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Europäische Idee XCII

Hello, Freunde der europäischen Idee XCII,

zwischen zwei Gedichten kam das Verhängnis. Zu jener Zeit nämlich, „als das Bürgertum nicht nur seine politischen Fesseln abwarf, sondern auch alle Bande der Liebe und Solidarität, und zu glauben begann, wer nur für sich selbst sei, sei mehr er selbst. Nicht weniger. Für Hobbes ist Glück das endlose Weiterschreiten von einer Begierde zur nächsten. La Mettrie empfahl Drogen, sie würden die Illusion von Glück vermitteln. Für de Sade ist Befriedigung grausamer Impulse legitim, denn sie existieren und verlangen nach Befriedigung. Das waren Denker, die im Zeitalter des endgültigen Sieges der bürgerlichen Klasse lebten. Was Politik  der Aristokraten war, wurde nun zur Praxis und Theorie der Bourgeoisie.“ (Erich Fromm)

Die Bourgeoisie übernahm den Amoralismus jener Feudaleliten, die sie entthront hatten und verurteilte das „Volk“ – den „Vierten Stand“ – zur Rolle der Anständigen und Moralisten, die sie bislang selbst gespielt hatte. Die Bürger, die sich aller bisherigen Kammerdienermoral entledigten, stiegen auf zur führenden Klasse, indem sie die Nichtbürger nach unten in den Staub traten. Der Riss in der Gesellschaft wanderte eine Klasse tiefer.

Der dritte Stand verband sich mit Klerus und Adel, um sich als neue Führungsklasse vom Vierten Stand der Proleten abzusetzen. Die obersten drei Klassen definierten sich als aristoi, die Besten. Da konnten die Abgehängten – Frauen und Proleten – nur die Schlechtesten sein, die ihr Schicksal als verächtliche Unter- und Appendixklassen verdient hatten. Wohl gehörten die Frauen als Gebärerinnen und Kurtisanen zu allen  Klassen – aber nur als nützliche Beigaben, nicht als gleichwertige Citoyennes.

Was man immer vergisst: die Deklaration der Rechte der Frau wurde von der Bürgerrechtlerin Olympe de Gouges verfasst:

„Die Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin („Déclaration des droits de

la femme et de la citoyenne) wurde im September 1791 von der französischen Frauenrechtlerin Olympe de Gouges verfasst, um sie der französischen Nationalversammlung zur Verabschiedung vorzulegen. Sie forderte darin die volle rechtliche, politische und soziale Gleichstellung der Frauen.“ 

Erfolglos, die führenden Männer dachten nicht daran, der Frau gleiche Rechte einzuräumen. Die Französische Revolution blieb ein Triumph wohlhabender Bürger. Frauen und Arbeiter blieben außen vor. Heute sind sie auf dem Papier gleichberechtigt. In Wirklichkeit dienen sie noch immer als Kompensationsklassen und Sündenböcke.

Das ist der Stand von heute. Wer ständig und unterschiedslos vor Populisten warnt und in faschistoider Grandiosität das Volk vor sich selbst schützen will, zählt sich zu den höheren Klassen, die das Volk als nützliche, grenzenlos dirigierbare und schuldabladende Masse betrachten.

Ob Populisten sinnvolle Kritik üben oder nicht, ob sie Rattenfänger sind oder nicht, entscheidet in Demokratien noch immer der Wähler. Und nicht jene Mitläuferklassen, die die wirklichen Eliten vor Machtverlust schützen – um ihre eigene Steigbügelhalterfunktion nicht zu gefährden.

Intellektuelle und Medien haben sich fast komplett zu Bodyguards der Herrschenden entwickelt. Haben sie dem Import des Neoliberalismus den geringsten Widerstand entgegengesetzt? Haben sie dem futuristischen Totalitarismus von Silicon Valley eine einzige kritische Zeile gewidmet? Im Gegenteil: vor beiden Strömungen lagen sie bewundernd auf dem Bauch und gerierten sich als ekstatische Hilfspropheten der neuen Propheten aus dem Geist der digitalen Maschine.

Selbstkritik ist von ihnen nicht zu erwarten, denn sie blicken nicht zurück. In der Taufe ihrer täglichen Selbsterfindung beginnen sie in jedem Moment von vorne, vom Punkte Null an, dem Nichts, aus dem sie die Welt neu erschaffen. Neuer Tag, neues Spiel, neues Glück.

