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Europäische Idee LXXIV

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXIV,

und er bewegt sich doch. Der Kontinent macht einen verheißungsvollen Ruck. Mustergültige Isländer, die ihre Panama-Raffkes in die Wüste schicken und eine neue Regierung wählen! Aus dem Schlaf taumelnde vorbildliche Briten, die sich auf ihre uralten freiheitlichen Fähigkeiten besinnen und die Kompetenz des Handelns zurückfordern! Das, liebe Germanen, ist Demokratie: vitale, selbstbestimmte Völker lassen sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Sie mögen sich einlullen, eine Zeitlang betäuben und ruhig stellen lassen. Dann aber macht‘s Klick – und sie sind hellwach und tun, was Demokraten tun müssen: sie beanspruchen das Recht und die Macht, sich selbst zu regieren.

Wie schick hingegen im Binnenland, gegen Volksabstimmungen zu sein, besonders, wenn die Meute „falsch“ abstimmt. Früher war es die Todesstrafe, die als Dauerbeispiel für kollektive Irrationalität herhalten musste. In jener Nachkriegsphase wohlgemerkt, die noch hitlerisch verseucht war. Doch das war sie nicht nur für die da Unten. Es waren nicht die Etablierten, die die NS-Vergangenheit kämpferisch aufzuklären begannen.

Auch Waffensucht, Fremden- und Gottlosenfeindschaft der Amerikaner sind keine Privilegien der Entprivilegierten. Trump ist ein Spitzenprodukt der Eliten, die nur für das Gute der Nation zuständig sein wollen. Das Schlechte überweisen sie in Dauerprojektion an das Lumpenkapitaliarat. Damit erweisen sie sich ihrem Schöpfer ebenbürtig, der nur das Gute und Heilsame erschaffen haben will, für das erbsündige Böse sind die Erschaffenen selber schuld. Zwar steht in ihren heiligen Schriften das Gegenteil, doch ekstatische Heiliggeistbesitzer lassen es sich nicht nehmen, ihren Schöpfer eines Besseren zu belehren. Was er wirklich meinte – in seinem Alter ist er nicht frei von dementia praecox –, wissen Erleuchtete besser.

Auch Roland Nelles vom SPIEGEL hat keine Angst vor Liebesverlust, wenn er

gegen zwanghafte Referenditis wettert: „Ich werde mich unbeliebt machen, aber für mich ist klar: Volkentscheide sind in vielen Fällen Unfug.“

In welchen Fällen Fug, in welchen Unfug? Kein Problem, die SPIEGEL-Redaktion mit Augstein & Nelles an der Spitze erstellt ein kostenloses juristisches Gutachten. § 1: jede Volksabstimmung, die den Eliten seelische Bekümmernisse und ökonomische Defizite einbringt, ist nachträglich für ungültig zu erklären. Jede Abstimmung hingegen, in der das empathielose Volk vorauseilende Ahnung des Oberen Willens zeigt, ist Zeichen ihrer Demut und ihres devoten Respekts vor dem Überkomplexen und Unverstehbaren. Das Volk ist nur brauchbar, wenn es in Konkordanz mit oberen Klassen agiert. Oligarchie, Herrschaft der wenigen, so viel wie möglich, Ochlokratie, die Herrschaft der Meute, so viel, wie nötig.

Wer ist die Jury über den wankelmütigen Plebs? Die Unfehlbaren von Oben. Weder sind sie an Finanzkatastrophen schuld, noch an der Erfindung des Reiches des Bösen, noch an erbarmungslosen Konkurrenzen zwischen Reich und Arm. § 2: Eliten sind immer die aristoi, die Besten und Unschuldigen. § 3: sind sie es mal nicht, gilt § 2.

