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Europäische Idee LXXV

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXV,

die Wehrlosen und Feinfühligen trifft es als erste, wenn die Kavernen des Abendlands ihren unterirdischen Müll erbrechen. Das ist erst der Anfang der europäischen Neuwerdung. Die Moderne muss zertrümmert werden, damit die Epoche des HUMANEN ihr sanftes Regiment antrete.

Die Moderne will grenzenlose Macht und unbegrenztes Leben. Den Tod und alle natürlichen Grenzen will sie vernichten. Sie will nicht an ihre Grenzen gehen: sie will sie überschreiten. Naturgrenzen eliminieren heißt Natur eliminieren.

Männersysteme beherrschen die Kunst, die Kosten ihrer Umbrüche an brüchigen Rändern abzulagern, die sie in jahrhunderterlanger Zertrümmerungsarbeit selbst erschaffen haben.

Wir leben in Zeiten des Umbruchs, frohlocken sie – entpuppt sich aber der Umbruch als veritabler Bruch, geraten sie in heiligen Zorn über Um-Brecher, Zocker und Risikospieler, die das Beben nutzten, um sich nach oben zu spülen.

Risiken werden nur gepriesen, wenn sie in bruchloser Sicherheit Zaster bringen. Doch stockt der riskante Profit, werden die Messer gewetzt. Wer Risiken preist, muss auch Scheitern preisen. Scheitern lernen heißt siegen lernen – in Zeiten des Siegs. Schönwetterscheitern in Zeiten des Überflusses ist so riskant wie Monopoly spielen – nämlich gar nicht. Doch wer sich die Fresse an der Realität demoliert, dem ist die Lust am Scheitern vergangen.

Alle Lieblingsbegriffe der Moderne erleiden Schiff-Bruch, wenn sie beim Wort genommen werden. Die Moderne ist zum Zocker-Moloch geworden. Nicht geworden. Schon bei ihrer Taufe wurde das Lotteriespiel, das den Zufall der Auserwählung mit Methode bezwingen wollte, zum systemimmanenten Würfeln um

Seligkeit und Verdammnis.

Auf, lasst uns gefährlich und riskant leben, setzen wir das Wohl der Menschheit aufs Spiel! Kann uns denn irgendetwas geschehen? Uns, die wir das Stadium des widerlichen Menschseins längst überwanden und zu Übermenschen und Göttern wurden?

Wie harmlos: der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Wölfe sind intelligente und solidarische Tiere. Der wahre Hobbes der Moderne lautet: der Mensch ist dem Menschen ein MANN, der sich für GOTT hält.

In seiner Erscheinung als Parasit muss die Kreatur überwunden werden. In der gloriosen Zukunftsepoche der EINPROZENT gibt es weder Hartz-4-Schnorrer noch Fremde, die als Abstauber ins Sozialnetz einwandern.

Risiken der Moderne sind willkommen, solange die Kluft zwischen Denen und Jenen wächst. Doch jedes Wagnis, human zu werden, wird mit Abscheu zurückgewiesen. Sind humane Utopien nicht Wüsten der Langeweile und Einöden abstoßender Selbst-Zu-Friedenheit? Schon wer das Wort Frieden erfand, müsste auf die Galeere.

Das einzige Wachstum, das sicher zu sein hat, ist das der Kluft zwischen denen, die im Licht und jenen, die im Schatten stehen. Doch die im Schatten sieht man immer, wenn es um das Naturgesetz des Machtfortschritts und der ökonomischen Klufterweiterung geht. Die im gleißenden Licht hingegen sind unsichtbar geworden. Ihr Reichtum kann nicht mehr erfasst werden. Sie erlauben sich ein privates Leben über den Wolken, das nur bei Minderbemittelten als Idiotie gilt.

Gab es je auf der Welt eine Demo der EINPROZENT, die gegen ihren eigenen Mammon rebelliert hätte? Ihre lächerlichen Almosen bestärken nur das Gesetz des Heiligen: wer hat, dem wird gegeben. Da sie ein pumperlsicheres Leben führen, preisen sie den Mut zur Unsicherheit – für andere.

Politik müssen sie nicht mehr bändigen, die liegt längst an der Kette. Für die Lieblinge des Himmels arbeiten fast alle Medien und Intellektuellen in ergebener Verblendung.

Seit 600 Jahren sind die ewig gleichen Familien die reichen und mächtigen. Wenn das kein Beweis für ständigen Umbruch und tägliche Neuerfindung der Gesellschaft ist. Dieses ewige Stirb und Werde – das Werde für die Einen und das Stirb für die Anderen. Da bleibt für Arbeiterkinder nur noch Bildung, um ihre nicht existenten Chancen zum Aufstieg zu erhöhen – wenn man sie zuvor belogen hat, dass Bildung Kohle bringe. Auf diese Idee wären sie nie gekommen, wenn sie die Grillos und Winterkorns, die Merkels und Gabriels bei Illner quasseln hören. Pardon, nicht mal dahin kommen sie. Wenn Alphatiere schon Gesalbtes von sich geben, wollen sie von niemandem unterbrochen werden. Nun büffeln die Überflüssigen Sanskrit und Griechisch, um bei der Jobsuche zu erfahren, dass Gebildete Taxi fahren müssen, wenn sie der Bahnhofsmission nicht anheim fallen wollen.

Die Opfer aber bleiben die Schuldigsten. In Europa sind es die gedemütigten Südländer, die Jugendlichen ohne Arbeit und Zukunft, die defekten sozialen Nestbeziehungen, die vom Salär ihrer Männer abhängigen Mütter und deren Kinder, die schon in der Kita lernen, dass sie sich gegen Freunde durchsetzen müssen.

Loslösen von allem, was geldunabhängige Stabilität verspricht: das ist die Losung der frei flottierenden und nur dem Gesetz des Geldes untertänigen Sozialatome, die so vereinsamt sind, dass sie rund um die Uhr miteinander verkabelt sein müssen, um nicht verrückt zu werden.

Die beste Beziehung ist die, die nicht da sein darf, wo man selber ist. Kommt man wieder zusammen, wird alles stumm und trostlos. Wehe, da redete einer im Beisein des anderen, was er übers Netz hemmungslos gequasselt hätte. Hallo, wie geht’s, mein Geliebter? Bist du bescheuert, mich so plump anzumachen? Überall, wo du nicht bist, da spielt das pralle Leben.

Nach den Opfern sind die Feinfühligen die Verwundbarsten. Die demokratisch Feinfühligen. Also die Briten. Bei ihnen bebte es zuerst, weil sie die Ahnung zuließen, dass die Moderne die Demokratie zerstört. Nein, es waren nicht die Alten gegen die Jungen, die Abgehängten gegen die Gewinner. Wer ist Boris Johnson? Welcher mediale Wahnwitz kommt auf die Idee, eitle Solipsisten als Verursacher eines Volksbebens zu bezeichnen? Wären sie wirklich verantwortlich, müsste man sie als Genie-Titanen verehren.

Aus dem Untergrund der Insulaner entwich vielerlei in verwirrender Melange: Sinnvolles und Neurotisches. Zum Neurotischen gehört die verleugnete Scham, als ehemalige Weltmacht justament jenen Kontinentalen Rechenschaft ablegen zu müssen, die man jahrhundertelang als Verlierer der Geschichte nicht ganz ignorieren, aber nur so viel beachten musste, dass sie nicht lästig werden konnten. Der Verlust der ruhmreichen nationalen Grandiosität konnte sich am Ende des Zweiten Weltkrieges noch nicht bemerkbar machen. Immerhin gehörte man zu den Besiegern einer brandgefährlichen Verbrechernation. Da musste man sich gelassen geben, als die unterlegenen Schergen begannen, die Gewinner ökonomisch in den Schatten zu stellen.

Doch was lange gärt, wird endlich brisant. Die älteste Demokratie Europas sollte sich von Hinterwäldlern zeigen lassen, wie sie politisch an der Nase herumgeführt würde?