Die häufigsten Zeitgeistbegriffe werden mit dem Kescher eingefangen und morgen schon dem nächsten Windstoß überlassen, der sie in alle Richtungen verweht.

Medien haben keine Biografie, denn sie haben keine Vergangenheit. Täglich verwischen sie ihre Spuren, um über Nacht in den seligen Stand der tabula rasa zurückzukehren. Die europäischen Medien sind nicht einmal fähig, sich mit ihren bedrohten und verfolgten Kollegen in der Türkei in einer eindrucksvollen Aktion zu solidarisieren. Bei Charly Hebdo gab es noch einen riesigen Theaterdonner. Heute ist von den Zeitgeistbeobachtern außer Zetern und Selbstbejammern nichts zu hören. Den Niedergang der Gattung werden sie in kühler Objektivität kommentieren.

Wenn Eliten sich nicht zum Volk zählen, sollten sie weitab von aller Zivilisation – am besten in fernen  Galaxien – Elitokratien, Aristokratien und Meritokratien gründen. Die Menschheit wäre sie endlich los. Da alle Gewalt vom Volke aus geht, wären sie ohnehin aller Macht ledig. 

Nach dem neuen Matador der amerikanischen Republikaner sollten wir die Aufwärts-Entwicklung des Bürgertums unter Abwerfen aller lästigen Moral dereguliertes Trampeln oder geföhnten Trampismus nennen.

Der Kapitalismus entstand, als die dynamische Bourgeoisie sich zur leitenden Klasse des Staates aufschwang, unter strategischer Duldung der Popen und Vornehmen. Popen brauchte man um der Obrigkeit, die Blaublüter um der ehrfurchtgebietenden Tradition willen. Trump ist nur der Ehrlichste und Dümmste in der Klasse derer, die keine Lust mehr verspüren, der Vernunft zu folgen, die sie zum autoritären Über-Ich verunstalteten. Eigentlich meinen sie die Gebote des Himmels, gegen die sie allergisch geworden sind. Da sie aber die Stellvertreter des Himmels zur Stabilisierung der Obrigkeit benötigen, haben sie Gott in Vernunft verfälscht, die sie nach Belieben zum Teufel schicken können.

Moral ist immer nur das Korsett für die Kleinen und Ich-Schwachen, weshalb man sie ab der bürgerlichen Revolution als Spießermoral denunzierte. Wer kein Spießer sein will, muss Moral als Hinterwäldlerei und politische Korrektheit verhöhnen. Nicht mehr das eigene Wohl, welches das Wohl des anderen einschließt, ist die Devise des vorbildlichen Verhaltens, sondern das Eigenwohl, welches das Wohl des Anderen zertrümmert.

Das wars denn mit dem Zoon politicon. Ab jetzt beginnt die Geschichte des solistischen eigensüchtigen Ichs, das Politik benützt, um seinem auf Erden nicht zu befriedigenden Wohlergehen nachzujagen, indem er das Wohl des Du, Er, Sie und Es in konkurrierender Gnadenlosigkeit zer-trampelt. Unendliche Bedürfnisse sorgen dafür, dass begrenzte irdische Verhältnisse sie nicht befriedigen können.  

SPD-Wirtschaftsminister Schiller glaubte an die Ökonomie-Theologie wie ein neugeborener  Fundamentalist. Wer alle Dogmen der bürgerlichen Neoliberalen freiwillig übernimmt, obgleich er sich für kapitalismuskritisch hält, darf sich nicht wundern, dass er dem Spuk nichts mehr entgegenzusetzen hat. Die Begrenztheit der Natur muss in die Luft gesprengt, eine zweite Natur aus dem Nichts  erschaffen werden.

Man höre und staune: elementare Bedürfnisse machen Karriere, dehnen und strecken sich plötzlich ins Unendliche. Wer auf Erden nicht befriedigt wird, darf auf den Himmel hoffen. Gottes Konsumtempel sorgen für unbeschreibbare Sinnengenüsse. Denn nicht körperlose Seelen werden entrückt, sondern runderneuerte Körper mit seelischen Anhängseln. Der Kapitalismus beginnt nicht mit Adam Smith, sondern spätestens mit dem „Atheisten“ Hobbes, der sich von der christogenen Unendlichkeit nicht lösen konnte.

