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Europäische Idee LXXXI

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXXI,

gottlob, er ist nur ein Lügner. Schlimmer wäre, er wüsste nicht, was er redet. Lügner benötigen ein gutes Gedächtnis. Beim Lügen können sie ertappt, der Lüge können sie überführt werden. Lügen setzt Wahrheit voraus.

Boris Johnson ist ein Lügner, sagte sein französischer Amtskollege, der ihn demnächst im Kreis europäischer Außenminister willkommen heißen wird. Zu Kern-Europa kann der bullige Engländer nicht mehr gehören. Denn Kerneuropäer lügen nicht!

Weiß Mr. Johnson, dass er lügt? Sagt er bewusst die Unwahrheit? Gesteht er, ein Lügner zu sein? Auf seine Frechheiten und Lügen angesprochen, kann der Gentleman aus höchsten Kreisen nur milde lächeln. Was interessieren ihn seine Amüsements von gestern? Lasst uns nach vorne blicken. Er leugnet nicht mal, dass er flunkert und die Nation anschwindelt. Kann er, wenn er seine Lügen gesteht, noch Lügner genannt werden? Oder gibt es für ihn gar keinen objektiven Maßstab, mit dem man Lüge von Wahrheit unterscheiden kann?

Dann wäre er kein Lügner, sondern ein Vertreter der postmodernen Philosophie, die das Lügen für immer abgeschafft hat – zusammen mit der Lehre von der Wahrheit. Oder er ist ein Risikospieler, der Wahrheiten und Unwahrheiten zu beliebigen Instrumenten seines Erfolgs degradiert.

Das wahre Schlachtfeld Europas liegt im dunkeln Bereich konkurrierender Gedankensysteme. Demokratie ist Gemeinschaft gewordene Philosophie. Kein Sammelsurium von Institutionen, kein mechanischer Spielzeugkasten äußerlicher Stellschrauben.

Eine äußerliche Demokratie ohne überzeugte und vitale Demokraten wäre lebensunfähig. Die gegenwärtigen Parteien, im Prozess fortschreitender Selbstauflösung durch gedankenfreie Kompromisse, decken nur einen winzigen

Bruchteil der miteinander im Clinch liegenden Weltanschauungen. Je gedankenfreier die Parteien werden, je mehr bräuchten wir philosophische Aufklärung, die den hintergründigen Kampf der Denksysteme aufdecken könnte.

Europa leidet weniger unter politischen Vollzugsdefiziten, als unter Ignorierung der überlieferten Gedankenmassen, die die Menschen aus dem Hintergrund bestimmen. Das Bewusstsein bestimmt das Sein. Wäre es umgekehrt, könnten die Menschen aufhören, sich Gedanken zu machen und danach zu handeln. Beten und Hoffen würden genügen. Doch was, wenn das Bewusstsein sich entzieht und zum Unbewussten wird?

Wie weiter mit Europa? Muss der Kontinent auf eine allgemeine Philosophie verpflichtet werden, damit die Rede von abendländischen Werten sich bewahrheiten und Europa sich durch seine Werte erneuern kann?

Von welchen Werten reden wir? Sind es nur abendländische oder allgemein menschliche? Wenn letzteres, warum reden wir nur von abendländischen?

Sind Werte Tugenden, moralische Pflichten, Bedürfnisse und Fähigkeiten? Dann wären diejenigen, die abendländische Werte praktizieren, jene Gutmenschen, über die sich die Lobredner der Schlechtmenschen zu amüsieren pflegen? Besonders die medialen unter ihnen, die sich rühmen, sich mit keiner guten Sache gemein zu machen?

Nur seltsam, dass sie jetzt, wo trampelige Schlechtmenschen die internationale Atmosphäre verpesten, nervös zu zucken beginnen und sich plötzlich geschmähter moralischer Tugenden erinnern. War das Hochhalten der Amoral nur ein kokettes Spiel im Sandkasten von Spätpubertierenden, die über Nacht erwachsen werden müssen, weil sie mit der zotengewordenen Realität ihrer projektiven Bösenverehrung unliebsam konfrontiert wurden?

