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Europäische Idee IC

Hello, Freunde der europäischen Idee IC,

Sokrates, Buddha, Diogenes, Konfuzius, Aristoteles könnten keine Deutschen sein. Wegen Weisheit würde man sie des Landes verweisen, wegen Parasitentum und mangelnder Loyalität zum Deutschtum in ihre Herkunftsländer zurückjagen. Das Land der Dichter war nie ein poetisches, das Land der Denker nie ein weises Land.

Dichten benutzten sie, um ihr zurückgebliebenes Land in ein Paradieserwartungsland zu romantisieren. Denken nutzten sie, um ihre Jenseitsreligion mit philosophischen Anleihen der Griechen weltförmig zu gestalten.

Die Flitterwochen mit den Hellenen währten nur einen Augenblick. Faust war kein Grieche, sondern ein von Furien gehetzter, neoliberalier Aufsteiger und machtsüchtiger Karrierist, der mit göttlich-teuflischem Beistand die Welt eroberte, um am Ende vor der Liebe von Oben auf die Knie zu gehen.

Das Ergebnis deutschen Dichtens und Denkens war ein Land, das sich als Urvolk anmaßte, alle Völker der Erde zu erlösen und der Welt den göttlichen Gang der Geschichte zu demonstrieren. Zuerst in Gedanken, dann in der Tat. Die Tatenarmen und Gedankenvollen wurden arm an Gedanken und reich an fürchterlichen Taten.

„Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt,
 Aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat?“

Geistig reife Taten entspringen nur geistig reifen Gedanken. Deutsche Weisheit aber blieb Furcht vor dem Herrn und entwickelte sich nie zur politischen Fähigkeit, irdischen Menschen in realer Zeit eine humane Heimstatt zu bereiten und die klerikale Epoche des Sühne-Lazaretts für immer zu beenden.

Für einen kurzen Augenblick entflohen sie dem Regiment ihrer Gottesmänner in die unerhörte Freiheit der Urhellenen. Doch ihre Leidenschaft für die Griechen erfasste

 nur Mythen, Göttersagen und marmorne Leiber. Die philosophische Uraufklärung und die Weisheit der athenischen Polis blieben ihnen versagt.

Außer Platon als Vorläufer der christlichen Priesterherrschaft war nichts gewesen. Also gebärdeten sie sich als mächtige Weise, die sich anmaßten, den Rest der Welt mit ihren Erleuchtungen zu tyrannisieren. Die Weisen wurden zu Priestern, die Priester zu Führern, die Führer präsentierten sich als politische Priester in Siegerpose über die Welt, die ohne militante Heilsorgien vor die Hunde gegangen wäre.

In der Zeit der Aufklärung waren die Europäer der menschlichen Weisheit am nächsten. Das Zeitalter des Lichts und der Vernunft begann sich in Europa auszubreiten. Doch die Vernunft blieb zu schwach, um sich den Umarmungen jener zu entziehen, die sie jahrhundertelang mit Gewalt verfolgt hatten.

Vernunft wurde zum Gott der Vernunft, Gott der Vernunft zum Gott der Natur: deus sive natura, Gott und Natur verschmolzen zur Einheit. Das war die willkommene Einbruchsstelle für jene, die den Gott der Natur mit dem biblischen Erlösergott zu identifizieren verstanden. So geschah es, dass der neue Gott der Natur und Vernunft zum alten Schöpfer der Natur ex nihilo regredierte, der die eigenmächtige Vernunft seiner Geschöpfe hasste:

„Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“

Ab der Romantik wurde die Zeit zurückgedreht, die Zukunft sollte eine Rückkehr ins selige Mittelalter werden, als triumphale Einheit aus Kirche und Staat unter dem Regiment deutscher Kaiser.

