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Europäische Idee LXXXVII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXXVII,

wir schaffen das. Was? Dass in den ersten Monaten dieses Jahres 3034 Menschen, Flüchtlinge genannt, im Meer ertranken.

„Die spanische Küstenstadt Barcelona hat eine digitale Anzeigetafel in Betrieb genommen, die die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge zählt. Dies sei eine „Anzeigetafel der Schande“, sagte Bürgermeisterin Ada Colau bei der Einweihung. Das ist nicht bloß eine Zahl. Das sind Menschen.“ Und weiter unten: „Wir kennen weder ihre Namen noch ihre persönlichen Geschichten. Aber wir wissen, wie viele es sind.“ (SPIEGEL.de)

Wir schaffen das. Was? Die Schuld des Westens am Flüchtlingselend auszublenden und unsere samaritanischen Augenblicks-Erregungen als grandiose Nächstenliebe, überschwängliche Mitmenschlichkeit, unverletzbare Menschenwürde, Ausbund der Humanität und deutsche Sonderweg-Supermoral in die Welt zu posaunen. So sind wir porentief gereinigt und können der besten Wirtschaft, dem sattesten Wohlstand – das exzellenteste gute Gewissen hinzufügen. Bill Gates ist der Reichste, Freigebigste und Beste. Doch Deutschland ist mehr als Einer: wir sind eine kollektive Bill-Gates-Nation.

»Auch wenn wir noch nicht genau wissen, wie der Täter radikalisiert wurde, ist es sehr wichtig, dass wir diesen Radikalisierungsprozess aufdecken und verstehen.« Nur dann könne ein Staat dagegen vorgehen und weitere Gewalttaten verhindern. Mittlerweile sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die meisten aus Syrien. Die traurige Wahrheit sei, dass die syrische Flüchtlingskrise, die größte seit dem Zweiten Weltkrieg, keineswegs überraschend kam, schreibt Frances Townsend in einer Analyse für „Foreign Policy“: »Die Welt blieb still, als die Welle der Verzweifelten, die vor dem Konflikt flohen, unsere Partner in der Region, Libanon und Jordanien, überwältigte«, sagt Townsend. Erst als die Flüchtlinge an den Grenzen Europas ankamen, nahm der Rest der Welt Notiz. »Die Flüchtlinge sind verzweifelt. Sie sind

geflohen, weil sie kein Teil von ISIS, kein Teil von extremistischen Gruppen sein wollen, aber der Westen lässt sie im Stich«, sagt Townsend. Es sei bedauerlich, dass die Welt zusammenkam, um einen Atom-Deal mit dem Iran auszuhandeln, aber es nicht schafft, gemeinsam Verantwortung in der Flüchtlingskrise zu übernehmen.“ (BILD.de)

Spricht Frances Townsend, die Ex-Sicherheitsberaterin von Dabbelju Bush, der den missionarischen Halleluja-Krieg gegen den Irak begann, die Auslösesituation des heutigen Elends. Ist hier jemand aus dem Kreis der Urtäter klug geworden?

Wir schaffen das. Was? Uns mitten im Meer der Tränen als die Heiligen und Unberührbaren der Welt darzustellen.

Wir schaffen das, weil wir das geheime Elixier kennen. Den heiligen Gral. Das Tröstungsmittel. Die Qualen germanischer Helden werden durch die Liebe einer reinen Frau, einer mütterlichen Seele, geheilt.

Holländer:

Wohl hub auch ich voll Sehnsucht meine Blicke
aus tiefer Nacht empor zu einem Weib:
ein schlagend‘ Herz liess, ach! mir Satans Tücke,
dass eingedenk ich meiner Qualen bleib‘.
Die düstre Glut, die hier ich fühle brennen,
sollt‘ ich Unseliger sie Liebe nennen?
Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil:
würd es durch solchen Engel mir zuteil!“

Senta:
Wohl kenn‘ ich Weibes heil’ge Pflichten.
sei drum getrost, unsel’ger Mann!
Lass über die das Schicksal richten,
die seinem Spruche trotzen kann!
In meines Herzens höchster Reine
kenn‘ ich der Treue Hochgebot.
Wem ich sie weih‘, schenk‘ ich die eine;
die Treue bis zum Tod.

Von mächt’gem Zauber überwunden
reisst mich’s zu seiner Rettung fort
.
hier habe Heimat er gefunden,
hier ruh‘ sein Schiff in sich’rem Port!“ (Wagner, Der fliegende Holländer)

Nach langen Irrfahrten auf den Meeresfluten drängt es den gepeinigten Helden zurück in die Heimat, den sicheren Port seines Heils. Er nannte es Liebe, doch seine Liebe war Sehnsucht nach dem Heil. Irdische Liebe ist für den romantischen Helden ein bloßer Durchgang, eine Zwischenpforte, die über sich hinaus führt – zum irreversiblen Heil. In der blauen Blume sieht er das Bildnis der Geliebten, der irdischen und überirdischen Mutter. Belladonna, schwarze Tollkirsche der schnöden Realität, weist über sich hinaus zur schneeweißen Madonna, der Urmutter aller ewig unruhigen und getriebenen nordischen Helden.

„Wie der Vater das kollektive Bewusstsein, den traditionellen Geist repräsentiert, so die Mutter das kollektive Unbewusste, die Quelle des Lebenswassers.“ (C. G. Jung)

Im Mittelalter gibt es Abbildungen des mütterlichen Lebensbrunnens als „fons mercurialis“. Klingt das nicht wie „Quelle Merkels“? Merkels Kinderlosigkeit gilt sehnsüchtigen deutschen Helden als Pendant zur Jungfräulichkeit. Wer nicht von eigenen Kindern in Beschlag genommen wird, kann ein irrendes Volk als Kinderschar unter seine Fittiche nehmen. „Kirchenväter bestanden darauf, dass sich die Mutter des messianischen Helden nie in ihrem Leben auf Geschlechtsverkehr eingelassen hätte, obwohl in der Bibel eindeutig von Brüdern und Schwestern Jesu die Rede ist.“ (G. G. Coulton)

Gab es nicht in grauer Vorzeit einen alldeutschen Helden, der sich in Wagners Rienzi erkannte und, wie sein römisches Vorbild, die Welt erlösen wollte? Und wäre sie nicht willig, so bräuchte er Gewalt?

Merkel muss nicht mehr nach Bayreuth pilgern, um ihre Träume auf der Bühne zu erleben. Bayreuth kommt nach Berlin. Man könnte auch von Oberammergauer Festspielen in Preußen sprechen. Der heilige Gral, der wunderkräftige Kelch, das Symbol mütterlichen Heils, ist in Berlin niedergekommen. In einer schmucklosen Pressekonferenz wurde die innere Unrast, das überbordende Unheil der Republik vom mütterlichen Kelch zur Ruhe gebracht.

„Dieses wunderkräftige und heilige Gefäß, das ewige Lebenskraft spendet, ist umgeben von einer Gemeinschaft, die unter einem Mangel leidet. Dieser drückt sich in verschiedenen Bildern aus: dem Siechtum des Königs, der Unfruchtbarkeit des Reiches (Motiv des ‚Öden Lands‘), der Sterilität der Gralsgemeinschaft.“

Die Gemeinschaft liegt darnieder, die königlichen Männer sind alle dahin, die sterile Gralsgemeinschaft ist die verschnittene Politikerkaste, die nicht mehr fähig ist, die öffentlichen Dinge zu regulieren. Deutschland ist das „öde Land“, das gerettet werden muss. Schon sehen wir sie, die vielen Verkörperungen des Parzival: die edlen Schreiber der Nation, die den Segen der Mutter benötigen, um das rasende Volk zu besänftigen und zur gewohnten Arbeit anzuhalten.

„Dieser Held, Parzival, in dem sich größter Heldenmut und Reinheit vereinen, wächst abseits der Welt auf. Ihm fehlt der Sinn für die Wirklichkeit, weshalb er auch „tumber Tor“ oder „großer Narr“ genannt wird. Der Held verlässt sein behütetes Zuhause und wünscht sich, der bedeutendste Ritter seiner Zeit zu werden.“

Deutschland, das zurückgebliebene Land, hat Schwierigkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden. Noch immer ist seine rheinische Marktwirtschaft das ersehnte behütete Gehäuse einer romantischen Vergangenheit, in dem man sich sicher fühlen konnte vor den Machenschaften einer mammonistischen Welt. Doch ach, diese Vergangenheit wird nie wiederkehren, und sollten die Deutschen noch so sehr Marx beschwören und den Kapitalismus zum Teufel wünschen.

Die reinen Toren saßen andächtig vor Muttern, um ihrer Botschaft zu lauschen und dem Volk zu vermitteln: noch lebt Sie. Sie sieht eure gequälten Herzen und lässt euch mitteilen: die Titanic wird nicht untergehen. Muttern hat alles im Griff. Kühl und besonnen, ruhig und gefasst, ungeschwätzig und gelassen erläutert sie das Notwendige. Innerlich mit sich im Reinen, verbreitet sie eine wunderbare Friedfertigkeit, die sich uns unmittelbar mitteilte und die wir nun an euch, die Endmoränen der Gesellschaft, weitergeben.

Das ist das Geheimnis des „trickle down“ einer gottesfürchtigen Nation. Wenn der Segen von Oben kommt, steigt der kollektive Wahn aller Schafherden.

Doch Schluss jetzt mit alchimistischen Alfanzereien, zurück in die entzauberte Realität.

Den reinen Toren könnte man bescheinigen, dass sie den Verstand verloren haben. Die Kanzlerin konnte sich widersprechen und leere Formeln daher leiern, wie sie wollte: kein Protest auf den billigen Plätzen. Als sie hörten, was sie hören wollten, war Muttern wieder die Allergrößte. Eine Prüfung der bestellten Worte fiel aus. Es klang, es schien, es sah so aus, es hörte sich an. Hierzulande entscheidet die Dekoration, die Form, die Inszenierung. Inhalte sind Schall und Rauch.

Während jenseits des Teiches sich eine Dame ganz in Weiß anschickte, den Dämon zu besiegen und den Thron der Weltmacht für das ehrbare Amerika zu erobern, begnügte sich die Kanzlerin mit einem demütigen lilablassblauen Blazer. Alles, was sie tat, war unspontan und einstudiert. Alles zielte auf Effekt: das Lächeln, die Stimme, das Tempo der Rede, die von den Medien erwünschten Trostformeln, die atemlosen Fragen, die nicht nachfragen durften. Im Schweinsgalopp durch alle Themen des Jahres.

Bereits vorher konnte man in den Gazetten lesen, was sie sagen würde und müsste und – und prompt sagte sie es. Kühle Mütter haben ehrgeizige Söhne. Die Medien hatten das Drehbuch festgelegt, Muttern konnte den Text auswendig. Es war die Gruppendynamik einer ehrgeizigen Familie, deren Karriere ins Straucheln gekommen war. Unruhe hatte die vaterlose Kinderschar erfasst. Wo bleibt Muttern, warum redet sie nicht mehr mit uns? Liebt sie uns nicht mehr, wird sie uns verlassen? Ach Mütterlein …:

„… könnt‘ es nochmal so wie früher sein
als du mich mit deiner lieben Hand geführt durchs Kinderland.
Tag für Tag
Nacht für Nacht hat dein gutes Auge mich bewahrt
alles Böse hieltst du fern von mir und dafür dank ich dir.
Quälten dich auch Not und Sorgen
du trugst sie bei dir.

Glücklich war ich und geborgen
denn du warst ja bei mir.“

Gute Mütter machen alles mit sich selbst ab. Sie belasten niemanden mit ihren Sorgen. Also reden sie nicht viel. Aufstrebende Kinder wollen, dass sie wortlos funktioniert.

Stopp! Sagte ich nicht: Schluss mit dem unsachlichen Gewäsch? Deutsche haben kein irrationales Unbewusstes, weder ein mythologisches noch ein psychisches. Sollen sie sich von rationalen Tätern mit abgefeimten, bewussten und gewollten Zwecken übertrumpfen lassen? Deutsche wissen genau, was sie wollen. Und was sie wollen, das führen sie aus. Ganz wie ihre Mutter, die immer nach bestem Wissen und Gewissen handelt, nie Fehler macht, keine Frage präzis beantwortet, alles zu seiner Zeit und nie zur Unzeit erledigt. Alles hat seine Zeit und alles tut sie zur rechten Zeit.

Merkel spricht mitten in Deutschland eine Fremdsprache – die nur klingt, als wäre sie deutsch. Und doch ist sie biblisch. Deutsche können alle Sprachen der Welt, nur nicht biblisch. Und doch ist ihnen das Biblische als Sprache der Kindheit irgendwie vertraut. Es flösst Urvertrauen ein, wenn Obrigkeiten die Sprache des Herrn sprechen.

Natürliches richtet sich nach der Zeit der Natur, im Winter können keine Birnen reifen. Alles andere richtet sich nach der Willkürzeit des Herrn. Krieg und Frieden, Lieben und Hassen, menschliche Bedürfnisse und Wünsche, politisches Tun und Lassen – alles zu Seiner Zeit. Und Merkel bestimmt über die rechte Zeit, sie hat ein Ohr für die Weisungen des Himmels. Für die johlende Meute sind das geistliche Geheimnisse, die man ihnen vorenthalten muss. Merkel rechtfertigt sich nicht vor dem gottlosen Pöbel. Sie rechtfertigt sich allein vor der heiligen Zeit, dem Kairos. Und wenn die rechte Zeit gekommen sein wird, wird sie es den Dreisten und Frechen auf der Straße und in den Schreibstuben mitteilen. Kurz und knapp.

Ihre Antwortformulare enthalten folgende Formeln: ich habe gearbeitet und werde weiterhin arbeiten; ich habe alles nach bestem Wissen und Gewissen erledigt. Für Unsinn habe ich keine Zeit. Das ist nicht mein Stil. Das ist nicht meine Herangehensweise. Für Emotionen habe ich keine Zeit. Ich bin nicht unterfordert. Ich unternehme alles Menschenmögliche.

Was ihr nicht möglich ist, muss jedem Menschen unmöglich sein. Also ist sie das Maß des Menschenmöglichen. Fehler? Siehe unter Wissen und Gewissen. Was zu tun ist, werden wir tun – wenn die Zeit gekommen ist. Alles in sonorem Ton. Am Anfang und am Ende ein bezauberndes Lächeln. Sollte sie nervös sein, sieht man es nur an ihren Augen, doch Edelschreiber sehen keine Augen, sie wollen eine souveräne Mutter und die haben sie wieder gesehen.

Ein Schreiber schrieb – ohne Ironie – vom soliden Gottvertrauen. Gottvertrauen ist eine notwendige Fähigkeit demokratischer Politiker, denn keine Demokratie lebt aus sich selbst. Ohne Gott keine solide Volksherrschaft. Vor allem hat Merkel ihre Formel wiederholt: wir schaffen das. Gottlob, sie steht zu ihrer Politik, sie bleibt sich treu, sie wankt und weicht nicht. Ist sie nicht eine körnige, handfeste Lutheranerin? Und wenn die Welt voll Teufel wär – eine Magd Gottes forcht sich nit, geht ihres Weges Schritt für Schritt.

Die Medien, außer Rand und Band, sind nicht fähig, die Kanzlerin auf ihre eklatanten Widersprüche aufmerksam zu machen. Behauptet sie, sie habe ihre Meinung nicht verändert, behaupten die Medien, Merkel habe ihre Meinung nicht verändert. Geht’s noch trostloser? Sie wollen gar keine Ungereimtheiten aufdecken. Sie wollen belogen werden und Merkel ist so nett, ihrem Wunsch nachzukommen.

Sie habe beim ersten Mal nicht behauptet, es werde ein Zuckerlecken. Kann man aus Nichtgesagtem folgern, was sie gemeint haben könnte? Hat sie im folgenden Jahr ein einziges Mal ernsthaft über Probleme gesprochen? Ist sie ein einziges Mal auf die psychologischen und religiösen Kollisionen eingegangen? Solche Peanuts interessieren sie nicht. Sie spricht – und also geschehe Ihr Wille.

Wie kann sie behaupten, sie habe ihre Meinung nicht verändert, wenn sie heute just das Gegenteil sagt und tut? „Es sei „ausgeschlossen“, dass sich ein Jahr 2015 „auf diese Weise“ wiederholen werde, sagte sie in der Pressekonferenz, in der sie am Donnerstag auf die Anschläge reagierte, die sich in Würzburg, München und Ansbach ereignet hatten.“ (FAZ.NET)

Die geleugneten Obergrenzen hat sie dem Nullpunkt angenähert, die Außengrenzen wurden martialisch gesichert, kaum ein Mensch schafft es noch nach Mitteleuropa, weder über Wasser noch über Land. Den Notleidenden in den Kriegsgebieten wird noch immer nicht ausreichend geholfen. Auf die etwaigen Gründe der Attentäter – Religion? defekte Psyche? – geht sie mit keinem Wörtchen ein.

Ist sie cool, wie früher Männer eingeschätzt wurden? Sind die Männer – wie Seehofer – inzwischen zu lamentierenden Heulsusen geworden? Haben sich die Rollenklischees inzwischen auf den Kopf gestellt? Will sie – wie einst markige Wildwesthelden – mit Wortkargheit Souveränität vorgaukeln?

Oder sollte sie etwa – psst, nicht weitersagen – von all diesen Dingen wenig bis nichts verstehen? Ist sie nicht rationale Physikerin, die traditionsgemäß die Geisteswissenschaften als Schwätzerwissenschaften verachtet? Ist sie objektiv, weil ihre subjektive „Innenmöblierung“ zu karg ausgefallen ist? Hat sie ein einziges Wörtchen des Bedauerns über die Ertrunkenen fallen lassen? Hat sie ein einziges Wörtchen über die Ursachen der Katastrophe geäußert, wie Frances Townsend sie vorgelegt hat?

Typisch, dass BILD ihren Merkel-Bewunderungs-Kommentar weit entfernt von dem Townsend-Artikel platzierte. Sonst käme noch jemand auf die Idee, zu fragen, warum Merkels Hausgazette die Kanzlerin nicht mit der Kritik der Amerikanerin behelligte.

Fast alle Merkel-Bewunderer sind Männer. Die Merkelsekte lässt ihre Heilige nicht im Regen stehen. Sie kann sagen, was sie will: alles ist durchdacht, entspannend und wohltuend. Um ihre angeblich übertriebene Willkommenskultur zu relativieren – oder gar, um AfD-Wähler zurückzugewinnen – dämonisiert sie die Täter zu Bösewichtern mit teuflischem Bewusstsein. Schließlich befinden wir uns im Land christlicher Werte – und dazu zählt der Glaube an das unerklärliche Böse. Die schlimmen Taten bewertet sie als „zivilisatorischen Tabubruch“. Tabubruch?

„Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk bzw. einer kulturell überformten Übereinkunft, die bestimmte Verhaltensweisen auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Tabus sind unhinterfragt, strikt, bedingungslos.“

Ein Tabu ist keine Moral. Oder ist Moral für Merkel ein stillschweigend vorgeschriebenes Regelwerk, unhinterfragbar und der öffentlichen Debatte entzogen? Muss in einer Demokratie nicht alles befragt und kontrovers diskutiert werden können? Ist Moral eine Norm Gottes, dessen Gebote wortlos befolgt werden müssen? Oder noch immer sozialistische Pflicht, die vom unfehlbaren Staat angeordnet wird – und niemand darf sie anzweifeln? „Die Taten seien »erschütternd, bedrückend und auch deprimierend.«“ (SPIEGEL.de)

Das klingt, als habe Merkel nur vorbildliche Menschen erwartet. Ist es denn so ungewöhnlich, dass es unter vielen Menschen auch Neurotiker und Verbrecher geben kann? Wie hoch ist die Verbrecherquote unter Deutschen? Ist sie unter den Fremden signifikant höher? Was also soll erschütternd und bedrückend sein, wenn man realistische Vorstellungen hatte? Lebt Merkel in einem Wolkenkuckucksheim – oder spielt sie nur die Empörte für die Galerie?

„An die Adresse der Angreifer gewandt sagte Merkel, die Täter „verhöhnen das Land, das sie aufgenommen hat“. Sie verhöhnten aber auch alle Flüchtlingshelfer und die vielen rechtschaffenen Flüchtlinge.“

Das grenzt schon an Schwachsinn. Zum Verhöhnen gehören immer zwei: einer, der verhöhnt und einer, der sich verhöhnen lässt. Sind verbrecherische Taten die Folgen eines bewussten und freien Willens? Können emotional verstrickte Täter überhaupt „rationale Zwecke“ verfolgen? Sind sie kühle Teleologen oder Getriebene, die nicht wissen, was sie tun? Wenn schon Merkel nichts von Sokrates hörte, kennt sie nicht das Wort ihres Heilands: vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun?

Wenn Sahra Wagenknecht eine triviale Kritik an Merkels großspurigem Liebesgetue äußert, wird sie von allen Medien versenkt. Sie fische am rechten Rand. Was tut Merkel? Sie fischt von links nach rechts und zurück. Dem Publikum verspricht sie das Blaue vom Himmel – und niemand schilt sie als Populistin.

Um zu zeigen, dass sie konkret werden kann, legt sie einen alten Neun-Punkte-Plan vor – der von keinem Edelschreiber wahrgenommen wurde. Da gibt es zwei delikate Punkte, die im Tumult der Ereignisse unbemerkt Realität werden sollen. Obgleich sie noch vor kurzem für Empörung sorgten:

„Gemeinsame Übungen von Polizei und Bundeswehr für den Anti-Terror-Fall.

„Eine intensivere Zusammenarbeit mit befreundeten Geheimdiensten.“

War der Einsatz der Bundeswehr im Inland kein Tabu? War die Zusammenarbeit mit befreundeten Geheimdiensten nach der Handy-Affäre Merkels keine Zumutung? Aus den Augen, aus dem Sinn.

Kommen Angst und Schrecken übers Land, werden alle liberalen Prinzipien über Bord geworfen. Not gebeut. Willkommen, Not, du beste Helferin der Obrigkeit. Die Not hat den ganzen Planeten ergriffen. Der Papst hat der Welt bereits den halben Totenschein ausgestellt. Die Welt habe den Frieden verloren. Bleibt nur der heilige Krieg, der ihn wieder herstellen kann.

Die Kanzlerin kennt keine Angst. Angst sei keine gute Ratgeberin. Sagt eine Angstexpertin? Sonst legt die Nation gesteigerten Wert auf ihre german angst. Wer nicht die existentielle Angst der Gesellschaft beachte, sei kein seriöser Politiker.

Doch Angst ist ein Frühwarnsystem, behaupten Seelenforscher. Ohne Angst seien wir verloren, weil uns niemand vor Gefahren warnen würde. Auf solche windigen Innereien legt die physikalische Hardlinerin keinen Wert. Welche Schwierigkeiten es auch immer geben kann: Merkel weiß, dass ihre Deutschen sie bewältigen werden. Hart wie Kruppstahl, angstfrei wie Maschinen.

Und was wollen die Täter aus dem Abgrund der Hölle?

„Es sei das Ziel der Terroristen, »unsere Art zu leben zu zersetzen. Sie säen Hass und Angst zwischen den Kulturen und sie säen Hass und Angst zwischen den Religionen«.“

Wenn es verschwindend wenigen Tätern gelänge, das Leben einer riesigen Gesellschaft zu zersetzen, müsste die ganze Gesellschaft aus labilen Charakterkrüppeln bestehen. Wenn die Gesellschaft die Flüchtlinge willkommen hieß, muss ihr bewusst gewesen sein, dass es unter ihnen „Unangepasste und seelisch Deformierte mit verbrecherischem Potential“ geben könnte. Alles andere wäre ein Wunder. Sind die Deutschen so weltfremd, wie sie von ihrer Kanzlerin vorgeführt werden?

Den Krieg der Religionen gibt es seit Jahrhunderten. Der muss von Einzelnen nicht erfunden werden. Momentan schließen die Frommen aller drei Religionen Zweckbündnisse, um das allgemeine Recht durch religiöse Sonderrechte auszuhöhlen. Erst jüngst wollte eine christlich-jüdisch-muslimische Koalition in Schleswig-Holstein den Gott in die Verfassung schmuggeln. Vergeblich. Sind sie gerade machtlos, tun sie, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Kaum erstarken sie, lassen sie ihre göttlichen Muskeln spielen. Sonderrechte, die allgemeine Gesetze missachten, nennen sie Religionsfreiheit, damit sie sich als Märtyrer aufspielen können, wenn ihre Privilegien nicht Gesetzeskraft erhalten.

Merkels Unterbrechung ihres Urlaubs, ihr Verzicht auf Bayreuth, ihre unfehlbaren Hohlformeln, waren ein voller Erfolg. Merkel beruhigt, Merkel tröstet, Merkel nimmt der beunruhigten Gesellschaft die Angst. Wann wird sie Deutschland in eine Theokratie verwandeln? Das werde sie „zum geeigneten Zeitpunkt“ sagen. „Heute ist dieser Zeitpunkt nicht.“

Die TAZ gibt zu bedenken, eine politische Führerin hätte nicht die Aufgabe, die emotionalen Konflikte der Bevölkerung zu therapieren. Auf dem Papier nicht. Demokratien aber sind keine papierenen Angelegenheiten. Solange Staaten noch keine Riesenroboter sind, werden ihre BürgerInnen sie als großfamiliäre Gebilde empfinden. Es sind mediale Muttersöhnchen, die die Kanzlerin zur Mutter der Nation ernannten und nun Beruhigung und Trost von ihr fordern. Die Kanzlerin und ihre Untertanen sind zur religiösen Symbiose verschmolzen. Merkel ist zum Opium der Deutschen geworden.

„Merkel ist der Seufzer der bedrängten deutschen Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Verabschiedung Merkels als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik an Merkel ist also im Keim die Kritik am deutschen Jammertal, dessen Heiligenschein die Madonna ist.“

 

Fortsetzung folgt.