Wie merkwürdig: dieselben, die nicht müde werden, vor Helikoptereltern zu warnen, die ihren Kindern keine Risiken zumuten und keine Fehler gestatten, verwehren es dem Volk, in Versuch und Irrtum Mist zu bauen. Wie soll das Volk lernen, wenn es keine Fehler begehen darf? Doch Lernen und Entwickeln ist in modernen Maschinendemokratien nicht vorgesehen. Wer in entfremdeter Arbeit fehlerlos funktionieren muss, darf in politicis keine einzige Dummheit begehen. Die Welt militärisch und penunzenmäßig in Trümmer zu legen, muss das Privileg jener bleiben, die über die Macht des Wortes und die Macht der Macht verfügen.

Das Volk ist auch nur ein Mensch. Wenn ihm Lernen und Entwickeln in Irrtum und Einsicht vorenthalten wird, entartet es zu jener Bestie, die die Oberen als Sündenbock benötigen, um von ihrem eigenen Verfall abzulenken. Trumps ungefilterte Brutalität ist upper class, nicht mal am Stammtisch werden Gegner und Feinde so erbarmungslos niedergemacht.

Die Sprache der Oberen mag geglättet, höflich und merkelisch klingen, doch die Eingeweihten kennen den Code, mit dem sie das Versteckte und Verdrängte entschlüsseln können. Auch hier gilt das hermeneutische Vorbild heiliger Schriften, die einerseits unfehlbar, andererseits von Eingeweihten erst gedeutet werden müssen. Das Unfehlbare ist die heilige Lüge eines Gottes, der die Lizenz wahren Verstehens seinen Erwählten überlassen muss, die ihm längst über den Kopf gewachsen sind.

Heilige Lügen sind heilsame Lügen Gottes, der es nur gut mit den Menschen meint, besonders jenen, die ihn für eine verbrecherische Fata morgana halten. Sprich leise und samaritanisch, hab aber immer einen Stock hinterm Rücken, um die Grenzen Europas so hermetisch abzuriegeln, dass kein Mäuschen den doppelten Nato-Zaun bezwingen kann.

Aus dem Wörterbuch der Helikoptereliten: Obergrenzenlos ist jene tod- und verderbenbringende Grenze, die außerhalb des nationalen Gesichtsfelds eingerichtet werden muss, damit die – plötzlich sensibel und übermoralisch gewordene – Meute nicht zu randalieren beginnt. Merke: ob die Meute amoralisch oder übermoralisch, hasserfüllt oder voll überströmender Liebe für die Menschheit ist: stets ist sie unnütz und kontra-konsumtiv. Von produktiv kann ohnehin keine Rede sein.

Sein berühmtes Buch „Psychologie der Massen“ schrieb der französische Arzt Le Bon – „Der Gute“ – in jener Jahrhundertwende, als die Gefahr der Revolution der Proleten durch erste Konsumabfütterungen und Einführung sozialer Minima gemildert – aber nicht abgewendet war. Noch immer hatten die oberen Gewinner der Moderne – also diejenigen, die Gott lieb hat – versteckte Ängste vor den gierigen, neidischen und aufmüpfigen Massen. Um die Angst zu reduzieren, musste der Feind im eigenen Volk analysiert werden – nicht zu seinem Vorteil.

Von Le Bon über Freuds Massenpsychologie, Jaspers – „Die geistige Situation der Zeit“ – bis zum „Aufstand der Massen“ von Ortega y Gasset waren die Abgehängten der unteren Klassen gefährlicher als Fremde weit hinten in der Türkei. Die Eliten, die zwei Weltkriege und die Kolonisierung der Welt zu verantworten hatten, waren prinzipiell die Guten und Ehrbaren, die aufgehetzten Massen hingegen die stets zur Verfügung stehenden Bestien vom Dienst. Nie gab es eine reinere und unschuldigere Machtelite als in jenen Zeiten, als der Westen die Welt in Brand setzte und die „minderwertigen Rassen“ in Ketten legte.

Woher kam das gute Gewissen der planetarischen Brandstifter? Es war wie bei Dabbelju Bush, der die muslimischen Reiche des Bösen – die rein zufällig über die reichsten Ölvorräte der Welt verfügten – mit Gewalt zur Demokratie bekehren wollte. Just so war der Westen vom missionarischen Eifer beseelt, der ganzen Welt die Mär vom christlichen Messias und die Frohbotschaft des segenbringenden Zasters zu bringen. Und seid ihr nicht willig, so brauchen wir Gewalt.

„Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet alle Völker zu Jüngern und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Die Omnipräsenz des auferstandenen Pantokrators („Herrscher der Welt“) ist die unsichtbare Machtquelle der Jesuaner, die alle Mittel einsetzen dürfen, um die Macht des Satans in den heidnischen Völkern zu brechen. Folter, Versklavung und Völkernord inbegriffen. Sündiget tapfer, wenn ihr nur glaubt. „Gott gab mir den Befehl, Saddam anzugreifen, also griff ich ihn an“, beteuerte der wiedergeborene amerikanische Präsident. Tony Blair, damaliger sozialdemokratischer Premierminister Englands, folgte ihm bedenkenlos im gleichen Glaubensfuror.

„Die Masse ist eine Herde, die sich ohne Hirten nicht zu helfen weiß. Sobald eine Anzahl lebender Wesen vereinigt ist, ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge, unterstellen sie sich unwillkürlich einem Führer. Sehr oft war der Führer selbst ein Geführter, der von jener Idee hypnotisiert war, deren Apostel er später wurde. Die meisten Menschen sind nicht imstande, sich selbst zu leiten, so dient ihnen der Führer als Wegweiser. Die Herrschaft der Führer ist äußerst gewaltsam und verdankt nur der Gewalt ihre Geltung. Nicht das Freiheitsbedürfnis, sondern der Diensteifer herrscht in der Massenseele. Ihr Drang, zu gehorchen, ist so groß, dass sie sich jedem, der sich zu ihrem Herrn erklärt, instinktiv unterordnen.“ (Le Bon)

So falsch kann die Analyse nicht gewesen sein. Kaum 20 Jahren nach der Veröffentlichung begann die Reihe der charismatischen Führer in Europa mit Mussolini. Gleichwohl müssen wir fragen: sind diese volksverachtenden Thesen, nach vielen Demokratisierungsschüben und Niederlagen der Führer, heute noch richtig?

Völlig falsch sind sie noch immer nicht, völlig richtig aber auch nicht. Der Siegeszug der Demokratie ist am Unbewussten der Völker nicht spurlos vorübergegangen. Eine Union europäischer Völker wäre in der Zeit der Weimarer Republik nie möglich gewesen. Heute ist sie Realität, wenn auch eine gefährdete.

Doch nicht so gefährdet, dass man gleich den Frieden gefährdet sehen muss, wie die deutsche Kanzlerin in ihrem geruchlosen Minimalsound glaubte, betonen zu müssen. Dabei ist sie es, die die Kriegsgefahr in der Welt durch Waffenexporte in despotische Regimes, durch ein wahnwitziges Wirtschaftssystem, Erhöhung des Wehretats und Unterstützung aufreizender NATO-Manöver gegen Russland täglich mehr verschärft.

Da die Moderne die Logik der klaren Sprache abgeschafft hat zugunsten frei flottierender und widersprüchlicher Assoziationswolken, gibt es niemanden in Deutschland, der die Kriegskanzlerin mit pazifistischen Schalmeitönen zum Teufel wünschte. Merkel, mächtigste Frau der Welt, hat am meisten dazu beigetragen, die EU in Trümmer zu legen. Dennoch gilt sie als einzige Politikerin, der die Deutschen blind vertrauen.

Die Genialität ihrer PR-Leistung beruht auf der unbewussten Gleichschaltung der Deutschen mit ihrer geistlichen Führerin. Die Deutschen, im Untergrund noch immer religiös, im Bewusstsein aufgeklärt, vertrauen einer Mutterfigur, die das Unbewusste der Deutschen bedient, ohne es bewusst anzusprechen. Stattdessen akzeptiert sie die „facon de parler“, immer von rationaler Politik zu reden, wenn sie ihre kalmierende Politik des Gottvertrauens im Stil einer Magd Gottes zelebriert. Sie besänftigt die aufgeregten Deutschen mit der Parole: Frieden und allen Menschen ein Wohlgefallen.