Auch in England wurden die Gentlemen aus Oxford und Cambridge vom griechischen Furor erfasst. Für sie aber war die Wiederentdeckung der Demokratie die wahre Erkenntnis-Beute ihrer Sehnsucht nach Hellas. Während Goethe nie ein Sokrates-Drama gelang, schrieb der englische Historiker George Grote sein voluminöses Hauptwerk über Sokrates und die athenische Demokratie. Die Leidenschaft für die urgriechische Polis blieb ein stimulierendes Dauermoment der Fortentwicklung der britischen Demokratie.

Hier trennten sich die Entwicklungen der modernen Nationen. England wurde zur vorbildlichsten Demokratie in Europa, Deutschland träumte von einem neuen Kaiserreich, das die germanische Glorie des Mittelalters zurückbringen sollte. Aus dem Kaiser wurde Bismarck, aus Bismarck der Flottenkaiser, aus dem Flottenkaiser Hindenburg, aus Hindenburg der Führer, aus dem Führer das Inferno.

Auch die englische Demokratie blieb nicht ohne inneren Defekt: kaum erwachte das Volk, wurde es unter die Knute des Kapitalismus gebeugt. Adam Smith hatte als stoischer Weiser begonnen – und legte doch das Fundament für die Herrschaft der Habenden. Im Vergleich zum heutigen Neoliberalismus aber blieb er ein arbeiternehmerfreundlicher und arbeitgeberkritischer Anhänger einer sozialen und gerechten Wirtschaft.

„Und daher kommt es, dass, viel für andere und wenig für uns selbst zu fühlen, unsere selbstischen Neigungen im Zaume zu halten, und unseren wohlwollenden die Zügel schießen zu lassen, die Vollkommenheit der menschlichen Natur ausmacht, und allein in der Menschheit jene Harmonie der Empfindungen und Affekte hervorbringen kann, in der ihre ganze Würde und Schicklichkeit gelegen ist.“ (Smith, Theorie der ethischen Gefühle)

Diesen weisen Stoizismus vermengte der Schotte mit einem Christentum, das er, ohne es zu wissen, mit griechischer Moral gleichsetzte. Ab jetzt wird’s schief:

„Wie es das erhabene Gesetz des Christentums ist, unseren Nächsten so zu lieben, wie wir uns selber lieben, so ist es das erhabene Gesetz der Natur, uns selbst nur so zu lieben, wie wir unseren Nächsten lieben oder was auf das Gleiche hinauskommt, wie unser Nachbar fähig ist, uns zu lieben.“

Im Bann einer allversöhnenden Sehnsucht wollte Smith Vernunft und Glauben zur Einheit bringen. Doch der christliche Gott wird seine missratene Natur vernichten und eine neue aus Nichts erschaffen. Gesetze des christlichen Gottes können keine natürlichen sein.

Dass das christliche Gebot der Nächstenliebe – wie alle dogmatischen Sätze – nur in widersprüchlicher Weise vorlag, hatte Smith übersehen. Seine Liebe zum Nächsten sollte mit der reziproken Gegenliebe des Nächsten völlig gleichwertig sein. Wie kommt es aber, dass Smith sich genötigt fühlt, die bekannte Formel: „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, zu korrigieren, obgleich Eigen- und Fremdenliebe im Gleichgewicht scheinen?

Noch heute sind fast alle Abendländer davon überzeugt, dass der Fromme seinen Nächsten mehr lieben solle als sich selbst. Die Kleriker lassen das Volk in diesem irrtümlichen Glauben und predigen selbst über die Pflicht zum selbstschädigenden Altruismus oder zum selbstopfernden Egoismus, der den Nächsten mehr liebt als sich selbst. Dabei ist die bekannte Formel der Nächstenliebe nichts als die in allen Völkern der Welt verbreitete Goldene Regel, nach der man seinen Nächsten behandeln soll, wie man selbst behandelt werden will.