Nur vordergründig ging es um Geld. In Wahrheit ging es um nationale Ehre und das Gefühl überlegener Demokratie-Kompetenz. Von kontinentalen Demokratie-Darstellern sollen wir uns zeigen lassen, was Gewaltenteilung und gleichberechtigte Mitbestimmung ist? Zumal die Neubekehrten schon wieder vergessen, was sie von uns gerade gelernt haben? Nein, wir Uraltdemokraten haben diesen Youngstern zu zeigen, was eine erfahrene Volksherrschaft ist.

Das scheint die Grundstimmung des Brexit gewesen zu sein. Hinzu kam die Wut der Schwachen, die ihren eigenen Eliten auf Teufel komm raus eine Niederlage verpassen wollten. Auch wenn sie selbst dabei verlieren würden.

Irrational? Wer verstehen will, kann den rationalen Faden im Gewirr verfolgen. In Ermangelung besserer Möglichkeiten bestraft man sich lieber selbst, um seine Autoritäten zu bestrafen, als jene unbestraft davon kommen zu lassen. Selbstverletzer müssen sich selbst verletzen, um ihre Eltern zu verletzen. Das ist nicht rational, aber rationell: die meisten Eltern fühlen sich bestraft. Aktion gelungen, Kind und Eltern auf einen Streich beschädigt. Das ist reziproke Logik unter emotional Abhängigen bei internem Machtgefälle.

Ignorante Sprüche, dass im britischen Referendum Emotionen gegen Vernunft gesiegt hätten. Es gibt keine vernunftfreien Gefühle, keine reine Vernunft ohne Emotionen. Gefühle stehen gegen Gefühle, die ratio ist gespalten. Der Mensch ist kein ausgeklügelt Buch, er ist ein Wesen in seinem Widerspruch.

Der Grundwiderspruch zwischen vernünftigen und unvernünftigen Gefühlen entspringt dem Grundwiderspruch des Abendlandes: dem Konflikt zwischen Glauben und Denken, zwischen heteronomer Offenbarung und autonomer Vernunft. Kein Abendländer, der diesen Konflikt nicht im eigenen Busen ausfechten müsste.

Der Knäuel potentieller Konfliktmischungen, die zeitlich verschiedenen Epochen angehören können, müsste vorsichtig entwirrt werden, um sich ein Bild der seelischen Ablagerungen der Briten zu machen. Mit solchen Wahrnehmungen halten sich Medien und Politiker nicht auf. Sie nehmen das Hackebeilchen und suchen sich raus, was ihren eigenen Interessen entspricht. Braucht man pöbelhafte Verlierer – voila: man hat solche gefunden. Braucht man Populisten, die den eigenen Populismus vergessen lassen – voila, an Populisten ist kein Mangel in Demokratien.

Früher nannte man sie Demagogen: Volksführer oder Volksverführer. Was ist der Unterschied? Wenn ein Demagoge einen anderen zuerst als Demagogen beschimpft, ist er der wahre Volksführer, der andere der Volksverführer.

Dasselbe Spiel wie bei Verschwörungstheorien. Wenn einer, der sich mit einer verdächtigen Sache nicht kritisch beschäftigt hat, einen anderen, der steile Hypothesen über diese Sache verkündet, der Verschwörungstheorie zeiht, ist er der Wissende, der Beschuldigte aber der wahnhafte Narr. Man muss nur das Wort Verschwörungstheorie schmettern und schon hat man keine Argumente nötig, um seine eigene Position zu rechtfertigen.

Populisten versprechen immer etwas – und entlarven sich damit als Lügner. Meistens versprechen sie Unmögliches, nämlich eine Lösung der Probleme. Utopische Problemlösungen aber sind in der gegenwärtigen Komplexität nicht vorgesehen – versprechen diejenigen, die nichts versprechen. Auch sie versprechen etwas: ehrliches und aufrichtiges Versagen. Woher wissen die Antiutopisten, dass Probleme nicht lösbar sind? Das wissen sie nicht, das deklarieren sie. Schließlich haben sie als Eliten die Probleme mit Absicht so verkompliziert, dass die Unterklassen demotiviert werden, ihren eigenen Kopf einzuschalten. Es genügt, wenn sie denen glauben, die die Komplexität behaupten.

