Kategorien
Tagesmail

Europäische Idee XCIII

Hello, Freunde der europäischen Idee XCIII,

Demokratie!!!

Was Demokratie? Was brüllst du so herum und machst die Pferde scheu?

Demokratie ist in Gefahr!

Ah, ein Apokalyptiker. Sonst noch was?

Es ist fünf vor zwölf!

Mann, lass dir mal was Neues einfallen. Wie oft war es schon fünf vor zwölf?! Soll das originell sein?

Originell oder nicht. Die Freiheit ist in Gefahr!

Wie wär‘s mit Zeitung lesen? Solange kluge Zeitgenossen abwiegeln, kannst du ruhig schlafen. Jens Jessen in der ZEIT zum Beispiel: „Demokratie und Freiheit gehören nicht mehr zwingend zusammen.“

Demokratie und Freiheit sind siamesische Zwillinge. Die kann man nicht auseinanderreißen.

Willst du behaupten, Freiheit habe es ohne Demokratie nie gegeben? Das ist europäische Überheblichkeit. Lies Patrick Bahners in der FAZ: „Wie bitte? Freiheit kennen wir nur in Gestalt der Demokratie? Dann dürfte es über die allerlängste Zeit der Weltgeschichte keine Freiheit gegeben haben.“

Du quasselst nur – während die Demokratie verschütt geht.

Gemach, unser Verfassungspatriotismus und die Würde des Menschen haben Ewigkeitsgarantie.

Nichts ist ewig. Wir müssen was tun.

Wir sind neutrale Beobachter der Zeit und keine parteiischen Aktivisten.

Dein verdammtes Beobachten wird untergehen, wenn die Demokratie zum Teufel geht.

Der Teufel hat uns gerade noch gefehlt. Schau dir die Türkei an, dort wird die Demokratie zerlegt – und doch braucht Erdogan Leute, die

schreiben können. Nee, mein Job ist nicht in Gefahr. Nur Hitzköpfe werden Probleme kriegen.

Schlaf weiter, du Anpässling und Verräter der Demokratie!

Hallo, jetzt wirst du persönlich – wie alle Demokratiefanatiker, die ein Feindbild brauchen, um ihre Aggressionen loszuwerden. Geh zum Therapeuten und lass dir deinen Narzissmus wegoperieren. Du leidest an progressiver Rechthaberei, wenn nicht an faschistischem Volkswahn. Das Volk, mein Lieber, läuft jedem Rattenfänger hinterher, der ihm das Blaue vom Himmel verspricht. Und wenn du schon mir nicht glaubst, hör auf die Experten: nicht alle Probleme sind lösbar, wie deutsche Einfaltspinsel sich das so vorstellen:

„Zu guter Letzt sollte die Politik Feindbildkonstruktionen bekämpfen – und sich nachdrücklich dazu bekennen, dass es in der Demokratie meist keine einfachen Antworten gibt, aber dass sie die verfassungsgemäße Form der Freiheit ist.“ Schreibt ein hochgelehrter deutscher Professor.

Positiver Fatalismus ist die erste Bürgerpflicht. Wie kann man sich von ein paar unlösbaren Problemen ins Bockshorn jagen lassen? Ein bisschen Diktatur sorgt für Effizienz und hat noch niemandem geschadet. Das Volk, größter Feind seiner selbst, muss an die Leine – lesen wir in linken Gazetten, die immer Recht haben.

Ist das keine Demokratie, wenn das Volk sich entschließt, sich selbst abzuschaffen? Demütige Selbstbescheidung und ehrliche Bewunderung der Besten sind die wahren Quellen des Fortschritts. An die Arbeit, du Querulant. Die Reichen brauchen nützliche Idioten, die sie abkassieren können. Auf unsere Milliardäre können wir stolz sein. Wenn nur das Geld frei ist – haben wir Demokratie in Vollendung.

Und nun an die Kärrnerarbeit. Der Historiker Andreas Wirsching warnt vor Feindbildern, indem er – vor Feinden der Demokratie warnt.

