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Europäische Idee LXXVI

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXVI,

die Alternative zum alternativlosen Desaster Europas liegt in – Uruguay. Und hört auf den Namen José Mujica, genannt El Pepe.

„Von den 12.500 US-$ Präsidentengehalt behielt er lediglich 10 %, weshalb er als „weltweit ärmster Präsident“ beschrieben wurde. Den Rest spendet er an kleine Unternehmen und NGOs. Das sei genug Gehalt, so sagt er, schließlich lebten viele Bürger mit noch weniger. Auch seine Frau spendet einen großen Teil ihrer Einkünfte.“

El Pepe ist etwas, was es in Europa seit 2000 Jahren nicht geben darf: er ist ein Weiser. Weise der Welt waren im frommen Abendland von Toren der Überwelt verboten. Gab es sie dennoch, mussten sie sich in undurchdringliche Wälder zurückziehen – oder wurden von Heiligen der Überwelt mit glühenden Eisen vom Leben zu Tode gebracht.

Der uruguayische Blumenzüchter, im Nebenberuf 5 Jahre lang Präsident seines Landes, ist eine Zumutung für den fortschrittlichen Westen. Würde seine Weisheit die Zentralen des Westens erobern, wäre es um die Macht derselben geschehen. El Pepe ist die allergrößte Gefahr für die Weltmacht der Grenzenlosen, pflichtgemäß Unzufriedenen und vorbildlich Unersättlichen. Dass er noch lebt, hängt nur mit dem Umstand zusammen, dass ihn außerhalb seines Landes niemand kennt.

Dringt dennoch hin und wieder etwas von seiner Person in die hektischen Reiche des Fortschritts, schüttelt jeder Einheimische den Kopf: El Pepe, dieser Spinner will Politiker sein – und zugleich schlicht und einfach leben? Ist er zu dumm, um zu erkennen, was im Reich der Moderne angesagt ist? Ist er ein Träumer aus dem südamerikanischen Nirgendwo? Gibt es Uruguay überhaupt? Was erlaubt

sich dieser Hinterwäldler, die Deutschen derart abzukanzeln?

„Viele Deutsche scheinen irgendwie nicht im Reinen mit sich zu sein. Sie wirken, als hätten sie Angst, etwas zu verlieren. Schauen Sie, Deutschland geht es wirtschaftlich gut. Aber es gibt trotzdem viele prekäre Arbeitsplätze. Viele wissen nicht, wie es in Zukunft weitergeht. Ich glaube, dass viele Menschen deswegen verstärkt konservative Parteien wählen. Das ist ein Zeichen, dass die Leute nicht glücklich sind. Glück ist eben nicht das Gegenteil von Armut. Das Wachstum allein, das Bruttosozialprodukt und die Außenhandelsbilanz, das macht niemanden glücklich.“

Unerhört sind seine Vorstellungen vom glücklichen Leben. Jedes Land des brummenden Wachstums wäre über Nacht ruiniert, das seinen Spinnereien folgen würde. Was bitte, soll den reichen und erfolgreichen Deutschen fehlen?

„Dass sich die Leute mehr Zeit nehmen für die einfachen und schönen Dinge im Leben. Einem Vogel beim Fliegen zusehen und Freude daran haben. Einem Hobby nachgehen, das einem Spaß macht, auch wenn man damit kein Geld verdienen kann. Das Wichtigste ist Zeit. Die Leute sollten Zeit mit ihren Kindern verbringen, mit ihren Partnern, und nicht nur arbeiten.“

Folgt er denn selbst seinen Träumereien?

„Ich fahre Traktor und züchte Blumen, immer dann wenn ich Zeit habe. Ich brauche diese Arbeit mit den Händen, den Kampf mit den Ameisen, die einen zwicken. Aber ich mache keinen Hehl daraus – ich komme selten dazu. Ich bin ein alter Mann, der der Politik verfallen ist, das ist meine Leidenschaft. Das ist das Wichtigste. Die Leute brauchen eine Leidenschaft.“ (Süddeutsche.de)

Ein Treffen mit der mächtigsten Politikerin der Welt? „Es entspricht nicht meinem Arbeitsstil“, ließ Merkel verlautbaren, „meine kostbare Zeit an Tagträumer zu verschwenden.“

Ein Gespräch im deutschen Fernsehen? „Wir haben Besseres zu tun, als unsere kostbare Sendezeit an Utopisten zu verschwenden“, ließen die TV-Gewaltigen verlautbaren. „Mit Fußball, Radrennen und Ratespielen sind wir restlos ausgelastet.“

Da grenzt es an ein Wunder, dass Benedikt Peters einen Artikel über den Gottlosen in der ultramontanen SZ unterbringen konnte.