Alles ist religiös und naturfeindlich, was die Grenzen der Natur nicht akzeptieren kann. Das Leben darf nicht endlich sein, also muss der Mensch unsterblich werden. Seine Bedürfnisse müssen sich ins Transzendente erstrecken, damit die Transzendenz nicht ihre Macht über ihn verliert.

E. F. Schumachers Werk „Die Rückkehr zum menschlichen Maß“ müsste in jeder Schulklasse einmal im Jahr vorgelesen und debattiert werden. Die Stiftungen der Reichen wissen, was sie tun, wenn sie sich in Schulen und Universitäten unter dem Mantel der Uneigennützigkeit einkaufen.

Hier das neuste Bespiel aus dem Ländle der Grünen in der FAZ.

Die Machtbedürfnisse des Menschen müssen endlos sein, auf dass er seine Gottebenbildlichkeit in Glanz und Gloria feiern kann. Unendliche Begierden, drogenhaftes Glück und Befriedigung grausamer Impulse – das Vermächtnis von Hobbes, La Mettrie, de Sade und seelenverwandten Denkern – werden die philosophischen Wegbereiter des Kapitalismus.

Das Bewusstsein präparierte das Sein, damit das Sein das Bewusstsein prägen kann. Das Sein ist nichts anderes als das in Materie gehauene Bewusstsein. Wer sein Bewusstsein vernachlässigt, um den Terror des Seins zu erdulden, unterwirft sich dem Bewusstsein früherer Geister. Er bleibt Sklave der Vergangenheit und wenn er sie noch so sehr durch Starren in die Zukunft verdrängte.

Das Misstrauen Adam Smith’s in das Wohlwollen seines Metzgers und Bäckers war der Donnerhall, der die Phase seiner stoischen Ethik verabschiedete. Tauschgeschäfte, die vom Vertrauen in den Zoon politicon geprägt sind, müssen von niemandem kalkuliert werden. Der Zwang zum Rechnen beginnt mit der Nötigung, seinen Tauschpartner als Tauschgegner misstrauisch zu beäugen. Ab jetzt muss geprüft, nachgerechnet und gefuggert werden, damit niemand übers Ohr gehauen wird – mit Ausnahme des Anderen. Menschliche Bedürfnisse werden zu Rechenoperationen. Das nicht existente Vertrauen, der sich ins Unendliche dehnende Graben des sozialen Argwohns wird zum grenzenlosen Kapital, mit dem der Kapitalismus zu wuchern beginnt.

Heute haben wir den Zenith der sozialen Deformation erreicht, wenn Kinderzeugen, Austragen- und Erziehenlassen von bezahlten Marionetten der eigenen Bedürftigkeit vollstreckt werden. Überleben und Leben werden zu Äquivalenten des Mammons. Wer es sich leisten kann, wird auf einer seligen Insel oder in einem Weltraumschiff unsterblich und selig werden. Wer nicht, wird von Mietlingen der Evolution zu Gülle vaporisiert.

Wer es tiefenpsychologisch will: der CO2-Ausstoß der Gattung ist das Pendant zu den ins Unendliche wachsenden Finanzströmen, die den Planeten umfluten. Die Menschen brauchen eine psychophysische Substanz, an der sie die Wirkung ihrer ejakulierenden Potenz bewundern können. Je mehr produziert und Energie verbraucht wird, je dichter wird die Schicht aus virtuellem Geld und reellen Ausdünstungen, die ihnen die Sicht zur natürlichen Sonne verdeckt. Träumen sie doch davon, die minderwertige Sonne der ersten Natur durch ihren Gott, die wahre Sonne, zu ersetzen.

Es ist nichts Geheimnisvolles, mit dem die männliche Bürgerschaft das Regiment auf Erden übernahm. Gesetze der Evolution? Gesetze der Geschichte? Gequirlte Hochstapelei.

Marx unterstützte den trügerischen Schein der komplexen Ausbeutung, indem er deren sogenannten Gesetze mit großem Scharfsinn unter die Lupe nahm. Ganz nach dem Vorbild Newtons, der die natürliche Welt mit mathematischer Genialität durchdrang, um deren einheitliche Gesetzmäßigkeit zu beweisen. Marx wollte der Newton der Geschichte werden. Kaum jemand aus der Klasse der Proleten, die er befreien wollte, verstand die dunklen und ehrfurchterregenden Erkenntnisse des Trierers. Doch genau dies war das Geheimnis seines weltweiten Erfolges.