Dann sollten wir unseren Schöpfer preisen, dass er uns die Johnsons, Trumps, Erdogans und Orbans in seiner unermesslichen Gnade schickte, auf dass wir klug werden und ein tugendhaftes Leben führen.

Selbst wenn sie moralisch empört sind, reden Edelschreiber ungern von Moral. Ein verhassteres Wort als Moral kann es in abendländischen Wertekreisen nicht geben. Denn biblisch ist es nicht bezeugt. Wie konnte dieser begriffliche Heidenbastard sich in unsere schöne neue Hallelujawelt einschleichen? Wie schäbig klingt der Begriff, verglichen mit Agape und Caritas, der Gottes- und Nächstenliebe?

Wer gestern Illner sah, weiß, dass sich nichts ändern wird – wenn es eliten-gemäß weitergehen sollte. Europa war ein Elitenprojekt, sagte Alt-Elitenkommissar Stoiber und kein elitärer Mitschwätzer protestierte.

Siehe, das Gute in der Geschichte ist stets das edle Werk von Erwählten, den schäbigen Rest kann sich der Plebs ans Bein binden. Dann darf man sich nicht wundern, dass Volksabstimmungen von Elitengeneral Joses Joffe in der ZEIT mit unwirscher Handbewegung vom Tisch gewischt werden.

Vor einiger Zeit war Demokratie durch Post-Demokratien und unverhüllte Bewunderung für Diktaturen bereits entsorgt. Heute werden Volksabstimmungen, morgen wird das Volk abgeschafft. Wie lange noch gewähren Eliten dem Pöbel die Gnade, alle vier Jahre ihr Kreuzchen zu machen? Wer keine Mastercard vorzeigen kann, weiß gar nicht, wo die Urne steht. Im Durchlöchern und Unterminieren der Demokratie – alles nur spaßeshalber natürlich – lässt sich der SPIEGEL zurzeit nicht lumpen.

„Das Argument der Stabilität ist nicht sympathisch. Es klingt nach schnöder Realpolitik. Es ist ein Eingeständnis der begrenzten Möglichkeiten des Westens, seine Werte und sein Lebensmodell zu exportieren. Oft wird es missbraucht, um Geschäftemacherei mit Diktatoren zu rechtfertigen. Und es dient den Despoten zur Rechtfertigung ihrer Unterdrückungspolitik. Trotzdem ist es nicht falsch. Diktatur kann erträglicher sein als Anarchie. Wenn Menschen vor der Wahl zwischen einer funktionsfähigen Diktatur und dem Chaos eines scheiternden Staates stehen, wäre die Diktatur oft das kleinere Übel.“ (SPIEGEL.de)

Europa funktioniert nicht – wo ist der nächste arbeitslose Diktator, der sich des maroden Kontinents erbarmt? Was sich Christiane Hoffmann, Jakob Augstein und Jan Fleischhauer an volksverachtenden Reden und Rufen nach starken Männern und faschistischen Klassen erlauben, dürften sich weder AfD noch Pegida erlauben. Soviel zum Populismus der „dumpfen, dubiosen“ Mitte.

Mit dumpf und dubios werden gewöhnlich die extremistischen Ränder der Gesellschaft charakterisiert. Gibt es Ränder, die sich zuvor nicht in der Mitte des Teiges befunden hätten?

Diktatoren sind selten dumpf und dubios. Warum muss Hitler mit voluminösen Trivialitäten ummantelt werden, wenn er dumpf und unklar gewesen wäre? Sein Mordsprogramm hat er in unmissverständlichen Worten in die Welt posaunt. Nicht nur Deutschland, die ganze Welt nahm seine vergifteten Ankündigungen nicht ernst – weil sie so bedrohlich klar waren. Biedermänner werden umso biederer und begriffsstutziger, je dreister die Brandstifter ans Werk gehen.