„Die populistischen Bewegungen in den westlichen Demokratien werden nicht aufhören, mit der Konzentration auf einen „Feind“ ihre Chance zu verbessern, Menschen zu mobilisieren und damit die unausweichliche Komplexität der modernen Welt in schändlicher Weise scheinbar zu reduzieren. Und sie werden nicht aufhören, die Demokratie als zu korrupt und zu „volksverräterisch“ zu diffamieren, um mit dem „Feind“ fertig zu werden.“ (Sueddeutsche.de)

Wirsching kennt die einzig wahre Lösung aller demokratischen Probleme: das entlastende Geständnis ihrer Unlösbarkeit. Emil Cioran, französischer Literat und einstiger rumänischer Hitlerbewunderer, konnte die Lösungsallergie des Deutschen in romanischer clarté formulieren:

„Die Gewissheit, dass es kein Heil gibt, ist eine Form des Heils, ist selbst das Heil. Von da an kann man ebenso gut sein eigenes Leben organisieren wie eine Geschichtsphilosophie aufbauen. Die Unlösbarkeit als Lösung, als einziger Ausweg.“

Werden Probleme unlösbar, hilft nur ein Mittel: Gewalt. Gewalt löst zwar keine Probleme, aber durch Gewalt werden Probleme von der Tenne gefegt. Heil als Eingeständnis der Unlösbarkeit der Probleme – deutsche Historiker können das nicht wissen – ist Kern jeder Erlösungsreligion.

„Da ist niemand, der verständig sei; da ist niemand, der nach Gott frage. Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden. Da ist niemand, der Gutes tue, auch nicht einer. Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handeln sie trüglich. Otterngift ist unter den Lippen; ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid, und den Weg des Friedens wissen sie nicht.“

Was aber eingebildete Menschen nicht können: da ist Einer, der alles kann.

„Das ist der Stein, von euch Bauleuten verworfen, der zum Eckstein geworden ist. Und ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden.“

Faschismus ist Übertragung einer Theokratie ins Weltliche. Der Führer ist Stellvertreter Gottes auf Erden, der sein entmündigtes Volk durch die Gewalt seines Wortes in den zweiten Garten Eden führen wird.

Mit anderen Worten: wer Demokraten ununterbrochen die Botschaft einimpft, sie seien zur Lösung ihrer politischen Konflikte unfähig, schleift die Demokratie und bereitet dem Sohn der Vorsehung den Weg, der mit heiligem Schwert für Ordnung sorgen wird.

Eine „unausweichliche Komplexität der modernen Welt“ gibt es nur im Gebetbuch präfaschistischer Vernichter der Würde des Demokraten, welche darin besteht, dass der Mensch seine selbstgeschaffenen Probleme selbst bewältigen kann. Der selbstbewusste, mit beiden Beinen auf Erden stehende homo sapiens ist kein verlorener Sohn des Himmels, der auf dem Weg seiner Autonomie kläglich scheitern muss, um schuldbeladen und hilfe-heischend zu seiner allmächtigen Vater-Illusion zurück zu kriechen.

Eine vitale Demokratie löst ihre Konflikte aus eigener Kraft und mit eigenem Verstand. Und löst sie sie nicht, ist sie keine Demokratie, sondern eine scheindemokratische Prozession, die unter der Leitung des Gottes–in-der-Verfassung in das totalitäre Reich der Priester und Propheten marschiert.

So weit sind wir gekommen, dass notwendige Kritik an undemokratischen Machenschaften ein feindseliger Akt sein muss. Wer Demokratie als korrupt bezeichnet, wer glaubt, das Volk werde von den Eliten verraten und verkauft, wer Feinde der Demokratie als Feinde der Demokratie bezeichnet, der soll selbst ein Feind der Demokratie sein?

In der gestrigen Monitorsendung kam ein Report über die fast vollständige Korruptheit und Käuflichkeit deutscher Hochschulen und Universitäten. Nicht mehr zu zählen sind die Berichte über Lobbyisten und Einschmeichler der Macht. Sie mögen legal sein, wie sie wollen. Legale Gesetze zugunsten der Ohrenbläser sind dem anonymen Einfluss ökonomischer Mächte zu verdanken, die es verstanden haben, die Türen zu den gewählten Mächten sperrangelweit für ihre Interessen zu öffnen.