Glaubt der Südamerikaner tatsächlich an eine „perfekte Welt“? Kennt er nicht die Debatten unter europäischen Politologen und Gazettenschreibern, dass das Perfekte immer der Himmel auf Erden ist, der diese in eine Hölle verwandeln wird?

„Wir wollten eine perfekte Welt. Wir wollten, dass Menschen mehr zu essen, ein Dach über dem Kopf, bessere Gesundheit und Bildung haben. Nichts ist schöner als das Leben, und gleich danach kommt die Gesellschaft. Der Mensch braucht die Gemeinschaft. Er ist, anthropologisch gesehen, Sozialist.“ (Wiki)

Was will er denn nun ganz konkret – außer den ganzen Tag Maulaffen feilzuhalten und mit Ameisen in den Clinch zu gehen?

„Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wächst weiter und weiter, die Politik tut zu wenig dagegen. Die demokratischen Systeme kranken daran, dass die Lobbyisten zu viel Einfluss haben. Viel zu oft profitieren sie von den Entscheidungen der Politik. Die Idee der Umverteilung wird aktuell bleiben, aber vieles andere wird sich verändern. Meine Generation hat sich sehr auf die Fabrikarbeiter konzentriert. Jetzt aber arbeiten immer mehr Menschen im Dienstleistungssektor. Das ist nur ein Beispiel. Außerdem braucht es neue Ideen für die digitale Welt und wie man in ihr Demokratie leben kann.“

Das soll die Alternative zu Merkel sein? Nicht mal Sahra Wagenknecht würde sich mit El Pepe in der Öffentlichkeit zeigen. Wo bleibt das lutherisch-marxistische Arbeitsethos, der Bildungs-Aufstieg zu jenen, die so gebildet sind, dass sie die Welt ruinieren? Experten der Futurologie sprechen bereits von ruinen-produzierender Bildung oder Nihil-Kreativität.

El Pepe, gottlob, gibt es gar nicht. Er ist die Erfindung eines Poeten, der eine Zeitreise ins Reich der Mütter unternahm und seine Fiktionen in eine Geschichte verwandelte, als habe Momo sie erfunden.

Harter Schnitt, wieder aufwachen! Eine humane Zukunft?

„Traurige Nachricht an die Humanisten: Leider ist auch die Utopie vom Multikulti und Frieden auf Erden zu Ende erzählt. Es braucht neues Geschwafel, um die Menschen zu beruhigen, und in Ruhe Pläne zu verfolgen, die die Welt ruinieren werden.“ (SPIEGEL.de)

Wenn Frieden auf Erden (als himmlisches Gnadengeschenk, als Leistung der Menschen oder alles piepegal?) ein Geschwafel ist, um die Welt zu ruinieren, brauchen wir dringend eine neue Geschichte vom endlosen Unfrieden, damit wir endlich unsere verdiente Ruhe kriegen.

Ich habe keine Theorie, ich kann nur eine Geschichte erzählen, pflegen heutige Literaten zu erklären. Seitdem die Ochs- und Esel-Erzählung vom Erlöser zur Heilsgeschichte avancierte, sind keine Gedanken mehr gefragt: es muss eine Geschichte sein, die man etliche Male erzählen kann. Doch plötzlich, niemand weiß warum, ist sie „auserzählt“ wie ein Luftballon, dem die Puste ausging.

Nicht, dass Gedanken und Geschichten sich ausschlössen. Zwischen hübsch erzählten Geschichten, die man glauben kann oder nicht und der Heilsgeschichte, die man glauben muss, gibt es winzige Unterschiede. Geschichten kann man beliebig erfinden, Gedanken hingegen müssen wahr sein.