In der Bergpredigt aber hatte Jesus das gleichwertige do ut des – ich gebe, damit du gibst – verworfen. Das do ut des kennen auch die Heiden; Christen aber sollen die Heiden altruistisch übertreffen. Sie sollen vollkommen werden wie ihr himmlischer Vater:

„Ihr habt gehört, daß gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Jesus wendet sich ab vom Gesetz des Alten Testaments, wonach Nächstenliebe und Feindeshass sich nicht ausschließen. Nicht jeder Mensch in der Welt ist ein liebenswerter Nächster, weshalb Nietzsche den Frommen zur Fernstenliebe rät. Auch Carl Schmitt, gläubiger Katholik und Führeranbeter, will das Gebot der Nächstenliebe nicht als Verbrüderung mit allen Feinden der Welt verstanden wissen. Der Nächste ist für ihn der Volksgenosse – und nicht der böse Russe, Amerikaner, Brite und Franzose.

Jesus, der Bergprediger, aber fordert seine Jünger auf, alle Menschen zu lieben, gleich, ob sie Freunde oder Feinde sind. Ja, die Feinde sollen besonders geliebt werden – damit der Gläubige seinen himmlischen Lohn nicht aufs Spiel setzt. Würden sie tun, was alle Welt tut, was täten sie Besonderes? Sie müssen alle Heiden übertreffen: das ist der folgenlose Narzissmus der jesuanischen Feindesliebe.

Die Ethik der Bergpredigt ist keine autonome, sondern eine fremdbestimmte. Wer Gutes tut, wird nicht durch die Tat selbst, sondern durch externen Lohn Gottes bezahlt. Es ist wie in der Werbepsychologie, welche Menschen zum Konsumieren verführt, indem nicht das Konsumieren selbst, sondern das Gefühl, ein ganz besonderes Wesen zu sein, den außengeleiteten Lohn des Kaufens und Verbrauchens darstellt.

Feindesliebe setzt Feinde voraus. Es gibt Feinde, die man sich nicht aussuchen kann. Es gibt aber auch Feinde, die man sich selber schafft – weil man sie benötigt, um seine exquisite Feindesliebe zu demonstrieren. Würden Christen all ihre Feinde lieben, könnten sie noch ihre Feinde sein?

In den Augen von Smith entlarvte die jahrhundertealte schandhafte Praxis der Kirche das Liebesgetue der Christen als heuchelnde Orgien. Lieber nüchtern und lebensnah auf dem Boden bleiben, als Phrasen dreschen, die niemand einhalten kann. Das war die Motivation des realistischen Schotten, um das Liebesgebot in eine reziproke Gleichheit zu bringen. Doch wie verändert ist plötzlich die Stimmungslage im zweiten Buch von Smith, in dem er die Grundlagen des heutigen Kapitalismus formuliert:

„Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil trachten. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Menschen abhängen, außer einem Bettler und selbst der verlässt sich nicht allein darauf.“ (Wohlstand der Nationen)

Das soziale Urvertrauen in der Gesellschaft ist verschwunden. Mit dem berechnenden Tausch beginnt das prophylaktische Misstrauen, das nur durch quantitatives Überprüfen beseitigt werden kann. Wenn man den anderen manipulieren muss, indem man nur von seinem Vorteil spricht und die eigenen Bedürfnisse – nicht den eigenen Vorteil! – außen vor lässt, hat man die Integrität der sozialen Beziehungen schon untergraben.

Bei Smith war der haarnadelfeine Riss noch unscheinbar: „Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist.“ So spricht kein eiskalter Wettbewerber und Berserker.

Mit solchen Sätzen wäre Smith heute ein Revoluzzer. Nach seinem Tode begann der Riss sich in rasender Schnelle auszuweiten. Heute ist er scheinbar unermesslich und irreparabel geworden. Einem Prozent der Weltbevölkerung geht es immer besser, die anderen können vor die Hunde gehen.