Feinde der Demokratie muss man nicht per Verschwörungstheorien erfinden. Es gibt sie. Im Inland wie im Ausland. Wer die Gesetze der Republik missachtet und demokratische Strukturen abschaffen will, was ist der? Ein Freund der Demokratie? Wer in der Türkei, in Russland, in sonstigen Despotien die Demokratie abschafft, was ist der? Ein Freund der Demokratie?

Wer innerhalb altgedienter Demokratien die Macht erringen will, indem er alle demokratischen Regeln der Menschenachtung verspottet und verhöhnt, was ist der? Ist Trump ein Freund der Demokratie?

Die Bewunderer einer machiavellistischen Realpolitik fordern stets das illusionslose Akzeptieren der Realität. Gibt es in der Realität keine Feinde der Demokratie? Muss man sich als Demokrat blind und taub stellen, damit man seine Feinde nicht kränkt, indem man sie als Feinde entlarvt?

Feinde muss man nicht hassen, man muss sie bekämpfen. Das alles kann ein Professor in bester Tradition deutscher Gelehrten-Allergie gegen den großen Lümmel nicht wissen. Nein, sie werden nicht zugeben, sie hassten die Demokratie. Sie haben neue Verschleierungsformeln einstudiert: Demokratie? Kann aus eigenen Prinzipien nicht überleben. Nur theologische Interventionen aus dem Hintergrund können sie vor dem Absturz retten. Demokratie? Kann ihre hausgemachten Probleme nicht lösen. Nur das Eingeständnis ihrer Inkompetenz kann sie vor dem Untergang retten. Retten? Im Gegenteil. Nur das Eingeständnis ihrer Unfähigkeit kann sie dem Untergang entgegentreiben – ohne dass die Gegner der Demokratie ihr Visier lüften müssten.

Früher nannte man Scharlatan, was man heute einen Populisten nennt. Ein Scharlatan ist jemand, der „es versteht, sich den Schein von Gelehrsamkeit u. Weisheit zu geben u. durch niedere Mittel die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen sucht, besonders wird darunter ein Quacksalber verstanden, welcher sich durch Marktschreierei ankündigt. Ein literarischer Ch. ist ein Schriftsteller, der ohne gründliche Studien, die Arbeiten Anderer zu Plagiaten benutzt u. die Meinung des Publikums über seine Fähigkeiten u. Leistungen zu täuschen weiß.“ (Pierers Universallexikon)

Heute ist ein Populist, wer die Frechheit besitzt, den GanzGroßenKoalitionsBrei der bestehenden Parteien zu kritisieren und alternative Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Oh gewiss, Rivalen können illusionär und demagogisch sein. Die öffentliche Debatte müsste die Geister prüfen, jeder Citoyen sein eigenes Urteil fällen. Das wäre Demokratie à la carte.

Der Kanzlerin wird vorgeworfen, keine Alternativen zu ihrer Politik zuzulassen, andererseits werden solche Alternativen im Generalverdacht zu Scharlatanerien erklärt. Wie viel Scharlatanerie – im härenen Gewand der Demut – steckt in der Politik der Kanzlerin?

Marktschreierei war ein zuverlässiges Zeichen des Scharlatans – in vordemokratischen Zeiten, in denen Politik nicht auf dem Marktplatz verkündet und debattiert werden durfte. Heute ist Marktschreierei unerlässlich, um den ohrenbetäubenden Lärmpegel der Platzhirsche und Medienpaladine zu durchdringen.

Wer gibt sich den Schein der Gelehrsamkeit und Weisheit, ja der Frömmigkeit, wenn nicht die Kanzlerin der Demut? Zu keiner Zeit studierte sie die Grundlagen der Demokratie und der abendländischen Werte – sprich der Philosophie – von der Pike auf. In allen Dingen sprang sie nur auf jene politischen Strömungen, die sie als lukrativ und machtversprechend einschätzte. Weder hat sie – nach eigener Aussage – in sozialistischen Zeiten den Marxismus gründlich durchdacht, noch bei der Wende die Grundlagen des freien Denkens, einer gerechten Wirtschaft und des offenen Diskurses zur Kenntnis genommen.