Jede Demokratie beginnt mit dem Chaos einer zertrümmerten Hierarchie. Anarchie muss kein gesetzloses Chaos sein. Auch mündige Menschen können Anarchisten sein. Sie brauchen keine fremdgesteuerten Gesetze, um zu wissen, was sie für human halten.

„Das gehört sich nicht, das ist nicht anständig“: klingen die Ersatzformeln hiesiger Moralverächter, wenn sie den sonst so verachteten moralischen Zeigefinger selbst erheben müssen. Anständig geblieben: das waren auch jene SS-Horden, die sich gerade das Blut von den makellosen Fingern wischten. Moral klingt nach Selbstrühmumg und eitler Autonomie, also muss sie beseitigt werden.

Welch eine Frage, wie es mit Europa weitergehen soll, wenn die EU sich als demokratische Vereinigung früherer Feinde versteht. Demokratische Krisen sind Krisen demokratischer Defizite, was sonst? Also muss die defizitäre demokratische Kompetenz regeneriert oder verbessert werden. Eine funktionierende Demokratie kann sich nicht selbst zerstören, denn sie ist kompetent, eine Gesellschaft durch empathisches Verstehen und scharfes Streiten zusammenzuhalten.

Je mehr Krisen es gibt, je undemokratischer muss die Gesellschaft sein. Es sind die Bürger selbst, die ihr Gemeinwesen durch demokratische Taubheit zerlegen – oder durch taube und blinde Eliten zerlegen lassen. Ihre demokratischen Tugenden müssen sie ein bisschen vergessen haben. Vielleicht, weil sie vor lauter Profitinteressen und Wettbewerbs-Siegen nicht mehr aus den Augen schauen können?

Die EU stellt 7% der Weltbevölkerung, produziert aber 25% der Weltwirtschaftslawine, sagte stolz der frühere Bayernchef. Und wie viel % der Klimaverwüstung, Naturzerstörung und des Flüchtlingselends? Das fragte niemand.

Von deutschen Alleingängen war die Rede, ohne dass der Name von Muttern fiel. Immer, wenn von Merkel die Rede sein müsste, umschreiben die medialen Muttersöhnchen die Hauptschuldigen dezent mit „Berlin“ oder der „deutschen Regierung“. Geht es hingegen um Heldentaten, darf der Name der Engelgleichen nicht fehlen. Die Deutschen gehen schonend um mit Mütterchen, damit es die verstörte Kinderschar noch lange trösten und beruhigen kann.

Und pünktlich zum Urlaubsbeginn lässt die einstmals so Hartherzige, zwischenzeitlich ekstatisch Nächstenliebende und heute erneut klirrend Kalte die rührende Geschichte von Reem, dem Palästinensermädchen, in die Öffentlichkeit lancieren. Im Stil gnädiger Diktatoren hat die Kanzlerin das vor allen Kameras düpierte Mädchen ins Allerheiligste geladen, um Gnade vor Recht ergehen lassen. Glück und Zufall sind nicht nur die Götter des kapitalistischen Erfolgs, sondern des zufällig am Wegesrand entfachten Samaritertums. Was nicht mehr zufällig ist, verendet systematisch im Unrechtsstaat eines despotischen Wirtes weit hinten in der Türkei.

Noch nie haben Christen den Unterschied verstanden zwischen überzufällig gesellschaftlicher Fürsorge per Gesetz für alle und zufälligen Taten der Eigenliebe, die sich als Nächstenliebe drapieren, um die eigene Seligkeit zu gewinnen. Wofür interessierte sich der Kirchenvater? Für Gott und das Heil seiner Seele, für sonst nichts – also zweimal für Nichts.

Wie kann ein arbeitswütiges und vor Ehrgeiz krankes Volk – das noch immer seinen historischen Bankrott kompensieren muss – kompatibel sein mit Nachbarn, wenn Milliarden an Überstunden geleistet werden – für umsonst? Nein, nicht für nichts, sondern zum höheren Ruhm der nationalen Wirtschaftswalze, damit sie ihre Nachbarn noch eleganter niederwalzen kann. Natürlich zum Ruhm der Walzenmaschinistin, die in Europa den Ton angeben will.