Während die Ethik der Stoiker als Gutmenschenethik verhöhnt wird, hat die Heuchelethik des Christentums im Gewande des Neoliberalismus die Welt erobert. Den Armen werden belanglose Almosen hingeworfen, die Reichen kassieren die Schätze der Welt. Das ist die Praxis der christlichen Nächsten- und Feindesliebe.

Was in allen christlichen Erbauungspredigten verdrängt wird, ist die Kontrastierung der Nächstenliebe mit dem paulinischen Todesurteil bei Faulheit; wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Keine jesuanische Caritas mit Arbeitsunwilligen oder -unfähigen? Mit Müttern, die keine Arbeit verrichten, wenn sie Kinder erziehen und das Heim für den väterlichen Versorger hüten?

Keine Gnade mit solchen, die sich nicht selbst ernähren können – das ist deutsch. Meint das gelehrte Paar Münkler. Deutsch sein erkenne man an der Überzeugung,

„dass man für sich und seine Familie selbst sorgen kann und nur ausnahmsweise auf Unterstützung durch die Solidargemeinschaft angewiesen ist. Die Sicherheit, dass man sich durch eigene Leistung Anerkennung und Aufstieg erarbeiten kann.“

Was bedeutet, sich selbst versorgen? Kann es überhaupt ein autarkes Selbst in Gesellschaften geben, in denen alles mit allem vernetzt ist und alles von allem abhängt? Wo kann man arbeiten, wenn es keine Arbeitsplätze gibt? Die nächste weltweite Roboterisierung steht an, immer mehr Arbeitsplätze verschwinden für immer. Wo bleibt das autarke Selbst? Es wird unter Hohngelächter in affigen Shows (pardon, liebe Affen) dargestellt, in denen immer skurrilere Start-ups präsentiert werden, um von selbsternannten Experten durch den Kakao gezogen zu werden.

Die Münklers halten neoliberale Illusionen für Grundsätze des Deutschseins – der absolute Triumph der Wallstreet und diverser Altösterreicher über die soziale Marktwirtschaft der BRD. Mit Adam Smith hat diese Aufblähung des Kapitalistischen ins Maßlose nichts mehr zu tun. Von Alexander Rüstow oder der Freiburger Schule scheint das professorale Paar noch nie etwas gehört zu haben.

Wovon lebt eigentlich das professorale Paar? Nein, nicht vom Staat, sondern vom steuerzahlenden Volk. Wofür werden sie bezahlt? Für ihre wissenschaftliche Leidenschaft? Aristoteles, der eines der größten wissenschaftlichen Werke aller Zeiten verfasste, gilt heute als Verächter der Arbeit. Weil leidenschaftliches und selbstbestimmtes Tun dem Griechen nicht als Arbeit galt. Glaubt das Paar, es stünde ihm zu, für sein gemeinsames Hobby von der Gemeinschaft bezahlt zu werden? Und wenn es von anderen bezahlt wird: versorgt es sich dann selbst? Lebt eine Gesellschaft nicht vom Zusammenhang mit allem? In einer vernetzten Welt kann es kein isoliertes Selbst geben.

Unter der Ägide einer Pastorentochter sind die letzten Reste Weisheit der Nachkriegsrepublik davon gejagt worden. Nicht Gerechtigkeit und Solidarität – Konkretisierungen der Weisheit – zählen in der deutschen Gesellschaft, sondern Habgier und fremdschädigende Kälte, garniert mit gelegentlichen Samaritanerbeilagen, die die Brutalität der Berliner Wirtschaftspolitik ein wenig mildern sollen. Merkels Frömmigkeit hasst alle Weisheit der Welt. Für Luther, ihren Mentor, war Vernunft eine irdische Hure. Die gesamte abendländische Philosophie mit ihren vielfältigen Debatten um Gerechtigkeit ist an Merkel spurlos vorübergegangen.