In allen Medien sitzen ihre Liebediener, die scheinkritische Fragen stellen und genau wissen, wo sie die nichtssagenden Antworten der Kanzlerin nicht mehr hinter-fragen dürfen. Das Publikum darf – wenn überhaupt – ohnehin nur Fragen stellen. Nicht mal Zusatzfragen sind gestattet. Der Souverän wird mit leeren Formeln abgespeist. Was, außer ihrer religiösen Schauspielerkunst, unterscheidet Merkels öffentliche Performance von der eines Putin, Orban, ja, eines Honecker light? Merkel besitzt ein phänomenales Gespür für Macht. Und die notwendige Magd-Gottes-Aura für die gefällige Verbrämung ihrer Macht.

Doch keine Merkel ohne die Deutschen, die eine Magd des Herrn zur Beruhigung und Exkulpierung ihres schlechten Dauergewissens benötigen. Weshalb haben sie ein schlechtes Gewissen? Weil sie fast alles verrieten, was sie in der Frühphase ihrer Nachkriegsrepublik gelernt haben.

Sie wollten vorbildliche Demokraten werden. Ein gerechtes Wirtschaftssystem einrichten. Das Klima retten. Den Hungernden in aller Welt Brot und Wohlstand verschaffen. Was sie im Dritten Reich in unermesslicher Bosheit und Verwerflichkeit exekutierten, wollten sie in einem beispielhaften Lernakt ins pure Gegenteil verkehren. Die Absichten waren löblich.

Doch der gute Wille muss von kritischer Selbstsicht begleitet werden, sonst wird er zur Reaktionsbildung, die nicht mehr weiß, wo sie steht und ihre neuerworbenen Fähigkeiten heillos überschätzt.

Patrick Bahners kritisiert Wirsching mit wirren Sätzen, indem er sich fragt, ob es Freiheit auch in außerdemokratischen Verhältnissen gibt. Oh doch, nicht alles, was keine Verfassung hat, muss gleich ein Hort der Diktatur sein. Matriarchalische Sippen oder Eingeborenenstämme im Urwald müssen keine finsteren Zwangssysteme sein. Doch so grundsätzlich will der FAZ-Mann gar nicht werden.

Lieber schwadroniert er von einer „Freiheit der Kirche vom Staat?“ Ist der römische Vatikan, weil unabhängig von anderen Staaten, für den Autor ein Tempel der Freiheit? Doch halt, jetzt wird’s klar. Bahners warnt vor „der quasireligiösen Überhöhung des Grundgesetzes, die im öffentlichen Reden mehr und mehr vordringt, aber der Grundregel der Demokratie widerspricht: dass Regeln durch Abstimmung geändert werden können.“ (FAZ.NET)

Was ist eine quasireligiöse Überhöhung des Grundgesetzes? Wenn man es für wahr und richtig hält? Sei es dem Urgeiste, sei es den einzelnen Prinzipien nach? Wenn das Grundgesetz das Wesen der Demokratie getreu wiedergibt, muss es alternativlos richtig sein. Was nicht bedeutet, dass einzelne Artikel nicht verbesserungswürdig wären. Es gibt ein zeitlos wahres Fundament der Demokratie, aus dem ständig zu überprüfende Maximen erwachsen. Alles ist kritisierbar, doch alles muss vom Recht des Volkes entschieden werden.

Zeitlose Wahrheiten sind in postmodernen Zeiten eine Zumutung. Noch niemand kam auf die naheliegende Idee, die postmoderne Aufweichung der Wahrheit als Kumpanei mit dem Neoliberalismus und als schleichenden Tod der Volksherrschaft zu bezeichnen. Der Neoliberalismus will nur die Wahrheit seiner Geldherrschaft, in der Demokraten lediglich als Polizisten und Müllmänner fungieren dürfen.

Gibt es keine zeitlosen Wahrheiten, kann Demokratie auch keine sein. Das ist die Verfallsdoktrin jeder res publica. Ist alles nur relativ und zeitlich begrenzt, kann Demokratie morgen keine Gültigkeit mehr beanspruchen. Ein futuristisches Zeitalter, das sich täglich neu erfindet und das Alte hinter sich ausradiert, kann keine zeitlos wahre Demokratie dulden.