Ob Erlösergeschichten wahr oder erfunden sind? Gegen solche Fragen sind Gläubige allergisch. Werden sie nicht dadurch wahr, dass die Frommen an sie glauben? Sie glauben, also sind sie.

Wohl denen, die keine Kinder haben. Sie müssen ihnen nicht erklären, warum die Geschichte vom humanen und guten Menschen auserzählt sein soll. Sind doch Kinder hartnäckige und unverbesserliche Gutmenschen, die man tüchtig prügeln und demütigen muss, damit sie endlich an etwas Vernünftiges glauben: an die wohltuende Geschichte der Bestie Mensch. Kleine Probe gefällig? Ach, die Literatur quillt über von beglückenden Proben:

„Ich hasse diese Menschheit, wie wir sie kennen. Ich bin die Menschheit leid – über alle Maßen. Schafft sie ab, reinigt die Erde von diesem Gesindel“, schrieb ein himmelsforschender Professor. Ergänzt von den lieblichen Worten eines weltberühmten Science-fiction-Autors:

„Und was den Rest angeht, dieses Gewimmel aus schwarzen und braunen, schmutzigen weißen und gelben Gestalten, die nicht den neuen Anforderungen an Effizienz genügen – nun, die Welt ist eine Welt und kein Wohltätigkeitsball, und ich habe den Verdacht, dass sie abtreten müssen. Ihr Anteil am Kuchen ist, auszusterben und zu verschwinden“.

Diese Worte sind etwa 130 Jahre alt. Sie passen haargenau in die Gegenwart. In der nächsten Zeit wird sich die Bevölkerung Afrikas mehr als verdoppeln. Millionen und Abermillionen an Menschen werden nicht mehr wissen, wie sie sich ernähren können. Die Klimakatastrophe mit ihren afrikanischen Folgen interessiert weder ENA-Absolventen noch sanftmütige Pastorentöchter im klimagemäßigten Mitteleuropa.

Tja, warum auch vermehren sie sich wie die Karnickel, hatte der Frömmsten einer gefragt, der seine Hände in Unschuld waschen will. Sind sie nicht selber dran schuld, solche zu werden, deren Teil es ist, „auszusterben und zu verschwinden?“ Oder glauben sie etwa, sie könnten Europa fluten und rechtschaffenen Malochern und Zockern die letzten Haare vom Kopf fressen?

Was ist die verheerendste seelische Deformation der Moderne? Das unausgesprochene Schuldgewissen der Eltern, die frohgemut Kinder in die Welt setzen und dann nicht mehr wissen, wie sie ihnen diese erklären sollen. Die Kinder spüren die verschwiegenen Nöte ihrer Erzeuger, wollen sie aber nicht betrüben, obgleich sie selbst im Dunkeln tappen, wie sie ihre Zukunftsängste bewältigen sollen.

In seinem „esoterischen Memoir“ beschrieb H. G. Wells seinen geheimen väterlichen Widerspruch:

„Vierzig Jahre lang habe ich Geld angelegt, Häuser gebaut, Gärten gepflegt, für Kinder und Enkel gesorgt – und all das in völliger faktischer Gleichgültigkeit gegenüber der ultimativen Katastrophe, die sich, wie meine Intelligenz deutlich erkennt, über ihnen zusammenzieht. Die Tierart Mensch, der ich auch als Exemplar zugehöre, ist schlechterdings nicht dazu gemacht, irgendetwas rechtzeitig vorherzusehen: Sie ist dazu geschaffen, die Lage der Dinge als unabänderlichen Zustand zu akzeptieren, was immer Einsicht und Vernunft ihr an Gegenteiligem zuflüstern.“

Das geheime Geständnis eines feigen Vaters und Großvaters ist nichts anderes als das moderne Credo: „Alles ist überkomplex, nichts lös- und veränderbar. Wer hingegen behauptet, alles ist einfach, der sei verflucht: er ist ein Populist.“

Populist ist inzwischen zum Synonym des Gottseibeiuns geworden. Die Bestialitätsanbeter wollen zwar kein Schwarz oder Weiß, kein Entweder-Oder, doch wer Nein zu ihnen sagt, muss der moderne Satan sein. Dabei sind sie selber Populisten, die dem Volk die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit versprechen – die sie ansonsten leugnen wie der Neoliberale die humane Moral. Erstens gibt es keine Moral und zweitens, sollte es eine geben, muss sie sich widersprechen und sich gegengeistig aushebeln. Das sind die kleingedruckten Zusätze zum obigen Credo.