Nicht der Pöbel ist ungebildet, sondern die Eliten, die alles im Griff haben wollen, wenn sie es als überkomplex darstellen. Vertraut ihnen, wählt sie: sie können es nicht. Sie wollen das Salz der Erde sein. Doch was, wenn das Salz dumm geworden ist? „Es ist zu nichts mehr nütze, als dass es hinausgeworfen und von den Leuten zertreten wird.“ Es genügt, wenn das dumme Salz in den Ruhestand geschickt wird. Christen muss man nicht behandeln, wie sie andere behandeln. Beschämt sie, diese Weltmeister in berechnender caritas.

Sollte der Merkel-Münkler‘sche Unsinn deutsch sein, könnten die Weisesten der Weisen nie Deutsche werden.

Sokrates schien ein Herumtreiber zu sein, der den ganzen Tag auf der Agora Streit mit seinen Mitbürgern suchte, um sie auf ihre Demokratiekompetenz zu testen. Heute wäre er ein verachteter Obdachloser und Bettler. Ja, wegen Belästigung seiner Zeitgenossen hätte er schon längst einen Platzverweis erhalten und dürfte sich nur noch in unbelebten Randbezirken herumtreiben.

„Franziska Giffey steht vor dem Brandenburger Tor und will die Sozialdemokratie erklären, als ihr ein Bettler dazwischenkommt. Der Mann, vielleicht 40 Jahre alt, stützt sich auf einen Gehstock, so gekrümmt, als hätte seine Wirbelsäule die Form einer Sichel. Sein Pappbecher ist leer, sein Gesichtsausdruck gequält. „Nein“, sagt Giffey, und als der Mann fortgehumpelt ist, erklärt die sonst so diplomatische SPD-Politikerin ihre Härte: „Der gehört zu diesen Bettelbanden. Heut Abend läuft der ganz normal rum, ich wette.“ (WELT.de)

Gezeichnet: Giffey, die künftige Frau Merkel der SPD. Kleine Anmerkung: ein Schwacher, der aus PR-Gründen einen noch Schwächeren imitiert, ist noch lange kein Starker. Oben gelten PR-Künste als listig und legitim, unten als Betrügerei. Soviel zum Dauerbashing des Pöbels durch die Erfolgreichen.

Sokrates war kein Verächter einer sinnvollen und selbstgewählten Arbeit. Man lese Xenophons Erinnerungen an den Meister der Streitkunst. Und dennoch bevorzugte er das „arbeitslose“ Leben einer lästigen Stechmücke, die seine Landsleute ermahnte, über ihr Leben nachzudenken und Rechenschaft abzulegen.

Nicht alle können das Gleiche tun. In einer lebendigen Demokratie muss es komplementäre Arbeitsteilung geben. Nicht alles, was keine Produktionsarbeit leistet, ist ein Schmarotzer. Das gilt für Mütter, Kranke, Schwache – und politisch aktive Philosophen.

„Hat nicht gerade Sokrates die Diskussion über die sittlichen Aufgaben des Menschen hinausgetragen auf den Markt, in die Palästra und die Buden der Handwerker? Und ist es nicht das Glück des gesamten Volkes, in dessen Dienst er alle Staatsgewalt stellt?“ (Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der alten Welt)

Für Buddha gilt ähnliches. Seine Mönche sollten sich nur der Meditation widmen und sich vom Betteln ernähren. Beim Befolgen des Bettel-Gelübdes waren sie auf den guten Willen arbeitender Laien angewiesen. Welch ein Verstoß gegen die Münkler‘schen Gebote. Und dennoch fühlten sich die Eremiten dem Wohl der Gesellschaft „voll verpflichtet und tief verantwortlich.“ (Weisheit des alten Indien, herausgegeben von Johannes Mehlig, Bd II)

Christliche Mönche dürfen sich den Luxus des Nichtarbeitens nicht erlauben. Sie müssen ein Leben lang beten und arbeiten. Arbeit ist die Folge des Sündenfalls und muss von jedem Frommen geleistet werden. Einen Verlass auf die Laien kann es nicht geben. Christliche Mönche leben in ihrer eigenen Welt. Das Reich der Laien ist für sie höchstens ein Gegenstand der Fürbitte.