Das Proletariat, erzogen in der göttlich-unbegreifbaren Aura einer jenseitigen Offenbarung, glaubte an das neue Evangelium. Gemäß dem eingedrillten Motto: was wir nicht verstehen, das muss unbedingt wahr sein. Die Auratisierung der Marxschen Schriften war zugleich die Ursache ihres Scheiterns. Man besaß die Marxschen Bände wie man früher die Familienbibel von Generation zu Generation weitergab: kostbar, aber undurchdringlich.

Anstatt zu verstehen und zu debattieren, begann die Heiligsprechung des Hegelschülers. Alles Heilige lebt von seiner Unberührbarkeit. Je unverständiger und paradoxer, umso sakraler das einzige und wahre Buch, welches alle Weisheit dieser Welt zu enthalten scheint. Wie die Deutschen sich Christen nennen, ohne einen Dunst von ihrer göttlichen Schrift zu haben (die meisten wissen nicht mal, dass es ein Altes und Neues Testament gibt), so nannten sich die Proleten Marxisten, ohne das Geringste von Marxens Schriften zu verstehen.

Wenn eine Ideologie auf Schlagworte verkürzt wird, an die man zu glauben hat, dauert es nicht lange und die Quelle der Erkenntnis versiegt. Was nicht ständig debattiert wird, verdorrt und verkümmert zu einem Gebetbuch, das man memoriert, aber nicht mehr weiter entwickeln kann.

Nichts von all dem, was menschliche Gehirne und Hände produzieren, ist komplex. Was Menschen ersonnen haben, kann von Menschen nachgedacht und überprüft werden. Der Verdummungsslogan von der Überkomplexität politischer Verhältnisse ist das Erbe des Kirchenvaters Tertullian, der an die Botschaft Jesu glaubte, weil sie unverständig und absurd war. Wäre sie verständig gewesen, hätte er sich angewidert abgewandt.

Das Heilige bezieht seine furcht- und schreckenerregende Faszination aus seiner wirren Widersprüchlichkeit und Undurchdringlichkeit. Was der Mensch versteht, hält er für profan und minderwertig, so, wie er sich selbst empfindet. Was minderwertige Wesen verstehen, muss selbst minderwertig sein. Gläubige wollen ehrfürchtig aufschauen und von der Botschaft ihres Glaubens gepeitscht werden. Wahr ist, was mich und meine Sündhaftigkeit unter Schmerzen bestraft. Was nicht weh tut, meinem Verstehen nicht Hohn spricht, muss belanglos und ordinär sein.

Die Entstehung des Kapitalismus war einfacher und geheimnisloser als man zu phantasmagorieren pflegt. Ja, simpler geht es nicht: es war vor allem ordinärer Raub, brutaler Diebstahl und hinterfotziges Betrügen, übertüncht mit Phrasen gelehrter Mietlinge.

Wie Kapitalismus entstand, kann man noch heute täglich beobachten. Denn jeden Tag entsteht er aufs neue. In der Ukraine überrollen Riesenmähdrescher der Oligarchen rücksichtslos die Felder der Kleinen und räumen ab. Begleitet von Dutzenden düsterer Schläger und lebloser Advokaten, die irgendwelche gefälschten Papiere vorweisen. Gegen solche staatlich geduldeten Mafiabanden kommt kein Bäuerlein an. Purer Raub auf offener Szene.

Nicht anders verlief der Raub der Allmende im frühkapitalistischen England durch Adel und Großbürger, die mit riesigen Schafherden ihre neue Textilindustrie versorgten.

Wer sich heute bewirbt, muss fast immer eine kreative Profitidee vorlegen, die er im Bewerbungsgespräch erläutern muss. Etwaige Absagen bleiben ohne Rückmeldung. Die Ideen des Bewerbers bleiben selbstredend das Eigentum der Firma, die sich schamlos an den Bewerbern bereichern. Vor einiger Zeit mussten die Bewerber unbezahlte Praktika ablegen. Von allen Betrügereien des Kapitalismus sind dies noch die kleinsten.