Für die „Schule der Realisten“, die jegliche Humanisierung des Menschengeschlechts als destruktiven Wahn betrachten, gibt es keine Lösung der „Dilemmata“ des Menschen. Ein Dilemma ist die Wahl zwischen Pest und Cholera, wähle, was du willst, du landest immer in der Intensivstation.

Konservative oder realistische Ideologen dementieren das Menschenbild, „demzufolge wir von Natur aus gutherzige Wesen sind, aus unerfindlichen Gründen aber dennoch auf eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung zurückblicken. Jede Theorie, die darauf beharrt, die Strebungen der Menschen seien von Natur aus gütig, friedfertig oder vernünftig, ist unglaubwürdig.“

Es gibt zwar minimale Moralstandards für den Alltag, doch letztlich liegen alle Tugenden in einem unauflöslichen Widerspruch miteinander. Horkheimer benutzte das magische Wort „dialektisch“, um die Unverträglichkeit der Tugenden zu „beweisen“:

„Der Gedanke, es fördere den freien Menschen, wenn es in der Gesellschaft keine Konkurrenz mehr gäbe, scheint mir ein optimistischer Irrtum zu sein. Marx ist nicht darauf eingegangen, daß Gerechtigkeit und Freiheit dialektische Begriffe sind. Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit. Freiheit. Gleichheit, Brüderlichkeit –wunderbar! Aber wenn Sie die Gleichheit erhalten wollen, dann müssen Sie die Freiheit einschränken, und wenn Sie den Menschen die Freiheit lassen wollen, dann gibt es keine Gleichheit.“ (SPIEGEL.de)

Will eine Gesellschaft frei sein, kann sie nicht gleichzeitig gerecht sein; will sie gerecht sein, muss sie ihre Untertanen einsperren. Das also ist der Kern des Komplexen, den Simplizisten nicht wahrhaben wollen.

Horkheimer war zwar kein Apostel der 68er-Revolutionäre, aber der väterliche Genius Adornos, den jene anfänglich als Vordenker ihrer Empörung betrachtet hatten. Diese Ungereimtheiten sind bis heute von keinem Oskar Negt und Alexander Kluge aufgearbeitet. Alles ist im Orkus verschwunden und bestimmt die gegenwärtige Trübsal aus dem morastigen Untergrund. Zum Dank für seine blendenden Verdrängungskünste wurde Kluge von Journalisten zum Klügsten unter den Einäugigen gewählt.

Heinrich Wefing hat zwei Kinder im jugendlichen Alter und macht sich in der ZEIT skrupulöse Gedanken, wie er ihnen die so überraschend schrecklich gewordene Lage der Welt erklären soll. War doch bis vor kurzem alles friedlich und hoffnungsvoll. Plötzlich scheint die Welt von Dämonen der Tiefe überwältigt.

„In den letzten Monaten beschleicht mich immer häufiger ein mulmiges Gefühl. Das Gefühl, dass sich gerade etwas ziemlich Grundlegendes verändert. Für mich, aber auch für meine Kinder. In was für einer Welt werden sie eigentlich erwachsen?“ (ZEIT.de)

Irrtum, die bisherige Welt schien nur friedlich – und auch dies nur für Auserwählte. Was jetzt aufbricht, war schon immer vorhanden, die Auserwählten wollten es nur nicht sehen. Ein Trump fällt nicht vom Himmel, er rekapituliert nur den brutalen Selektionsglauben des amerikanischen Calvinismus. Doch wie lautet nun die Antwort des Vaters Wefing an seine Kinder?