Nur selbstbestimmte Arbeit ist für Aristoteles wahre Arbeit. Wer für andere malochen muss, ist der Sklave der anderen. 99% aller heutigen Arbeit wäre für Platons Schüler nichts als Sklavenarbeit. Muße ist nichts anderes als autonome Betätigung.

„Arbeit und Tugend schließen einander aus.“

Im christlichen Mittelalter wurde Muße zur acedia, zur Trägheit, einer der sieben Todsünden. Muße gilt heute als Stillstand und Faulheit. Kein Wunder, dass der mußelose Fortschritt von besinnungsloser Beschleunigung geprägt wird. Wenn Muße verboten ist, kann es keine humane Arbeit geben.

Wie wunderbar, dass Weise verschiedener Kulturen zu ähnlichen Erkenntnissen gelangen:

„Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten“, schreibt Konfuzius, der chinesische Weise.

Diogenes, der Hund, rebellierte gegen die ganze Gesellschaft mit ihren seltsamen Regeln und Pflichten. Er, der selbst vor Alexander dem Großen keinen Respekt hatte: „Geh mir aus der Sonne!“ entzog sich allen Arbeits- und Anstandspflichten, lebte ohne Zugeständnisse an die Gesellschaft mitten in der Öffentlichkeit und befriedigte all seine Bedürfnisse schamlos wie ein Hund. Die Logik der Autoritäten schlug er mit deren eigenen Waffen. So seine verblüffende logische Schlussfolgerung:

Alles gehört den Göttern.

Die Götter sind Freunde der Weisen.

Ergo gehört alles den Weisen.

Wenn alles den Weisen gehört, wozu sollen sie noch arbeiten?

Der Kapitalismus kann nur durch Weisheit besiegt werden. Merkels Wirtschaft ist das Unweiseste, was die Deutschen in ihrer Geschichte produzierten. Was würde Hölderlins Hyperion heute über die Deutschen sagen, da er sie bereits vor 200 Jahren als leblose Maschinen attackeerte?

„So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten –

Wie anders ging es mir!

Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster.

Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?

Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur sein, mit Ernst, mit Liebe muß er das sein, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Tun, und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen! Deine Deutschen aber bleiben gerne beim Notwendigsten, und darum ist bei ihnen auch so viele Stümperarbeit und so wenig Freies, Echterfreuliches. Doch das wäre zu verschmerzen, müßten solche Menschen nur nicht fühllos sein für alles schöne Leben, ruhte nur nicht überall der Fluch der gottverlaßnen Unnatur auf solchem Volke. –

Die Tugenden der Alten sei’n nur glänzende Fehler, sagt‘ einmal, ich weiß nicht, welche böse Zunge; und es sind doch selber ihre Fehler Tugenden, denn da noch lebt‘ ein kindlicher, ein schöner Geist, und ohne Seele war von allem, was sie taten, nichts getan. Die Tugenden der Deutschen aber sind ein glänzend Übel und nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst, mit Sklavenmühe, dem wüsten Herzen abgedrungen, und lassen trostlos jede reine Seele, die von Schönem gern sich nährt, ach! die verwöhnt vom heiligen Zusammenklang in edleren Naturen, den Mißlaut nicht erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser Menschen.

Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen, es schwärmt nicht mehr, bewahre Gott! es bleibt gesetzt, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selber, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strahle berauscht, der Sklave seine Ketten froh vergißt und von der gottbeseelten Luft besänftiget, die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind – wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter!“

Eine wahre Magd Gottes verachtet die Weisheit der Welt. Die Deutschen lieben sie dafür. An Verachtung der Weltweisheit lassen sie sich von niemandem übertreffen. Ihnen genügt die Klugheit des ungerechten Mammons.

 

Fortsetzung folgt.