Das also sind die gleichen und fairen Wettbewerbsbedingungen, wenn die eigenen Malocher unentgeltlich ihre Arbeitsnormen erhöhen, um sie den Ausbeutern als Jahresgabe auf dem Servierteller zu präsentieren. Die Welt muss jeden Tag ein erkleckliches Stück ungleicher werden, sonst geht es nicht gerecht zu in dieser Welt, wie Oberpriester Hank predigt.

Sollen unbezahlte Überstunden das Zeichen der Fairness deutscher Arbeitnehmer sein, die ihre Lebensqualität freiwillig ruinieren, um das Leben ihrer internationalen Kameraden mit trickreicher Selbstausbeutung zu vermiesen?

An der Normerhöhung entfachte sich einst im realen Sozialismus ein Volksaufstand. Das kann die ex-sozialistische Christin Merkel besser. Sie lächelt sanft wie die Madonna von Altötting und schon steht ihr aufgeklärtes Volk gläubig an ihrer Seite.

Ist Merkel eine Lügnerin wie der schreckliche Boris? Schlimmer, zum Lügen ist sie gar nicht fähig. Denn Lügen setzt eindeutige Moral voraus. Das Christentum aber hat keine Moral, die man mit logischer Eindeutigkeit definieren oder überprüfen könnte. Gotttrunkene sind jenseits aller verstandesmäßig erfassbaren Moral. Da sie gottgleich sind, stehen sie unter keinem Gesetz. Gott hat Natur- und Moralgesetze für andere erlassen. Könnte er allmächtig sein, wenn er eigenen Gesetzen untertan wäre?

Weder ist Gott an Naturgesetze gebunden noch an die zehn Gebote, die er seinem Volk verordnete. Heilige Gesetze gelten nur für das niedrige Volk. Erleuchtete und Stellvertreter Gottes können in jeder Hinsicht die Sau raus lassen. Für sie gilt das Motto: den Reinen ist alles rein. Und rein ist, wer glaubt. Der Gläubige ist Herr über alle Dinge, auch über moralische Gesetze. Der Priester kann Wunder vollbringen, indem er Naturgesetze bricht, er kann aber auch Böses tun, das dem Himmel als Gutes gilt, denn der Widerspruch zwischen Gutem und Bösem gilt nur für Sünder und Heiden.

Das Moralbewusstsein der Moderne ist eine Mixtur aus logischer Moral und göttlicher Antinomie. Der gesunde Menschenverstand – der in Deutschland noch nie in hohem Kurs stand – hält sich eher an schlichte Logik, das gläubige Tiefen-Ich aber ahnt und hofft auf die weltüberlegene Willkür-Moral der Erwählten, zu denen sie sich selber zählen. Mag die persönliche kleine Welt von simpler Eindeutigkeitsmoral bestimmt sein, die hohen Dinge der Weltpolitik können mit Kindermoral nicht mehr voran getrieben werden.

Der Handelnde ist immer gewissenslos, ahnte Goethe den Kapitalismus voraus. Im Weltgeschehen kommen die Exegeten der Heilsgeschichte zu Wort, die den Willen des Herrn so genau kennen, dass sie alles absegnen, was Macht und Ruhm seiner Jünger rechtfertigt. Gibt es ein Gutes, gibt es ein Böses, das nicht vom Herrn käme?

Die Krise der westlichen Welt ist ein Zusammenprall der bislang siegreichen Antinomie der Christen – und der mächtig aufkommenden schlichten Logik der irdischen Vernunft, die diesen Hokuspokus nicht mehr tolerieren will. Mögen die Religionen gerade wieder mächtig werden: je mehr sie mit Macht auftrumpfen, je mehr werden sie durchschaut. Zu sehr ist die Welt schon zusammengebacken, als dass die Christenheit sich noch länger auf eine überlegene Erwähltenmoral berufen könnte, um ihre globalen Schweinigeleien zu rechtfertigen.