„Was genau es heißt, in diesen Zeiten politisch zu werden, das kann ich gar nicht sagen. Das müssen meine Kinder selbst herausfinden. Aber vielleicht ist das auch nicht so schwer. Denn das Diffuse schwindet, das Beliebige, das Gleichgültige. Die Fronten klären sich, die Fragen spitzen sich zu. Die Zukunft, um es mal ein wenig pathetisch zu formulieren, ist wieder offen. Das, was so abstrakt Globalisierung heißt, schiebt sich massiv in unser Leben: die teils aufreizend ungleiche Verteilung des Reichtums zwischen den wenigen und den vielen. Die destruktive Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd. Die Flüchtlinge. Deutschlands neue, noch ganz unerprobte Rolle in der Welt. Wie das gemanagt, ausbalanciert, neu justiert werden kann, das ist ganz ungewiss. Aber es muss passieren. Und unsere Kinder sind darauf vielleicht besser vorbereitet als irgendwer sonst.“

Wie herrlich entwaffnend: „Ich weiß, dass ich nichts weiß. Alles ist offen, doch die Fronten klären sich. Aber es muss passieren. Und also wird es passieren. Vielleicht sind die Kinder besser darauf vorbereitet als irgendjemand. Warum denn das so plötzlich? Weil sie mehr Sprachen sprechen als andere. Fehlt nur noch der Zusatz: weil sie besser programmieren und den Algorithmus beherrschen als die lieben Eltern.

Instrumentelle Fähigkeiten sind keine Kompetenz der Vernunft. Wer nicht selbständig denken kann, kann es auch nicht in mehreren Sprachen. Das Fazit des Artikels? Ein ehrlicher Vater – und ein vollständiger Bankrott der heutigen Elterngeneration.

H. G. Wells wusste seine geheimen Nöte nicht anders zu beheben, als die ganze Menschheit im Orkus zu versenken. Wenn man schon der Zukunft seiner Kinder nichts Positives abgewinnen kann, sollte man die Schuldigen angemessen bestrafen – und die verruchte Menschheit zur Hölle schicken.

Im Mittelalter suchte man Sündenböcke, die an allem Elend der Welt schuldig zu sein hatten: Hexen, Ketzer, Gottlose und Andersgläubige. Heute – dasselbe! Nehmt die Trumps, Johnsons, Camerons, Farages, die AfD, Pegida und die Populisten – und schon sind alle Probleme gelöst, die dennoch unlösbar bleiben müssen.

Die aufreizenden Visagen der Oberklassen-Dandys eignen sich besonders zum Abwatschen. Diese Politzocker, „die so erfolgreich wurden, weil sie das öffentliche Leben als Spiel betrachten“, wie ein englischer Beobachter schrieb. Dabei wird die Kleinigkeit übersehen, dass Zocken nicht auf Börse und Politik beschränkt ist. Das Va-banque-Spiel ist das Spiel der gesamten Moderne. Auch der erwählten Führer:

„Besonders berühmt geworden ist die Verwendung dieses Begriffs in einem überlieferten Gespräch zwischen Hermann Göring und Adolf Hitler anlässlich der britischen Kriegserklärung 1939. Göring riet Hitler: „Wir wollen doch das Vabanque-Spiel lassen“, worauf Hitler antwortete: „Ich habe in meinem Leben immer Vabanque gespielt.“

Eva Lapido und Stefanie Bolzen beschreiben den spezifischen Oberklassenduft der „britischen Schnösel“ in der WELT:

„Wie also kam es zu dieser unbeabsichtigten Katastrophe? Wie konnte es passieren, dass Großbritannien derzeit jenem verwüsteten Pub im Film gleicht, in dem sich eine Handvoll „Bullers“ ausgetobt hat, die sich jetzt elegant aus der Affäre ziehen? Die Gemengelage ist kompliziert. Doch irgendwo in den komplexen Ursachen des Brexit spielt die Tatsache eine Rolle, dass die Protagonisten aus einer gesellschaftlichen Schicht stammen, in der Führungsanspruch gepaart ist mit ideologischer Wendigkeit, gnadenlosem Wettbewerb, reichlich Spieltrieb und einer gewissen Rücksichtslosigkeit.“ (WELT.de)

Wer bei Spieltrieb an den homo ludens denkt, geht in die Irre. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt,“ das ist Schiller, aber noch kein Zocker des gegenwärtigen neoliberalen Risikospiels.