Was nicht mit Raub und Betrug durchgeführt werden kann, wird mit Gesetzen geleistet, die garantiert den Willen der Starken und Unverfrorenen widerspiegeln. In dem bemerkenswerten SPIEGEL-Interview mit dem linken Politologen Robert Reich, dem Ex-Wirtschaftsminister Bill Clintons, erfahren wir, wie es geht:

„Jeden Tag werden in Washington und Brüssel Entscheidungen getroffen, welche die Grundbausteine des Kapitalismus, die Spielregeln, beeinflussen. Sie müssen sich das wie ein Blackbox vorstellen: Vorn gehen die Lobbyisten und Wahlkampfspenden rein, hinten kommen Regeln heraus, die gut sind für Konzerne und Reiche.“

Seit über 200 Jahren werden massenhaft Gesetze in kapitalistischen Demokratien erlassen. Zumeist von jenen, die rein zufällig zur Schicht der Profiteure gehören. Es wird unerlässlich sein, die Gesetze der Reichen, die unter dem Mantel der Legalität ihr Unwesen treiben, mit eisernem Besen auszumisten.

Der glanzvolle Höhepunkt der Täuschung und Überlistung sind jene Begriffe, die den Betrogenen vorgaukeln, dass der Betrug ihrem eigenen Vorteil diene. Gefeuert werden heißt freisetzen, den Staat an seinen Überprüfungspflichten hindern, heißt deregulieren. Unbegrenztes Niederkonkurrieren der Gegner heißt Liberalität. Das Faustrecht der Starken heißt fairer Wettbewerb. Immer reicher werden auf Kosten der Armen heißt: der Reichtum der Reichen nützt den Armen. Wenn das Wasser steigt, heben sich alle Boote. Der Luxus der Tycoons trickelt durch zu den Ärmsten.

Derweilen wächst und wächst die Zahl der Milliardäre in der ganzen Welt. Keine deutsche Kanzlerin, die sich genötigt fühlte, solche Peanuts zu kommentieren, gar sie zu bekämpfen. Wann soll dieses schaurige Drama gestoppt werden? Wer hält den Unersättlichen endlich die Faust vor die Nase? Wer verlangt die erschlichenen und geraubten Riesenvermögen in die Hände jener zurück, die den Reichtum der Gattung mit Fleiß und unter widrigsten Umständen erarbeitet haben?

„Die Zahl der Milliardäre ist laut einer neuen Untersuchung im vergangenen Jahr erneut gestiegen, ihr Gesamtvermögen ebenso. Die meisten Superreichen sind männlich und leben in Europa, gefolgt von den USA. Besonders stark gewachsen ist ihre Zahl aber in Asien.“ (SPIEGEL.de)

Nicht nur die Schwachen werden ausgenommen: es ist das ganze weibliche Geschlecht, das seit Gründung der männlichen Hochkultur lebenslang übers Ohr gehauen wird. Mit der kaum noch zu fassenden Begründung: was keine naturschädigende Arbeit verrichtet, um Produkte herzustellen, die man verkaufen und zu Profit machen kann, ist keinen Penny wert. Ein selbstkritischer Ehemann rechnete aus, was ihn seine Ehefrau kosten würde, wenn er sie nach marktüblichen Tarifen bezahlen müsste. Fazit seiner Prüfung:

„»Tatsächlich deckt mein Einkommen bei Weitem nicht das ab, was sie für diese Familie leistet. Ich kann mir meine Frau gar nicht leisten.« Am Ende kommt er auf eine Summe von über 70.000 Dollar im Jahr (etwa 63.000 Euro).“ (Berliner-Zeitung.de)

Würde man diese Rechnung auf alle Frauen der Welt übertragen, hochgerechnet auf 6000 Jahre männlicher „Hochkultur“ – die ein Niedergang in allen Dingen der Menschlichkeit bedeutete –, käme man auf astronomische Summen. Nicht die Männer, die Frauen wären die Besitzgigantinnen der Welt.

Der Kapitalismus beruht auf der hemmungslosen und dreisten Ausraubung des weiblichen Geschlechts auf offener Weltbühne – ohne die geringsten Skrupel der männlichen Blutsauger. Zum Dank für die Ergebenheit der Frauen, sich von ihren Männern ausrauben und demütigen zu lassen, unternehmen die männlichen Techniker alles, um Frauen und Kinder per Brutmaschinen für immer überflüssig zu machen. Alles, was sie erfinden wollen, sind Maschinen, die das weibliche Geschlecht als das „Alte“ darstellen, das sie mit ihrem messianischen „Neuen“ ausradieren wollen. So gigantisch muss das Gefühl ihrer Unterlegenheit sein, dass sie sich eine Zukunft auf Erden nur ohne natürliche Geburts-und Erziehungsfähigkeiten der Frauen vorstellen können. 