Vieles könnte auf den ersten Blick unübersichtlich, in Grundzügen dennoch einfach sein. Es gibt keine Problemverschlingungen, die nicht schlicht und einfach begonnen hätten. Man muss die Komplexitätsschichten behutsam abtragen, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen.

Von dieser Erkenntnisarbeit sollen die Horden abgeschreckt werden. Kern des Komplexitätsgeschwafels ist die Einschüchterung des Pöbels, der das Denken den großen Tieren überlassen soll. Wäre also die Abschreckung erfolgreich, könnte man die ganze Demokratie einpacken.

Alles, was der Mensch erdacht und hergestellt hat, kann er auch verstehen und beurteilen. Alle Probleme, die er produzierte, kann er auch sezieren und lösen. Vorausgesetzt, er will sie lösen.

Wer menschliche Probleme für unlösbar hält, verhält sich automatisch so, dass sie für ihn unlösbar werden. Sein Fürwahrhalten wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Dass Probleme unlösbar scheinen, zeigt, dass den hochmütigen Zauberlehrlingen das Ganze über den Kopf gewachsen ist oder dass sie das Volk hinters Licht führen wollen.

Des öfteren ist zu lesen, Demokratien seien nicht mehr in der Lage, zu halten, was sie versprechen. Doch es gibt keine Frau Demokratie, die den Völkern irgendetwas versprechen könnte. Erneut wird Biblisches mit Rationalem verwechselt. Der biblische Gott verheißt und erfüllt – oder auch nicht. Demokraten können nur versprechen, was sie selbst zu tun gedenken. Ob sie Erfolg haben werden, kann niemand garantieren. Absichten verkünden ist das Eine; sie erfüllen das Andere.

In einer rationalen Menschheit wäre es ein Geringes, rationale Taten zu vollbringen. Doch je irrationaler die Menschheit wird, desto schwerer wird die Ausführung des Rationalen. Rationale Minderheiten, die in einer Despotie die Menschenrechte schützen wollten, würden es schwer haben. Viel wahrscheinlicher wäre es, dass sie von Schergen des Despoten ausgeschaltet werden würden.

Warum ist die europäische Linke tot? Weil sie als Populistenpartei begann und heute nicht mehr weiß, ob sie noch an die Lösung menschlicher Probleme glaubt oder ob sie ihr Urversprechen dementieren muss. Ist der ziellos wirkende Pragmatismus der Linken nur der Weg des Kompromisses, um eines Tages doch noch das Reich der Freiheit zu erkämpfen? Oder haben die Proleten das ursprüngliche Ziel des Kampfes um Gerechtigkeit längst aufgegeben? Sie sagen nicht Hü und nicht Hott. Sie winden sich an die Macht und überlassen es ihrer Klientel, an die Utopie der gerechten Gesellschaft zu glauben oder nicht.

Parteianhänger sind treue Menschen, sie leiden mit ihren Führern und unterstellen ihnen stets die besten Absichten. Es dauert lange, bis ihr blinder Glaube in Wut umschlagen kann. So geschehen in Britannien. Wie lange erduldet das Volk die Schmerzen der Unklarheit, nur, um seine Autoritäten zu schützen? Das wäre eine Variante der Logik der Selbstverletzer. Lieber beschädigt man sich selbst, als jene, auf deren mächtige Hilfe man angewiesen scheint.

Das Grundvertrauen scheint den unteren Klassen abhanden zu kommen. Das wäre eine totale Misstrauenserklärung gegen alle Eliten. Man könnte auch von der Entstehung eines revolutionären Grundgefühls sprechen. Zieht euch warm an, ihr komplexen Verächter der Völker. Alles könnte schneller gehen als eure Auguren es euch melden könnten. Das muss keine gewalttätige Revolution sein. Gewalt lässt sich mit überlegener Gegengewalt besiegen. Doch wenn die Mehrheit der Völker eine friedliche Veränderung wollte, hätten die Oberklassen keine Chancen mehr, die Macht des gewaltlosen Widerstandes zu brechen.