Die Völker, denen sie ein Vorbild sein wollten, lassen sich die Kluft zwischen Predigt und Wirklichkeit nicht länger gefallen. Sie messen den Westen an seinen eigenen Parolen der Menschenrechte, die keine Klasse der Privilegierten kennt, welche die Würde jedes Einzelnen nach Belieben verkünden oder verletzen dürfte. Der unbestechliche Spiegel der nichtchristlichen Welt zwingt die christliche Welt zur immer schärferen Selbstkritik.

Eine Krise kann heilsam sein – wenn die Krisengeschüttelten erkennen würden, dass sie mit zweierlei Moral nicht mehr weiterkommen: die schlichte logische Privatmoral ist allergisch geworden gegen den amoralischen Zynismus der Weltpolitik.

Machiavelli war der Erste, der den wunden Punkt der abendländischen Doppelmoral berührte – wenngleich im Dienste bedenkenloser Macht. Die apolitischen Dichterlein und Denkerlein des politisch rückständigen Deutschlands – das es als Einheit noch gar nicht gab – bewunderten den bedenkenlosen Italiener und beeilten sich, seine Doppelmoral in den Dienst ihrer Machtphantasien zu stellen.

Bei Weib und Kind darf man nicht lügen, in der großen Welt nicht die Wahrheit sagen. In der Welt der Verdammten darf man alles, um seine Machtinteressen durchzusetzen. Diese Schizophrenie der Moral war bis vor kurzem sakrosankt. Durch die Vernetzung aller Nationen mit allen aber gibt es kein Außen und Innen mehr. Die Berechtigung einer Doppelmoral fällt ersatzlos weg. Weltaußenpolitik wurde zur Weltinnenpolitik.

Gewiss, es gibt viele Gefahren durch planetarische Vernetzung, die von gigantischen Firmen und Geheimdiensten missbraucht werden kann. Gleichwohl gibt es auch riesige Chancen der moralischen Konvergenz durch Annäherung und Verbundenheit.

Wandel durch Annäherung nannten Brandt und Bahr ihre friedensstiftende Ostpolitik. Feindliche Konkurrenz kann durch Annäherung auf allen Gebieten in Friedensfähigkeit der Völker verwandelt werden.

Momentan erlebt die Welt einen Rückfall in nationale Rivalitäten. Unterhalb dieser Rivalitäten der Eliten aber kämpft sich der Geist der Verbundenheit „normaler“ Menschen zunehmend an die Oberfläche. Wenn gewaltige Veränderungen geschehen, geschehen sie immer nach dem Gesetz der Polarität.

Die Menschheit ist moralisch noch nicht tot. Die Völker lassen sich durch technischen Schnickschnack und wirtschaftliches Imponiergehabe nicht mehr davon abhalten, sich im Spiegel der anderen zu erkennen. Auf der einen Seite gibt es wachsenden Hass und tödlichen Terror zwischen den Völkern, auf der anderen aber wächst unaufhaltsam die Vertrautheit mit anderen Kulturen.

Die eruptive Willkommenskultur der Deutschen war ein wunderbares Zeichen der Veränderung des Volkes in der Tiefe. Zwar wird sie dank der Umarmungstaktik ihrer Kanzlerin momentan wieder erdrosselt. Den Eliten wird es dennoch nicht mehr gelingen, den Hunger nach Humanität zu eliminieren.

Jede neue Generation wird feinfühliger, was die Voraussetzungen des Menschseins betrifft, auch wenn der momentane Ersteindruck der Jugendlichen trügt. Lassen wir uns vom apathischen Pokerface der Jugend nicht täuschen: im Untergrund wächst ein gewaltiges Bedürfnis nach gerechten Verhältnissen.