Zwischen zwei Gedichten kam das Verhängnis. Das erste stammt von Tennyson:

„Blume in einer rissigen Mauer,

Ich pflücke dich aus den Rissen,

ich halte dich samt der Wurzel in meiner Hand,

Kleine Blume – und wenn ich dich verstehen könnte,

Was du bist, mit allen Wurzeln, Blättern und Blüten, ganz,

Wüsste ich, was Gott und was der Mensch ist.“

Das Erkennen von Gott und Mensch setzt das Zerstören der Natur voraus. Die Pflanze ist – das Weib, das der Mann aus dem mütterlichen Boden reißen muss, um das Geheimnis der Schöpfung zu erfassen. Ohne Zerstörung kann der gottähnliche Mann sich nicht verstehen.

Goethes Gedicht „Gefunden“ scheint die Naturfeindschaft des Mannes zu vermeiden:

„Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus.
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.“

Goethe reißt weder raus noch zerstört er das Blümchen. Er verpflanzt es in den Garten am hübschen Haus. Dort steht es zu seiner Verfügung. Nach Belieben kann er sich an ihm delektieren. Zwar ist die Blume nicht zerstört, aber entwurzelt und dem Machtbereich des Mannes untergeordnet. Auch bei Naturfreund Goethe muss Natur dem Mann zur Verfügung stehen. Das Natürliche und Weibliche hat kein Recht, zu existieren, wie es will. Auch bei dem Olympier hat die Frau sich dem Mann unterzuordnen.

Dass Goethe das männliche Prinzip des Rechts zur Übermächtigung – auch Vergewaltigung genannt – der Frau verteidigt, wenn auch mit poetischen Metaphern, zeigt sein Gedicht „Heidenröslein“:

Sah ein Knab ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell, es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Knabe sprach: „Ich breche dich,
Röslein auf der Heiden.“
Röslein sprach: „Ich steche dich,
Dass du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.“
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.

Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Musst es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein rot,
Röslein auf der Heiden.“

Du musst es eben leiden: mit emotionsloser Rohigkeit verurteilte der gottähnliche Mann das Mädchen zu seinem Sexualobjekt. Das rote Röslein war rot vor Blut. Der zarte Poet hatte es bedenkenlos vergewaltigt. Eben dies ist die Kennzeichnung des Kapitalismus: bedenkenlos vergewaltigt er Mensch und Natur. Vor allem Schwache, Kinder und Frauen.

Ist der Kapitalismus ein ökonomischer Machiavellismus? Der Italiener hatte als erster Abendländer die amoralischen Grundsätze einer machtbewussten Obrigkeit formuliert:

„Ein Herrscher müsse, um die elementaren Notwendigkeiten des Staates zu erfüllen, „die Gesetze der traditionellen Moral verletzen“, sonst gehe er mit dem Staat zusammen unter. Für einen Herrscher sei es demnach gleichgültig, ob er als gut oder als böse gilt, wichtig sei nur der Erfolg, der voraussetzt, vom Volk nicht gehasst zu werden und folgende drei Gebote zu beachten: „Du sollst dich nicht an den Gütern deiner Untertanen gütlich tun; du sollst dich nicht an ihren Frauen vergreifen; du sollst nicht einfach aus Spaß töten.“ (Volker Reinhardt, Wiki)

Verglichen mit dem modernen Kapitalismus war der historische Machiavell ein Waisenknabe. Kapitalisten vergreifen sich an allen Gütern, derer sie habhaft werden können. Sie vergreifen sich an allen Frauen, die sie zu kostenlosen Dienerinnen ihrer Patriarchenherrschaft erniedrigen. Sie töten nicht aus Spaß, es ist schlimmer: mitleidlos lassen sie die Schwächsten verrecken, weil sie glauben, ein ehernes Gesetz der Geschichte an ihnen vollstrecken zu müssen. Geifernder Amoralismus ist das gute Gewissen der Meister des Universums.

 

Fortsetzung folgt.