Es kann kein Zufall sein, dass der europäische Hexenkessel dort zuerst aufbricht, wo die demokratische Sensibilität am stärksten ist. Das ist das Land Lockes und Mills, einer einstmals selbstbewussten Arbeiterschaft und der gelehrten Fabian Society, vieler englischer Suffragetten, feministischer Schriftstellerinnen, Bertrand Russells und von George Grote, dem hervorragenden demokratischen Historiker der athenischen Demokratie: eine Kategorie, die im platonisierenden Deutschland unbekannt ist. Eine stolze Ahnengalerie lebendiger und wehrhafter Demokraten, auf die wir Deutsche mit Bewunderung und nicht ohne Gefühle heimlichen Neids blicken können.

Dennoch darf der Blick nicht kritiklos sein. Die demokratische Tradition der Insel ist durch die Erfindung des Kapitalismus nicht unwesentlich geschwächt. Das „irrationale“ Ergebnis des Referendums hat den Engländern die Ahnung vermittelt, dass der Kampf zwischen demokratischer Selbstbestimmung und süchtiger Gier nach Mammon in der Nachkriegszeit nur unter der Decke gehalten wurde. Hier das alte Renommiergehabe einer Weltmacht, die noch immer Wert legt auf spezielle Freundschaft mit Amerika, dort das aufkeimende Unbehagen, dass die alten Gefühle der Überlegenheit über Europa nicht mehr den Tatsachen entsprechen.

Krisen können kathartisch sein. Welch wunderbares Gefühl der jetzt an den Tag gekommenen Zusammengehörigkeit der europäischen Völker, wenn die Anhänger der EU die Unterstützung der kontinentalen Freunde als Bestätigung ihres Ja empfinden können. Veränderungen geschehen selten ohne Schmerzen. Erst müssen unliebsame Altlasten entsorgt und verstanden, der Dialog der Völker zum Bedürfnis werden. Selbsterkenntnis erfordert Mut vor dem eigenen Spiegelbild.

Die Eliten verstehen die Welt nicht mehr. Das kann man der Juncker‘schen Borniertheit entnehmen, dass er ausgerechnet in der jetzigen Empörung über demokratische Defizite die Handelsabkommen TTIP und CETA an allen Parlamenten vorbei schleusen will. In Deutschland wächst der Widerstand gegen Volksbefragungen, weil man glaubt, in dem englischen Referendum eine kollektive Fehlleistung zu erkennen. Das ist Windbeutelei à la Augstein und ähnlicher Salonlinker, die das Volk beschimpfen und an die Kette legen wollen.

Das britische Referendum war eine emotionale Augenblicksaufnahme, keine politisch ausgereifte und belastbare Befragung des Volkes. Cameron und seine übermütigen Oxford-Boys missbrauchten die Idee einer direkten Volksabstimmung – um sie madig zu machen und ihr eigenes Süppchen zu kochen. Das ging gründlich in die Hose der Va-banque-Spieler.

Wie kann man eine nationale Schicksalsfrage ohne Zweidrittelmehrheit und ohne Möglichkeit einer korrektiven Stichwahl durchführen? Nicht mal das Ergebnis der Umfrage war bindend. Das Parlament wäre jederzeit berechtigt, die Entscheidung des Volkes zu ignorieren und seine eigene Meinung durchzusetzen. Das alles war Irrsinn und zeugt vom Triumph der Zockermentalität über das Politische.

Der Ungeist des Neoliberalismus hat sich im Zentrum der Agora eingenistet. Liberalismus? Liberal ist freiheitlich. Davon kann im ökonomischen Liberalismus keine Rede sein. Freiheit ist keine Berechtigung der Starken, auf Kosten der Schwachen ihren Reibach zu machen. Das Naturrecht der Starken hat sich durch die Hintertür des Wohlstandes ins Gehäuse der Demokratie eingeschlichen.

Unbegrenzte Wirtschaft hat alle Gewaltenteilung über den Haufen geworfen. Dies spüren die Basisdemokraten in ganz Europa, die Briten haben das Gespür an die Öffentlichkeit gebracht. Das wird nicht ohne Folgen bleiben. Volksbefragungen müssen solide gelernt und eingeübt werden, wie das Beispiel der vorbildlichen Schweiz beweist.

