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Europäische Idee LXXIII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXIII,

zur Minute liegen die Befürworter des englischen Abschieds hauchdünn vorne. Was geschieht, wenn das Unerhörte geschieht? Wem sagen die Briten Good bye – Gott mit euch, ihr Kontinentalen? Der anonymen Brüsseler Zentrale der europäischen Wirtschaftslokomotive?

Nein, sie verabschieden sich von Italienern, Franzosen, Deutschen, Ungarn, Polen, Letten und allen einzelnen Mitgliedsnationen der europäischen Union: macht‘s gut, Europäer, wir müssen scheiden, unauflösliche Ehen gibt‘s nur im Himmel.

Hug a Brit? Einzelne umarmen – gern, doch ganz Britannien ans Herz drücken, daraus wird nichts. Die Flitterwochen nach vielen zermürbenden Ehejahren dauerten nur wenige Tage. Die Liebe, ach, währte nicht mal einen Sommer.

Ade nun, ihr Lieben!
Geschieden muß sein.
Es treibt in die Welt
Uns mächtig hinaus.

Wolf von Lojewskis Beten half nicht, Rolf Seelmann-Eggebrechts gentlemanlike Trauer kam zu spät. Die Gondeln des verschlissenen Europa müssen Trauer tragen. Die erste Scheidung der einst polyamor-trunkenen Abendländer ist Realität geworden. Ist sie unumkehrbar, wie Cameron verkündete, der sich zum Herrn der linearen Zeit aufschwang?

Mittlerweilen ist es amtlich, der Abschied ist beschlossen. Der Befürworter jubelte in historischen Dimensionen:

„»Möge der 23. Juni als unser Unabhängigkeitstag in die Geschichte eingehen.« Er hoffe, dass dieser Sieg das „gescheiterte Projekt“ EU zum Fall bringen werde. Farage sagte auch: »Wir haben gewonnen, ohne eine einzige Kugel abgefeuert zu haben.«“ (SPIEGEL.de)

Dich sollen hochmütige Tyrannen niemals zähmen,

alle ihre Versuche dich zu beugen,

werden nichts als selbstlose Begeisterung hervorbringen,

aber ihr Leiden schaffen und deinen Ruhm mehren.

Dir gehört die Herrschaft über das Land,

Deine Städte sollen im Glanze des Handels strahlen,

Ganz dein soll das unterworfene Meer sein,

und dein jedes Gestade, das es umschließt. (Rule Britannia)

Sind die hochmütigen Engländer an ihrem Desaster selber schuld? Haben sie Europa nicht jahrhundertelang verachtet? Sollte dort nicht ein Gleichgewicht der Kräfte herrschen, damit kein einzelner kontinentaler Staat ihnen gefährlich werden könnte? Sollen sie doch Segel setzen mit ihrer Insel und gen Amerika schippern. Dort werden ihre puritanischen Nachfahren – sie auch nicht mehr erwarten. Hochmut kommt vor dem Fall.

Nun kommen die Leichenbeschauer und Kondolenzprediger. Alle sind erstaunt. Was ist geschehen? Schuldige sind ohnehin abgeschafft. Ignoramus et ignorabimus, wir wissen nicht und werden nie wissen.

BILD-Blome beklagt britisches Irre-sein und beteuert germanische Unschuld und Ahnungslosigkeit:

„Also doch: Die Briten sind irre. Sie haben mit Mehrheit beschlossen, die Europäische Union zu verlassen und sich damit allesamt selbst in den Kopf zu schießen. Soll man vor Verblüffung lachen? Oder weinen, weil kein Land in Europa ohne Schaden bleiben wird? Leider letzteres. Es ist ein schwarzer Tag für Europa! Denn klar ist am Morgen danach: Der Brexit ist nicht Sache der Briten allein. Warum war ein reiches, pragmatisches Land bereit, sich in weltfremden Insel-Isolationismus zurückzuziehen? Was ist so fürchterlich schief gelaufen, dass eine Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft wie Europa so wenig Strahlkraft ausübt, so wenig Sex-Appeal – und es einigen Demagogen deshalb gelingt, mit Halbwahrheiten, Lügen und Fremdenhass eine Mehrheit der Wähler gegen diese einst so große Idee aufzubringen? Das müssen sich alle fragen. Antworten hat niemand. