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Europäische Idee LXXXIII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXXIII,

nichts geschieht, was nicht im Verborgenen existiert hätte. Das manifeste Elend der westlichen Welt ist das unterirdische, verfaulte Erbe der westlichen Welt. Es gibt nichts Neues unter der Sonne – außer Unsterblichkeitsmaschinen. Und auch die müssen erst erfunden werden. Noch muss Mann an sie glauben, wie Mann bislang ans ewige Leben glaubte. Beim Glauben wird es bleiben – und also gibt es nichts Neues unter der Sonne.

„Was geschehen ist, wird wieder geschehen, / was man getan hat, wird man wieder tun: / Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“

„Siehe, ich mache alles neu.“

Heilige Schriften sind Zauberkästen. Wünsch dir was und es wird dir versprochen. Wünsch dir das Gegenteil – kein Problem, Gott spottet aller Widersprüche: es wird dir versprochen.

Glaube an deine Träume – aber wehe, du glaubst an eine politische Utopie oder an die Lernfähigkeit der Gattung. Der Akzent liegt auf „deinen Träumen“ – nicht auf euren gemeinsamen Zielen. Utopie muss solistisch, apolitisch und egoistisch sein, dann ist sie willkommen. Das Idiotische ist das Ferment der gnadenreichen Zufallsgesellschaft oder des überkomplexen und unberechenbaren Lotterie-Marktes.

Wir leben im Zeitalter der Vernunft: der guillotinierten, verstümmelten und verscharrten. Gebildete – die es nur noch auf der Insel der Gentlemen gibt – sprechen von Gegenaufklärung. Im Land der vermoderten Denker und Dichter ist der Begriff verschollen. (Wetten, dass er nicht mal im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ zu finden ist?)

Der Unterschied zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung ist hiesigen Bildungseliten Jacke wie Hose. Wenn schon Vernunft totalitär sein soll, was soll

erst der Feind der Vernunft sein?

Wenn Erdogan täglich totalitärer wird – wie der famose Ex-General Kujat als Einziger bei Anne Will zu äußern wagte –, muss er wohl sein Land in ein Reich der Vernunft säubern.

Thomas Schmid hat in der WELT eine neue Despotieart erfunden: die „präsidial gesteuerte Mobbokratie“. Mit solch neckischen Fahrlässigkeiten kann man die präzisen Begriffe im Schrank lassen – um Mutterns Feigheit vor dem Tyrannen nicht noch mehr zu entlarven. Wie klänge es, wenn man die Kanzlerin zur Kollaborateurin eines Faschisten ernennen würde?

Die allseits verlässliche Mutter der Nation hat den Tyrannen zu ihrem privaten Telefonpartner erkoren. Was sie ihm ins Ohr flüstert, geht den neugierigen Pöbel nichts an. Obszöne Geheimdiplomatie im gleißenden Licht aller Scheinwerfer: das ist die Meisterleistung der hohen Frau. „Vertrauliche Gespräche“, in denen sie vom herrischen Sultan düpiert wird, wagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, „konstruktiv“ zu nennen.

Und Deutschland atmet auf. Die fromme Dame muss ihr Land nicht säubern, sie hat es längst in tiefen Schlummer versenkt. Einen Freifahrtschein hat sie sich ersungen, nun kann sie machen, was sie will. Kollege Erdogan wird vor Neid platzen. Was er mit Muskeln und Kanonen – sehr zum Missfallen des Auslands – leisten muss, schafft Angela mit gleichmäßig sanfter Mutterstimme. Und willfährige Journalisten ernennen sie zur mächtigsten Frau der Welt.

Solches motiviert die ruhmsüchtigen Deutschen, die auf Muttern nicht wenig stolz sind, die Ökonomie des Landes noch mehr zu befeuern. Man sollte nicht länger von motiviert sprechen, sondern von mutti-viert. Nach langem Ringen und Mühen hat die deutsche Republik ihren muttivierten Reifegrad erreicht.

Doch Mutti ist nicht allein. Der fromme Ossi-Adel hat sich längst für die Einverleibung seines christlichen Sozialismus gerächt – und den westlichen Sauladen übernommen, um ihn gründlich gesund zu beten. Zu Pastor Gaucks Freiheitsfanfare gehört die Freiheit des Volkes, seine Meinung zu äußern, aber nicht die Freiheit, diese in eine Entscheidung zu verwandeln.

Für komplexe Fragen ist der Pöbel zu beschränkt. Jene können nur von hochdifferenzierten Eliten gelöst werden, die abgeklärt (dem Gegenteil von aufgeklärt) wissen, dass sie das Hochkomplexe ihrem himmlischen Vater zu überlassen haben. Der Redaktion liegt ein geheimes Memorandum der Komplex-Eliten als Entwurf ihres futurischen Programms vor.

„Unverständige Massen, hört. Eure Verstocktheit erst hat die Probleme der komplexen Moderne unlösbar gemacht. Ihr aber träumt unverdrossen den Traum der eitlen Vernunft, die euch vorgaukelt, unser aller Schicksal sei machbar, Herr Nachbar. Dem ist nicht so, sagen wir euch in aller Demut unserer von Oben erleuchteten Weisheit. In Vollmacht teilen wir euch mit: es ist aussichtslos. Lasst fahren dahin alle Trugbilder einer autonomen Menschheit. Werft alle Hoffnung auf uns, wir versprechen euch Nichts. Wir appellieren an euch: Wählt uns. Wir sind die Einzigen, die euch versichern können: das geschichtsmächtige Wurschteln geht unbeirrbar seinen Gang. Wenn‘s sein muss, bis zum bitteren Ende. Und es muss sein. Lasset uns niederknien und preisen die frohe Nachricht der Heilsgeschichte, die höher ist denn alle Vernunft.“

Passend dazu Gaucks aktuelles Statement:

„Es gebe eine ganze Reihe von Themen wie etwa Sicherheit, Steuern und Währungspolitik, „bei denen einfache Antworten wie Ja oder Nein nicht ausreichen“, sagte er. „Oft müssen schwierige Kompromisse gefunden werden, die mit Volksentscheiden nicht möglich sind. Auf kommunaler und Landesebene würden Volksentscheide häufig genutzt, fügte der Bundespräsident an. „Auf Bundesebene allerdings ist unsere repräsentative Demokratie die beste Antwort auf die komplizierten Probleme unserer Zeit.“ (ZEIT.de)

Was hat die Politik des Ewiggleichen und Verfluchten mit dem Neuen zu tun?

Das Ewiggleiche ist der Zyklus der Heiden, die keine lineare Geschichte kennen. Das Neue ist die Dauer-Intervention von Oben, um den Fluch zu überwinden und das Himmelreich auf Erden zu schaffen.

Francis Bacons messianische Naturwissenschaft sollte die Erbsünde tilgen und die erlöste Menschheit zurück ins Paradies bringen. Das Zurück war gleichzeitig ein Vorwärts in die erlöste Zukunft. Nur gläubige Wissenschaftler konnten eine erlöste Wissenschaft kreieren.

Die Wissenschaft, Erfindung naturverehrender Griechen, wurde im Mittelalter zur Beute der Christen, die sie einst als verdorbene Heidenfrucht abgelehnt hatten. Das Abendland wurde zur Folie à deux, einer krankhaften Kopulation zweier unvereinbarer Elemente, die sich innerlich bekämpfen und mit Gewalt zusammengehalten wurden. Die meisten abendländischen Phänomene sind verkrüppelte Bastarde einer fortwährenden Vergewaltigung unvereinbarer Elemente.

Der junge Hegel stand in jugendlichem Aufbegehren auf der Seite der Heiden gegen die Weltfeindschaft des Christentums. Doch dann siegte die Stimme seines schwäbischen Glaubens und er gedachte, die Erzfeinde durch die Kunst der Dialektik miteinander zu versöhnen. Im Verlauf der Geschichte: ewiger Streit auf allen Ebenen mit zwischenzeitlichen Teil-Versöhnungen, am Ende, nach stufenmäßiger Aufwärtsbewegung, die endgültige Auflösung aller Rätsel. Alle Widersprüche hätten sich aneinander abgearbeitet und wären zur endgültigen Harmonie gekommen. Ort der finalen Versöhnung wird Berlin sein, die Hauptstadt des wichtigsten Volkes der Weltgeschichte. Oberpriester der Versöhnung: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sohn eines Rentkammersekretärs in Stuttgart, ein Professor, der sein Publikum mit schwerfälliger schwäbischer Zunge und phantastisch anmutenden Erkenntnissen in den Bann schlug.

Kleinere Probleme und Ungereimtheiten gab es noch im germanischen Endreich, doch das sollte niemanden mehr bekümmern. Wenn göttliche Ideen mit der Realität zusammenprallen, umso schlimmer für die Realität: sie wird sich jenen beugen müssen. Hegel wollte nicht parteiisch sein, weder einseitig für die Vernunft der Griechen einstehen noch für die göttliche Vernunft, die sich am Ende aller Dinge mit menschlicher Vernunft für immer versöhnen würde. Gott und Mensch, das Überirdische und Irdische, das Himmlische und Weltliche, Geist und Natur, das Gute und das Böse: alle Hauptwidersprüche sollten durch Kampf das Unvollkommene tilgen und dem Vollkommenen das Reich auf Erden schaffen.

Aus diesem Reich entstand das Marx‘sche Reich der Freiheit. Marx war über die falsche Versöhnung Hegels empört. Wie könne man von Versöhnung sprechen, solange die Proleten dahin darben und von einer Minderheit missbraucht würden? Geschichte war nach Marx nicht an ihr Ende gekommen, sie stand kurz vor der Revolution, die alle bürgerlichen Oppressionen durch Gewalt abschütteln würde, um Geschichte ins Reich der Freiheit voranzubringen. Nicht der Mensch müsse sich ändern, sondern die äußeren Umstände, die den Menschen bedrücken. Der Mensch kann sich nur ändern, wenn die revolutionäre Wirklichkeit ihn verändert: das materielle Sein bestimmt das geistige Bewusstsein.

Bei Hegel hatte das göttliche Bewusstsein das materielle Sein determiniert. Durch fortschreitendes Erkennen des geschichtlichen Prozesses kann der Mensch sich das göttliche Bewusstsein verinnerlichen. Mensch und Gott, Bewusstsein und Sein verschmelzen.

So harmonisch geht’s bei Marx nicht zu. Der Widerspruch zwischen Ausbeuter und Proleten wird zwar gelöst, aber durch komplette Vernichtung der Kapitalisten. Wohl heißt es bei Marx, der Mensch mache seine Geschichte selbst. Wer aber genauer hinschaut, erkennt schnell die Pseudo-Autonomie des Trierers:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte)

„Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“

Für Hegel war Gottes‘ Bewusstsein das Sein, welches den Menschen in seiner Totalität bestimmte: sein Sein und sein Bewusstsein.

Marx stellte diesen Idealismus – Gottes Ideen bestimmen die Wirklichkeit – auf den Kopf. Nicht irgendwelche verblasenen Ideen, sondern das handfeste materielle Sein der Welt bestimmte die Geschicke des Menschen. Philosophie, die Lehre von der Macht des Denkens, wurde von Marx am Boden zerstört. Denker haben die Realität nur verschieden gedeutet, es käme drauf an, sie zu verändern.

Wer aber soll sie verändern? Die Wirklichkeit selbst, die sich in fortwährender Veränderung befindet. Dem Menschen bleibt nur die passive Rolle, der Geschichte zuzuschauen und sich an ihren Eigenbewegungen zu beteiligen.

Im christlichen Credo waren die Gläubigen die Knechte Gottes. Bei Marx waren sie die Knechte der gottgleichen Geschichte. In beiden Fällen war der Mensch eine Marionette übermenschlicher Mächte.

Bei Hegel war der Mensch auch ein Höriger des Weltgeistes, der aber durch Identifikation mit diesem selbst göttlich werden konnte. Am Ende der Geschichte werden Mensch und Gott eins sein. Diese Gottähnlichkeit des deutschen Menschen brannte sich in die deutsche Geschichte ein und wurde zum messianischen Auftrag der Deutschen, die ganze Welt zu erlösen.

Dieses Pathos der Überlegenheit arbeitet sich in Berlin immer mehr ins Bewusstsein der herrschenden Politiker, besonders der Lutheranerin unter ihnen. Auch Hegel bezeichnete sich als Lutheraner.

„Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ (Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte)

Indem ich erkenne, was sich außerhalb meiner Einflusssphäre ereignet, nehme ich subjektiv teil an der objektiven Entwicklung. Subjekt und Objekt verschmelzen zur Einheit. Hegels Philosophie war Religion oder Religion als Philosophie. Denken und Glauben, Vernunft und Offenbarung waren eins. Alle Probleme der Welt hatte der penible und harmoniesüchtige Schwabe durch Denken gelöst. Draußen konnte die Welt sein wie sie wollte: alle Konflikte waren nur noch Schein. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren zur Einheit geworden.

Bei Marx bestimmt das Sein das Bewusstsein des Menschen. Wie konnte auf dem Boden der Degradierung des Menschen zur Geschichtsmarionette ein revolutionäres Feuer entfacht werden?

Durch denselben Faktor, der das Christentum zur führenden Religion der Welt gemacht hatte. Durch Teilhabe an der übermenschlichen Geschichte. Wer auf der richtigen Seite der Geschichte steht, der ist omnipotent. Habe ich Gott im Rücken, bin ich unschlagbar geworden. Marx spürte die Schwäche seiner allmächtigen Seinslehre. Wird der Mensch durch die Umstände erzogen, wer erzieht die Umstände?

„Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren.“ (Thesen zu Feuerbach)

Nun haben wir den Salat: die Spaltung der Revolutionäre in Führer und Geführte. Ohnehin war Marx kein Freund der läppischen Demokratie. Es muss eine elitäre Schicht geben, die die proletarischen Massen ins Reich der Freiheit führt. Nur sie weiß – nach Art der religiösen Propheten –, wann der Kairos geschlagen hat. Nur, wenn Geschichte die grüne Karte zeigt, können die Geschichtsknechte losschlagen. Das Erkennen der Geschichte bleibt das Privileg der Ledermäntel. Eliten der Frühzeit nannten sich Richter und Propheten. Dann Stellvertreter Gottes oder von Gott berufene Charismatiker und Sektengründer.

Nicht nur bei Hegel und Marx wurde das niedrige Volk zu Handlangern der Privilegierten erniedrigt. Erleuchtete bildeten sich ein, den Durchblick übers Ganze zu haben und das Volk ins Gelobte Land zu führen.

Heute tun dieselben Führungseliten bescheiden: sie haben von Nichts eine Ahnung. Just diese Ignoranz soll ihre Überlegenheit über die Massen rechtfertigen. Gauck beschwört die Ahnungslosigkeit der Allzuvielen, ganz vergessend, dass die Parlamentseliten selbst der Meinung sind, im Dunkeln zu stehen.

Die lächerliche Bewusstseinsspaltung kennzeichnet auch Finanz-Tycoons und Industrielle. Alle selbstgemachten Probleme wachsen ihnen regelmäßig über den Kopf. Gleichwohl fühlen sie sich berechtigt, den Pöbel geistig zu enteignen und in kompetenter Vollignoranz die Titanic weiter zu navigieren. Sollte das Schiff untergehen – was soll‘s? Die Richtigen werden errettet werden. Wer untergeht, hat nur bewiesen, dass er nicht berechtigt war, zu überleben.

Alle Eliten fühlen sich im Einklang mit der Geschichte. Ob wissend oder unwissend, kompetent oder amoklaufend. Tertullians Motto hat die Moderne erobert: sie glauben an ihre Führerschaft, weil sie absurd ist. Würden sie Wert legen auf rationale Kompetenz, blieben sie Knechte der Vernunft. Das darf nicht sein. Knechte Gottes sind freie Menschen, Knechte der Vernunft unfreie.

Was geschah? Vernunft wurde an die Stelle Gottes gesetzt, den man in der Aufklärung los werden wollte. Doch der Ruf der Freiheit war zu schwach. Die religionskritischen Bürschchen bekamen kalte Füße. Schnell ersetzten sie Gott durch die Vernunft.

Das Lager der Frommen schlug zurück. Wer sich von Gott löse, bleibe in seinem Banne. Nietzsches Ruf: Gott ist tot, war der Ruf eines Verzweifelten. Toter Gott, wo bist du? Du kannst doch nicht einfach verschwinden und deine Geschöpfe allein auf Erden zurücklassen.

Jeder Atheismus wurde zum uneigentlichen Glauben, zur Frömmigkeit der Verzweiflung und des Nihilismus, die sich nach Erlösung sehnt. Von Gott kommst du nicht los, und wenn du bis ans Ende der Welt flüchtest.

„Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.“

Das in jedem Augenblick Neue ist Gottes Methode, die Heilsgeschichte zum Ziel anzutreiben. Nichts Irdisches und Sündhaftes darf unverändert bleiben. „Wahrlich, ich sage euch: Hier wird kein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerstört würde.“

Permanente Zerstörung ist das Gesetz des christlichen Fortschritts. Das Neue ist die Eliminierung des Alten. Das Alte ist das gesamte Ensemble der Menschheit und der Natur. Fruchtbare Zerstörung, die Formel für wirtschaftlichen Fortschritt, ist die Formel der vorwärtsschreitenden Heilsgeschichte.

Wie kommt bei dieser Dominanz des Neuen die Lehre in die Schrift, es gebe nichts Neues unter der Sonne? Durch eine Unaufmerksamkeit der frommen Kanon-Hersteller, die nicht bemerkten, dass sie eine heidnische Lehre vom Zyklus der Geschichte ins Allerheiligste gezogen hatten.

Der Alttestamentler Gerhard von Rad ist geradezu empört über das Eindringen des Heidnischen ins Denkgebäude der Heiligen. Er spricht vom großartigen Gedicht des Predigers, das aber dem „trostlosen Kreislauf aller Dinge“ anheim gefallen sei. Kohelet, der Prediger, „denkt vollkommen geschichtslos; in ihm hat die Weisheit die letzte Berührung mit dem alten heilsgeschichtlichen Denken Israels verloren und ist in das gemeinorientalische zyklische Denken zurückgefallen.“ In dieser „von allem Geschichtswalten Jahwes entleerten Welt“ suche der Prediger seinen Gott. Er wird ihn nicht finden, solange er den heidnischen Splitter im Fleisch des Glaubens duldet.

Das Heilige muss gesäubert werden. Das ist die Katharsis des totalitären Denkens. Wie kann man bei „Säuberung“ nicht an Hitler und Stalin denken? Wie kann man mit Erdogan ein humanes Bündnis schließen, wenn er sein Land mit Gewalt von unliebsamen Kritikern reinigen will? Erdogan will die Türkei in eine Theokratie verwandeln, in der eine Elite das dumpfe Volk reglementiert.

Die Anmaßung des Neuen ist die Tyrannei einer kleinen Minderheit, die sich als Elite präsentiert. Die Säuberung beginnt bei uns in unscheinbaren Schritten. Demokratische Politik wird zunehmend Geheimdiplomatie, das Volk für unfähig erklärt, seine Entscheidungskompetenz Schritt für Schritt beschnitten. Aufklärende Debatten werden weder im Bundestag noch in den Medien geführt. Durch Abschaffen der Wahrheit wird jeder Streit zur Farce. Was ein Streitgespräch ist, weiß kein TV-Moderator.

Das Neue – die messianische Besessenheit, Geschichte siegreich zu beenden – wird zur Allzweckwaffe immer totalitärer werdender Eliten, die im Namen des technischen Fortschritts die gesamte Menschheit an die Kette legen wollen. Silicon Valley ist zum Mekka des Neuen geworden, das mit technischer Zwangsbeglückung die Menschheit ins Heil – sprich, in den Ruin – führen will. Die Menschen sollen die Alten bleiben. Sie werden sich nie verändern. Nur das technisch Neue ist das magische Mittel, um das Alte ins Reich der Freiheit zu führen.

Bei Platon waren es die Weisen, im Mittelalter die Priester, im Marxismus die Nomenklatura, bei Hitler die rassisch Auserwählten, im Kapitalismus die Geldscheffler. In der Gegenwart sind es Wissenschaftler und Techniker, die sich anheischig machen, das Neue den alten und verdorbenen Volksmassen überzustülpen. Das Neue ist das Göttliche, die Sache der erwählten Eliten, das Alte der Bereich des Teufels und der verlorenen Sünder.

Nichts, was zurzeit geschieht, ist neu. Das Alte, das bislang unterdrückt wurde, schießt eruptiv ans Tageslicht. Das wäre die Chance, uns im Spiegel unserer globalen Biografien kennen zu lernen. In diesem Sinne gibt’s nichts Neues unter der Sonne: das ist eine Weisheit der Welt. Nur der Himmel verheißt Neues, indem er das alte Eiapopeia mit elitärer Überlegenheit dem unerleuchteten Volke einimpft.

Wenn Medien alte Lösungsvorschläge als Binsen abqualifizieren, beweisen sie nur, dass sie unter dem Zwangsgesetz des Neuen stehen. Trotz aller Krisen stehe uns eine Zeit der Mitmenschlichkeit bevor, behauptete der Sänger Herbert Grönemeyer. Ist Mitmenschlichkeit keine uralte Binse?

Im Bereich des Menschen gibt es nichts Neues. Alles Wesentliche wurde durchdacht und durchstritten, und dies nicht nur einmal. Wir müssen uns nicht erfinden, wir müssen uns erinnern und wählen.

Philosophieren ist kein manieriertes Herumklügeln mit absonderlichen Einfällen. Die Philosophien des Abendlandes sind nichts als ermüdende Variationen einiger Grundgedanken der Antike, verwässert und verfälscht durch theologische Dogmen.

Der Mensch ist nicht zur eitlen Originalität verdammt, er muss sich nicht neu er-finden. Er muss sich finden.

Der heutige Zwang zur Originalität und grenzenlosen Kreativität erzeugt nichts als Narren auf eigne Hand. Was der Einzelne von anderen lernen kann, ist kein Plagiieren. Plagiieren ist die Methode staatlicher Schulen, die Jugend zu Aufstiegsrobotern zu dressieren.

Lernen ist Denken, Denken gelebte Selbstbestimmung. Dürfen Völker sich nicht selbst bestimmen, ist es um die Demokratie geschehen. Alle Macht geht vom Volke aus und bleibt auch dort.  

 

Fortsetzung folgt.