„Das Brexit-Chaos ist nicht deshalb ausgebrochen, weil jetzt zu viel direkte Demokratie im Spiel war, sondern vorher zu wenig. Der Brexit war eine demokratische Rebellion, vielleicht gar eine Art demokratische Notwehr der Vergessenen. Politische Stilnoten waren hier gewiss nicht zu holen, doch in all den Jahren zuvor hatten die Briten nie Gelegenheit, sich auch nur zu Teilen dieses europäischen Gebildes zu äussern.“ (NZZ.ch)

Der Schock auf der Insel sitzt tief und wird Langzeitwirkungen nach sich ziehen. Das bornierte Brüssel und das begriffsstutzige Berlin setzen weiterhin auf business as usual. Wie immer gibt sich Merkel sanftmütig im Ton und knallhart in der Sache. Keine Rosinenpickerei, kein Verständnis, keine zweite Chance. Das hätten sich die Briten früher überlegen müssen, assistiert der Finanzminister seiner Bismarck‘schen Kanzlerin. Griechenland war nicht das erste Opfer des deutschen Bonny & Clyde-Paares, England wird nicht das letzte sein.

Wandert das hochmütige Britannien ab, wird Deutschland davon profitieren. Frankfurt hofft auf die schwindelerregenden Gelder der Londoner Banken. Wenn sich das ungeliebte Albion verabschiedet, wird Deutschland zur unbestrittenen Führungsmacht Europas. Schon buckelt der SPIEGEL vor dem Machtzuwachs der Pastorentochter, die das Magazin mit dem Ausspruch eines wahren Experten – eines CSU-Mitglieds – verniedlicht:

„Der EU-Abschied Großbritanniens bedeutet eine machtpolitische Aufwertung Berlins. Fortbestehende Nato-Mitgliedschaft der Briten hin oder her. „Wer auch immer Deutschland regiert“, kommentiert das „Time“-Magazin, „er oder sie erhält einen Macht-Boost durch den EU-Abschied der Briten.“ Ob das nun gewollt ist oder nicht. In Deutschland ist das traditionell eher nicht gewollt. Doch man wird es sich künftig weniger denn je aussuchen können. Da kommt etwas zu auf das Land und auf seine Kanzlerin. Seit dem Brexit-Referendum in der vergangenen Woche zeichnet sich nun ab, wie Merkel auf diese neue Situation zu reagieren gedenkt: Deutsche Führung ja, aber keinesfalls deutsche Dominanz. Von „Ruhe und Besonnenheit“ ist bei ihr die Rede und davon, dass nun die Rest-EU der 27 gemeinsame Entscheidungen treffen müsse.“ (SPIEGEL.de)

Merkel und machtgeil? Das sei ferne von ihr. Dominanz ist ihr wesensfremd, sie kennt nur Ruhe und Besonnenheit. Jeden Machtzuwachs empfängt sie in der Demut einer Magd des Herrn. Ist sie nicht die erste Dienerin der Deutschen und aller Europäer?

Die deutsche Nation sei durch „ihren edeln und großmüthigen Charakter bestimmt, die erste Rolle in Europa zu spielen“. Durch die „Reinheit ihrer Moral, durch ihren Seelenadel“ würden sie Engländer und Franzosen zu sich erheben, die ihres Handels wegen mehr an sich als an andere denken würden“. So schrieb ein Franzose vor 200 Jahren, so schreibt der SPIEGEL noch heute.

Merkel, die am gesamteuropäischen Debakel überall führend beteiligt war, soll nun dessen Folgen kurieren. Die Kanzlerin gibt, die Kanzlerin nimmt, ihr Name sei gepriesen. Ist Gott für sie, wer kann wider sie sein?


Fortsetzung folgt.

PS. Wie eben gemeldet, droht das nächste europäische Debakel. Die österreichische Präsidentenwahl muss wiederholt werden. Selbst in technischer Hinsicht scheinen europäische Eliten immer unfähiger, eine demokratische Wahl durchzuführen. Zeit für das Volk, ihren überforderten Komplex-Klassen die Urnen aus der Hand zu reißen.