Die Gesetze gegenseitigen Bekämpfens werden von den Völkern immer weniger als Naturgesetze anerkannt. Und dennoch fehlt ihnen noch das Selbstbewusstsein, ihre Ahnungen einer besseren Welt den Verrohungs-Imperativen der Tycoons entgegen zu setzen. Der Aufbruch der Willkommenskultur wird ins kollektive Gedächtnis des Volkes eindringen und nach einer gewissen Zeit unsichtbarer Rekreation neu gestärkt ans Tageslicht kommen.

Es ist kein Zufall, dass immer mehr Jobsuchende bei NGOs anfragen, weil sie keine Lust mehr haben, dem Gott Mammon zu dienen. Es ist kein Zufall, dass ein ZDF-Moderator seinen Job hinwirft, um Rettungssanitäter zu werden, weil er etwas Sinnvolles zum Leben der Menschen beitragen will. Immer häufiger sind solche Konversionen zur humanen Moral der Menschen zu beobachten. Wer sehen will, der sehe.

Was fehlt Europa? Das Wissen um die wahren Antriebskräfte des Menschen. Parteiprogramme bewegen niemanden. Sie dringen weder ins Herz noch in die Vernunft. Die wahren Antriebskräfte sind Gedanken, Gefühle, bewusste und unbewusste Philosophien – inklusive der Religionen, die als pervertierte Philosophien gelten müssen. Religionen, auch die der Erlöser, sind keine Offenbarungen von Oben, sondern Entwürfe von Unten, die nach Oben projiziert wurden, damit sie den Erfindern als Botschaften von Oben mehr imponieren.

Die ausgehöhlte Sprache der Parteien trifft nicht das Innere der Menschen. Die wahren Probleme der Menschen lauten etwa: ist der Mensch fähig, sein Schicksal selbst zu gestalten oder muss er sich den Gesetzen einer überlegenen Geschichte, eines omnipotenten Gottes fügen? Gibt es eine allgemein verbindliche Moral? Was ist Gerechtigkeit, Glück, Freundschaft und fürsorgliche Verbundenheit? Gibt es Wahrheit, eine vom Menschen unabhängige Natur? Gibt es verantwortliche Subjekte, die eine erkennbare Identität haben?

Wenn es kein stabiles Ich-Zentrum gibt, kann der Mensch keine identische Biografie erleben. Wenn alle Identitäten verschwimmen, wie Denker der Moderne behaupten, kann es keine Wahrheit geben, die ein stabiles Ich-Zentrum voraussetzt.

Medien, die sich täglich neu erfinden, habend das verantwortliche Ich abgeschafft. Sie faseln von Identität, doch sie starren nur nach vorn, um alle Brücken hinter sich abzubrechen. Eine durchdachte Kontinuität ihres Kommentierens ist nicht erkennbar. Schon heute wissen sie nicht mehr, was sie gestern dachten und schrieben. Irrtümer und Fehler unterlaufen ihnen nicht. Ursachenanalysen und Schuldzuschreibungen lehnen sie entrüstet ab. Hat je ein Edelschreiber öffentlich einen Irrtum bekannt und einen Fehler eingestanden? Heute schreiben sie Hü, morgen Hott, der Name ihres diktierenden Springteufels sei gepriesen. Heute lehnen sie Moral als Gutmenschentum ab, morgen zeigen sie sich empört über den Mangel an Anstand.

Das Aufkommen der Shitstorms, die Erfolge von Sitte- und Anstandsverächtern wie Trump und Johnson sind verheißungsvolle Anzeichen für das Ende der betonierten Zweiklassenmoral – dem Widerspruch zwischen logischer Familienmoral und dem Machiavellismus machtpolitischer Interessen. Die jahrhundertealte Gespaltenheit der westlichen Kultur in christliche Antinomie und griechische Eindeutigkeitsmoral hat ihr internes Gift allmählich verbraucht. Das religiöse Über-Ich der Nationen hat keine Kraft mehr, die Sünden des Es unter Verschluss zu halten.