Beim Spielen der Kinder geht es um Vergnügen und harmloses Wetteifern. Beim Risikospiel der Moderne geht es um Alles oder Nichts. Entweder den Himmel auf Erden durch endlosen Fortschritt – oder das absolute Nichts. Warum ist die mathematische Spieltheorie zum Kern alles gegenwärtigen Würfelns um Alles oder Nichts geworden? Weil sie zur säkularen Transformation des eschatologischen Himmel- und Höllenspiels geworden ist. Die Heilsgeschichte hat einen doppelten Ausgang: Entweder in Gottes Schoß oder ins Feuer seines Widersachers. Tertium non datur.

Silicon Valley ist eine Großzentrale des planetarischen Risikospiels. Alles dem Fortschritt der Maschinen und der Allmacht einiger Titanen. Nichts dem lächerlichen Willen der Völker. Totaler Sieg über Mensch und Natur – auch wenn die ganze Gattung dabei unterginge. Intelligente Roboter werden sie ersetzen und überwinden. Die nichtdigitalisierte Menschheit hat nichts anderes als unrühmlichen Abgang verdient. Friede ihrer Asche.

Der Segen des „riskanten Abenteuers“ liege darin, schreibt der Mathematiker Alfred Whitehead „dass es gefährlich ist. Daher müssen wir erwarten, dass die Zukunft Gefahren enthüllen wird. Es ist die Aufgabe der Zukunft, gefährlich zu sein. Der Pessimismus der Mittelklasse hinsichtlich der Zukunft erklärt sich aus einer Verwechslung von Kultur mit Sicherheit.“ („Wissenschaft und moderne Welt.“) Immerhin gibt er zu, dass es einen „Grad der Instabilität gebe, der mit der Zivilisation unvereinbar sei“. Doch die Frage stellt er nicht, ab welcher dünnen Eisschicht die Menschheit einbrechen wird. Risikooo! Wer wagt, gewinnt, wer nur leben will, hat bereits verloren.

Inzwischen sind alle britischen Politzocker abgetreten oder werden demnächst abtreten. Die Hütchenspieler verlassen das sinkende Schiff. Die Politik liegt fast vollständig in den Händen von Hasardeuren. Nun liegt es am britischen Volk, nicht nur zu jammern, es sei betrogen worden. Mündige Völker lassen sich von niemandem hinters Licht führen. Zum Betrügen gehören immer zwei. Die Betrüger müssen in der Versenkung verschwinden.

Zwei berühmte Wetten stehen im Mittelpunkt des abendländischen Denkens: Pascals Wette um Gott – und Fausts Wette mit dem Teufel.

„Die pascalsche (oder Pascal’sche) Wette ist Blaise Pascals berühmtes Argument für den Glauben an Gott. Pascal argumentiert, es sei stets eine bessere „Wette“, an Gott zu glauben, weil der Erwartungswert des Gewinns, der durch Glauben an einen Gott erreicht werden könnte, stets größer sei als der Erwartungswert im Falle des Unglaubens.“

Das ganze Leben wird zur Wette um Verdammnis und Seligkeit. Nur wer auf Alles oder Gott wettet, hat die Chance zu einem sinnvollen Leben. Wer auf Nichts oder den Teufel setzt, hat keine Chancen.

Fausts Wette hingegen klingt „dialektischer“ und vertrackter – aber auch moderner.

„Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn! Wie ich beharre [d. h. nicht weiter strebe], bin ich Knecht, / Ob dein, was frag ich, oder wessen.

Sollte Faust je einen glücklichen Augenblick erleben, hat er verloren und muss sich ewig als Knecht Mephistos verdingen. Das sinnvolle und erfüllte Leben ist das missglückte Leben. Oder anders: verpfusch dein ganzes Leben getrost in neoliberaler Raffgier – am Ende wirst du doch gewinnen. Das ist die Übersetzung des christlichen Mottos: durch Kreuz zur Krone, durch Schmerz und Leid zum Sieg. „Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird selig werden“.

Wetten, dass?  

 

Fortsetzung folgt.