie mehr gesehen ward.

Wenn die Gewählten ihre zeitlich limitierte Macht nicht im Sinne der Wähler ausüben, können sie sich auf keinen Fall auf ihr höheres Gewissen berufen. Tun sie es dennoch, haben sie ihr Mandat ans Volk zurückzugeben. Mit ihrem Gewissen können sie nur ihre Lieben und Freunde behelligen.

Demokratie ist eine Erfindung der „heidnischen“ Vernunft, die keine Stimme eines Gottes duldet. Die Athener hatten noch religiöse Feste und Rituale, aber keine klerikale Macht, die sich als unfehlbare Autorität in die Angelegenheiten der Polis hätte einmischen dürfen. Athen war das Gegenteil einer klerikal manipulierten Herrschaft diverser Götter.

Frankreich ist die strengste laizistische Gesellschaft in Europa. Und fühlt sich beim Bewahren dieser Grundsätze von allen Verbündeten verraten und verkauft. Vor allem von Hollandes guter Freundin Merkel, die bis heute nicht weiß, was eine Vernunft-Demokratie ist. Für sie ist jede Demokratie ein Christentumserwartungsland. Hat ihr christlicher Glaube nicht bereits den Sozialismus besiegt? Ihr Motto hat sie von ihrer ehemaligen Obrigkeit übernommen und leicht abgewandelt: den christlichen Glauben in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.

Als glühende Anhängerin des Hayek‘schen Neoliberalismus weiß sie, dass die Stimme eines vernunftlosen und amoralischen Marktes nichts ist als die unsichtbare Hand Gottes. Was immer man tun muss, ohne es zu verstehen, ist eine Gabe Gottes.

Für de Maistre waren Aufklärer Empörer gegen Gott, weil sie verstehen wollten, was sie zu verantworten hatten. Was immer der Mensch tut, kann er mit seiner Vernunft erklären. Beginnt der Bereich des Halbdunklen, Mystischen und Unverständlichen, beginnt das Reich des Herrn, für den die Weisheit der Welt sündige Torheit ist.

Die Politeliten der Gegenwart, die die Angelegenheiten der Menschen traktieren, nicht obgleich, sondern weil sie diese nicht verstehen, folgen den Spuren Tertullians: ich glaube, weil es absurd ist. Gibt es Widersinnigeres als Herrschaft auszuüben mit der Begründung: von Politik & Wirtschaft verstehe man nichts?

Merkel kennt keine philosophischen Unterschiede zwischen den einzelnen Nationen. Dass Völker verschiedene Biografien mit verschiedenen Denkprofilen haben: das sind böhmische Dörfer für die Pastorentochter. Sie kennt nur die ökonomische Peitsche, mit der sie alle verbündeten Mächte – die sie vor allem als Konkurrenten sieht – zur deutschen Raison zwingt. Alles andere ist für sie Tand und Folklore. So gut wie nie erwähnt sie andere Völker mit unterschiedlichen Meinungen in ihren Grundsatzreden.

Dasselbe sehen wir in den deutschen Medien. Keine einzige Talkshow, die sich intensiv einem Nachbarn widmete. Den französischen Laizismus etwa mit der deutschen Klerokratie vergliche. Hat je ein französischer Intellektueller in den Tagesthemen die Befindlichkeiten seines Volkes erklären dürfen?

Die Medien unterstützen – was sonst? – die Ohnmacht der Vernunft oder die Herrschaft der Dummheit.

„Eine Welt, in der jeder alles weiß, wäre eine Dystopie.“ So die FAZ, das Organ des Neoliberalismus.

Gewiss, ohne Grundvertrauen in seine Mitmenschen könnte kein Mensch leben. Doch wenn er jemandem misstraut, muss er sich kundig machen können, um sich ein begründetes Urteil zu bilden. Wenn ein Nobelpreisträger der Ökonomie erklärt, im Kapitalismus werde jedermann betrogen, wen wundert es, dass die betrogenen Massen sich empören und im Netz randalieren?

„Im Kapitalismus werden die Menschen täglich betrogen und ausgetrickst, sagt Nobelpreisträger Robert Shiller. Trotzdem gibt es kein besseres Wirtschaftssystem.“ (ZEIT.de)

Das System ist schlecht, dennoch gibt’s kein Besseres? Kapitalisten betrügen – und dennoch sind sie keine amoralischen Menschen? – wie Shiller einer möglichen Empörung vorbeugt. Sie sind nur Gefangene eines schlechten Systems.

Marx behauptete nichts anderes. Allerdings mit dem Zusatz: nur eine allmächtige Heilsgeschichte könne den Menschen aus den Fängen des Systems befreien.

Solches behauptet heute keine deutsche Gazette. Im Gegenteil: die Edelschreiber mokieren sich über die Deutschen, denen es noch nie so gut gegangen sei wie jetzt – und dennoch blieben sie missmutig und pessimistisch. Das könnten nur die Ausdünstungen einer wirren und widerspenstigen Bestie sein, die man nur mit Hilfe der Religion bändigen könne.

Deutscher Eliten-Hass auf den französischen Laizismus entspringt dem Hass auf den eigenen Pöbel, der nur mit Hilfe eines Polizisten-Gottes gegängelt werden kann. In emotionaler Tiefensicht hat sich Deutschland noch keine demokratische Vertrauensstruktur erarbeitet. Wer ständig fürchten muss, von Mächtigen betrogen zu werden, hat allen Grund, ihnen zu misstrauen.

Wer ständig seine Freunde düpieren muss, hat allen Grund, in Deckung zu gehen. Jene könnten sich rächen wollen.

 

Fortsetzung folgt.