Was lange abgespalten und verdrängt war, drängt mit Macht nach oben und zeigt seine wahre Fratze. Das klingt bedrohlich und ist dennoch die einzige Möglichkeit für den mündigen Menschen, sich im Spiegel seiner „Teufeleien“ zu erkennen. Das Erkennen seines Sündenerbes wird den Menschen frei machen. Er wird erkennen, dass er kein Sklave des Gottseibeiuns ist. Anerkennt er furchtlos sein bislang verteufeltes Sündenerbe, wird er mit Erleichterung erfahren, dass er dem Menschen kein Wolf, sondern ein Freund und Verbündeter sein kann.

Die Krise Europas ist bedrohlich und verheißungsvoll zugleich. Die Tagespolitik ist nur die unbewusste Vollstreckerin von philosophischen und religiösen Weltentwürfen. Doch keine Partei ist fähig, die gedanklichen Voraussetzungen ihrer dürftigen Programme zu entschlüsseln und zur Debatte zu stellen.

Merkel & Eliten werden nicht in sich gehen und die Ursachen der Krise erforschen. Für sie steht fest, dass wirtschaftliche Monothemen weiterhin das Alltagsgeschäft bestimmen werden. Sie kennen nur Zahlen und Strafbedürfnisse.

Die Parteiprogramme entsprechen dem Ich Freuds, das, einem Eisberge ähnlich, nur zu einem Prozent aus dem Wasser ragt. Der riesige Rest liegt verborgen unter der Meeresoberfläche. Dieser Rest ist verdrängten Gedankenmassen vergleichbar, die das Leben der Menschen aus der Tiefe bestimmen.

Über Grundfragen der Menschheit herrscht in Parlamenten und Medien Schweigen. Fiel im Bundestag je der Begriff Postmoderne? Der Begriff Antinomie? Der Begriff Tyrannei der Geschichte? Der Begriff eines totalitären Fortschritts oder der suizidalen Sehnsucht nach gottähnlicher Unsterblichkeit?

Demokratie ist in die Krise geraten, weil sie von lächerlichen Parteiprogrammen nicht mehr leben kann. Nicht die Politik, der Gedanke ist das Politischste einer lebendigen Polis. In der athenischen Demokratie gediehen philosophische Schulen, Tragödien und Komödien, Poesie, Epos, Rhetorik, wissenschaftliche Erkenntnis der Natur – und alle nur denkbaren Künste des Schönen. Die Polis war der Ort, das Menschliche in allen Facetten aufzuspüren, in Künsten darzustellen und auf der Agora mit scharfer Klinge zu debattieren. Ohne das Ambiente des Gedankenreichen, der künstlerischen Darstellung des Lebens in seinen Widersprüchen, des Widerstands gegen alles Dunkle und Unaufgeklärte, wäre die Demokratie an geistigem Sauerstoffmangel erstickt.

All dies fehlt heute. Kunst und Kultur sind reproduktiv und plagiativ – unter dem irreführenden Vorzeichen grenzenloser Kreativität.

Es gibt ein untrügliches Kennzeichen aller authentischen Kultur und das ist die innere, leidenschaftliche Partizipation der Völker am Geist. Die Aufführung der Werke von Euripides und Sophokles waren Ereignisse der ganzen Polis. Heute ist das Schöne und Wahre in die babylonische Gefangenschaft versteinerter Machteliten und ihrer intellektuellen Lakaien geraten. Die Sezession der Führungsklassen von den „Verlierern der Moderne“ setzt sich ununterbrochen fort. Es gibt keine gemeinsamen Denkinhalte und Gefühlswelten zwischen Oben und Unten.

Gesellschaften liegen im Sterben, wenn sie von Brahmanen regiert werden, die die Nähe der Völker kaum noch ertragen.

Wer eine lebenswerte Zukunft will, darf nicht starr nach vorne schauen. Die Erkenntnisse der Menschheit sind in der Vergangenheit deponiert, die nicht vergangen ist, wenn die Erkenntnisse lebendig bleiben.

Krise, öffne den tiefen Schacht der Erinnerung und zeige uns, wer wir sind.

 

Fortsetzung folgt.