Seit der moralischen Explosion der 68er-Revolte und der ökologischen Bewegung sind die Deutschen von einem gigantisch schlechten Gewissen durchdrungen, dem Schuldgefühl, an der apokalyptischen Verelendung der Völker und der Zerstörung der Natur nicht unwesentlich schuld zu sein. Da sie alles Biblische verdrängen, wissen sie nicht, dass ihre apokalyptischen Untergangs- und Versagensängste in der Bibel begründet sind.

Instinktiv behandelt Merkel die wunde Seele ihrer Untertanen, als ob sie um deren Nöte wüsste. Solange ich bei euch bin, kann euch nichts geschehen. Das ist der Grund, warum die Deutschen das stille Kirchlein im Dorf unter Denkmalschutz stellen, obgleich sie selber glauben, nichts mehr zu glauben. Mütterlein, das für ihr Land betet, muss gegen die Gottlosigkeit der Welt geschützt werden.

Zum Komplex des verdrängten schlechten Gewissens gehört die Eruption der Moral, die am liebsten alle Flüchtlinge der Welt an die eigene Brust gedrückt hätte, um einmal zu verwirklichen, was sie ein Leben lang hörte, aber nie wagte: unpragmatisch und bedingungslos den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Der Rausch der Willkommenskultur wollte mit einem Schlag gut machen, was man viele Jahre egoistischen Wohlstands schlecht gemacht hatte.

Politische Moral aber darf sich mit Herzensergießungen nicht begnügen. Sie muss leidenschaftlich und kühl-rational sein. Sie darf sich nicht mit einem Event zufrieden geben, der alle „Sünden“ der Vergangenheit und der Zukunft mit einem Paukenschlag vergeben und vergessen lässt. Sie darf nicht auf dem Ethos einer exklusiven Religion beruhen, sondern auf der Humanität allgemeiner Menschenrechte.

Erlöserreligionen wollen keine Veränderung und Verbesserung der Welt. Ihre Moral ist nur geldfixierter oder bargeldloser Ablasshandel, um sich Seligkeit zu erkaufen. Die irdische, sündige Welt ist längst dem apokalyptischen Ende übergeben, das durch keinen Menschen außer Kraft gesetzt werden kann.

Politische Humanität ist nicht exklusiv, sondern will Übereinstimmung mit allen Menschen dieser Welt – unabhängig von Glauben, Rassen und Kulturen. Auch mit guten Zwecken kann man die Gesellschaft spalten. Wenn man etwa keinen Wert darauf legt, dass die ganze Gesellschaft diesen Zweck unterstützt.

Merkel spaltete die Deutschen und die europäische Union. „… dann ist das nicht mehr mein Land“, ist kein Argument, sondern eine persönliche Erpressung. Wenn Mutter die hilflose Familie mit Abgang bedroht, damit ihr diktatorischer Wille geschehe – und sei er sachlich noch so gerechtfertigt –, dann übt sie Gewalt. Hat sie ihren alleinseligmachenden Willen schon öfter mit dem Gesicht eines Engels durchgesetzt, darf sie sich nicht wundern, wenn die Gequälten jedes Wort von ihr als unbefugte Erpressung empfinden.

Diese subkutanen Gefühle kommen nirgendwo zur Sprache. Politikern und Edelschreibern ist das Unbewusste der Völker eine Schimäre. Lieber glauben sie an den heiligen Rock in Trier als an die Erkenntnisse der Dichter und Seelenforscher seit 100en von Jahren.

Die Massen der Gegenwart sind noch immer auf die Führung der oberen Klassen angewiesen. Aber nicht mehr mit Haut und Haar. So weit haben sie sich emanzipiert, dass sie ihre Fügsamkeit durch permanentes Aufbegehren unterlaufen müssen. Shitstorms sind der Beweis ihrer Fixiertheit an die Eliten wie auch des aggressiven Ärgerns wegen dieser Fixiertheit. Sie brauchen ihre Führer, sei es, um geführt zu werden, sei es, um sie wegen deren Unersetzlichkeit aus allen Rohren zu schmähen. Niemals wären die heutigen Massen fähig, sich autonom von den Eliten abzusetzen und ein eigenes Gemeinwesen zu gründen.

Jetzt erst beginnt diese Fähigkeit, sich in Europa zu entfalten, wenn Schotten, Katalanen, Basken und andere Minderheiten daran denken, sich von ihren Nationen zu trennen und sich innerhalb Europas selbständig zu machen. Die Polarisierung in entgegengesetzte Richtungen zeigt den Virus der Veränderung.

Es tut sich was in Europa. In England zerfallen die Parteien, die Köpfe der Alphatiere rollen. Noch schaffen es die kritischen Kräfte nicht, zu artikulieren, was sie wollen. Sie wissen nur, dass sie das bestehende Betonsystem ablehnen, in dem die Reichen immer reicher werden und die Armen zunehmend verelenden.

Dass Vertreter der „Führer“ wie Cameron und Merkel sich zu gottgleichen Formeln wie „alternativlos“ oder „unumkehrbar“ hinreißen lassen, zeigt ihre innere Anspannung, sich mit nüchternen Alternativen nicht mehr zufrieden geben zu können, um die befürchtete Empörung der Massen prophylaktisch niederzuhalten. Je mehr sie übertreiben, je aussichtsloser wird ihre Position.

Versteht sich, dass es in diesem sklerotisierten Europa keine Debatten geben kann. Auch nach dem Eklat des Brexit gibt es keine öffentlichen Streitgespräche zwischen insularen Befürwortern und Juncker & Co. Warum werden kritische Engländer gezwungen, alles auf eine Karte zu setzen, anstatt erst mal ihre Meinung in Brüssel vorzutragen? Was tut Merkel, wenn ganz Britannien mit einem historischen Entschluss kämpft? Sie betreibt Gruppenseelsorge mit ihrer Schwesterpartei, ohne zuzugeben, dass sie sich Wunden zugefügt haben. Lass die Nachbarn brüten und fighten – was geht’s uns an?

„Da kommt am Freitag die Nachricht, dass die Briten für den Brexit gestimmt haben – mit enormen Folgen für die EU und Deutschland. Und was macht die Spitze der Union? Sie fährt, als ob nichts gewesen wäre, zu einer zweitägigen Familientherapie nach Brandenburg. Hat die Kanzlerin in so einer Krise nichts Besseres zu tun? Doch Angela Merkel und die anderen Unionsgranden ließen den Brexit-Tag lieber bei einem Grillabend am Seeufer ausklingen.“ (Süddeutsche.de)

Die hohen Vertreter Brüssels wollen die undankbaren Engländer sofort an die frische Luft setzen, anstatt Gespräche zu führen, ob man nicht unter anderen Bedingungen wieder zusammenkommen könne.

Oh doch, die Engländer haben das Recht, schockiert zu sein über ihr eigenes Ergebnis und eine neue Abstimmung zu fordern. Bei wesentlich unwichtigeren Wahlen gibt es Stichwahlen – und hier soll es keine geben? Dürfen die Briten keine Fehler machen, nicht über sich erschrecken, dass ihre Wahlbeteiligung zu klein war und sie einen Plan B nie ins Auge gefasst hatten? Dass die jungen Briten sich zu wenig an den Wahlen beteiligten? Unumkehrbar ist nichts in der Welt von dem, was der Mensch selbst verursacht hat.

Demokratie ist Lernen mit Fehlern und neuen Einsichten. Nichts davon wird in Brüssel praktiziert. Die EU ist eine Dampflok, die unter besinnungslosem Hochdruck in den – Abgrund rasen muss.

Das Ergebnis ist so knapp und wichtig für das Wohlergehen der Insel und Europas, dass eine Wiederholung unter neuen Umständen allemal sinnvoll wäre. Zukunftsanbeter sollen sich täglich neu erfinden, aber Fehler dürfen sie nicht ausbügeln?

Juncker, Küsser aller Kollegen, hat nichts Besseres zu tun, als die Engländer im hohen Bogen rauszuwerfen. Wie immer mimt Merkel die Sanftmütige, doch ihrem rabiaten Assistenten wird sie sich nicht ernsthaft in den Weg stellen. Sie spielen das Spiel guter und böser Kommissar.

Es spricht für die wieder erwachte demokratische Leidenschaft der Briten, dass sie binnen kürzester Zeit eine Petition mit Millionen Stimmen zustande brachten, um den Exit aus dem Brexit zu suchen. Endlich kommen Emotionen auf in Europa, die sich ihre Argumente suchen müssen.

Während Gefühle auf der Insel hochkochen, betreiben die Deutschen business as usual. Mit knapper Not wurde Anne Will ins Studio verdonnert, um den historischen Augenblick mit dem obligaten weißen Rauschen zu unterlegen. Danach Fußball.

Nach der Vorarbeit der Briten könnten Kritik und Gegenkritik schonungslos ausgetauscht werden. Wie sind die Erfahrungen der Völker? Was geschieht in Brüssel, das mündige Demokraten nicht mehr ertragen? Die Eliten sind stumm. Stumme Mächtige aber können sich mündige Gesellschaften nicht leisten.

Wir müssen die Nomenklatura der EU dazu bringen, ihre Machenschaften auf den Tisch zu legen und zu rechtfertigen – oder sie einzustellen. Auf offenem Markplatz werden wir von EU-Machthabern hinters Licht geführt, wenn man sich die Kungeleien um TTIP und CETA betrachtet.

Auffällig, dass in deutschen Medien vor allem über die Massen hergezogen wird. Die Rolle der Kapitalisten bleibt im Dunkeln. Wo waren die Stellungnahmen der Betriebe? Haben sie außer Profitakkumulation noch anderes in ihrem geldgeilen Gehirn? Was war die Hauptursache des Abschieds der Briten?

Doch es war kein Abschied, es war nur eine Distanzierung. Jetzt wird getan, als ob die Insulaner entrückt und nicht mehr auffindbar wären. Außer veränderten Formalien ändert sich aber nichts. Dass die Jungen um ihre Zukunft fürchten, ist verständlich, aber eine Übertreibung. Sollten Briten und Kontinentale sich vor dem Konflikt wertgeschätzt haben, können ihre Beziehungen heute nicht völlig anders sein.

Die Briten haben zum ersten Mal für die Erfahrung des Scheidens gesorgt. Lasset uns die Schlussfolgerungen daraus ziehen – auf dass wir auf solider Grundlage unsere gerettete Zusammengehörigkeit feiern.

Die Hauptursache der Zerwürfnisse ist der eingebaute Kardinalwiderspruch zwischen erbarmungsloser Konkurrenz (no bail out) – und der viel gepriesenen, aber nicht praktizierten Solidarität der Mitglieder. Zusammenarbeiten, indem man gegeneinander wütet, das ist die Ursünde der EU. Sie muss aus der Welt geschafft werden, indem die Gründungsurkunden der EU – von Kohl mit wirtschaftlicher Amoral kontaminiert – neu geschrieben werden. Europa muss selbstkritisch nachdenken und einstimmig mit sich werden: das ist die Lehre des Brexit.

Die EU ist eine in die Jahre gekommene Routine-Beziehung, in der nichts anderes mehr getan wird, als sich gegenseitig Konto-Auszüge zuzuschieben und die Höhe des eigenen BIPs mitzuteilen – um an der Illusion festzuhalten, man hätte noch eine Herzensbeziehung. Die Briten wollten sich mit solchen Ritualen nicht länger zufrieden geben und schlugen Krach.

Nutzen wir den Konflikt, um eine gesamteuropäische Gruppendynamik zu entwickeln. Wenn Europäer auf allen Ebenen miteinander reden, streiten und sich verständigen, kann die EU kein Auslaufmodell sein.


Fortsetzung folgt.