Zeitlose Wahrheiten scheinen für Bahners religiöse zu sein – obgleich Gott sich im ständig wechselnden Kairos der Zeiten offenbart. Was gestern richtig war, kann morgen falsch sein, weil der Messias alles Alte vernichtet, um dem eschatologischen Neuen Platz zu schaffen.

Zeitlose Wahrheiten sind Aussagen der griechischen Philosophie, die keine Heilsgeschichte kannte. Bahners sieht schon das Verfallsdatum auf der leicht verderblichen Ware „Demokratie“. Natürlich kann man einzelne Artikel des Grundgesetzes mit entsprechender Mehrheit ändern. Wer aber mit Änderung die Abschaffung der Demokratie meint, muss als Feind derselben betrachtet werden.

Jens Jessen ist irritiert über ein Volk, das seine Herrschaft freiwillig abschafft. Doch die Türken sind nicht die ersten, die per Mehrheitsentscheidung ihre „Furcht vor der Freiheit“ als Rückkehr in eine Diktatur feiern. Demokratie auf dem Papier genügt nicht. Gibt es keine wehrhaften Demokraten, die ihr Gemeinwesen täglich verteidigen, muss das stroherne System in sich zusammenfallen.

Und doch ist es grober Unfug, von der demokratischen Unfähigkeit eines Volkes auf die mangelnde Berechtigung des demokratischen Gedankens überhaupt zu schließen.

Menschen sollten gesund und munter sein, damit sie ein freudiges Leben führen können. Doch was, wenn sie krank werden? Sollen sie – wie rassistische Arier überzeugt waren – vom Leben in den Tod befördert werden, nur, weil sie nicht mehr hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde und zäh wie Leder sind? Niemand ist befugt, sich als weise Führungsklasse zu definieren, um das Volk vor seinen Fehlern durch List und Tücke zu bewahren. Nur streiten und argumentieren ist erlaubt, um vor einem falschen Kurs zu warnen.

Jedes Volk muss seine Fehler – Völkerverbrechen sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen – selbst machen dürfen, damit es aus ihnen lernen kann. Freiheit muss ständig eingeübt werden, sonst fällt sie in Unfreiheit zurück. Jessen sollte mal wieder Fromms Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ lesen. Dann wäre er nicht in Versuchung geraten, folgende Sätze zu verbreiten:

„Was aber, wenn die Mehrheit einer Gesellschaft die Demokratie zwar zu ihrer Herrschaft nutzen, aber ohne ihre modernen Aufgeklärtheiten haben möchte? Was, wenn Emanzipation und Rechtsgleichheit nicht mehr mit der Demokratie voranschreiten sollen? Wenn das Volk zwar wählt – aber nicht die Freiheit, sondern die harte Hand und den Rückschritt? Darin liegt ein echtes politisches Dilemma, das nicht einfach dadurch aufzulösen ist, dass man ein solches Volk für manipuliert und irregeleitet erklärt – und gegebenenfalls die Quelle der Irreleitung ausschaltet (oder die entsprechende Partei verbietet).“

Daraus zieht Jessen sein schreckliches Fazit:

„Demokratie und Freiheit gehören nicht mehr zwingend zusammen.“ (ZEIT.de)

Wenn Freiheit nicht mehr den Kern der Demokratie bildet – zusammen mit Gleichheit und Geschwisterlichkeit –, gibt es auch keinen Grund, die Würde der Einzelnen und die Menschenrechte aller Völker in demokratischen Formen zu schützen.

„Das ist das Neue und Revolutionäre an der demokratischen Erfindung der Griechen: Dass zum ersten Mal nicht Herkunft und Vermögen über den Grad an politischer Teilhabe entschieden, sondern die Tatsache, dass er Mitglied der Polis war und ihm in dieser Eigenschaft ein gleicher Anteil an der politischen Willensbildung zustand. Zur Freiheit, sagte Aristoteles, gehöre es, dass man abwechselnd regiert und regiert wird. Alle herrschen über jeden und jeder abwechselnd über alle.“ („Hellas sei Dank“ von Karl-Wilhelm Weeber)


Fortsetzung folgt.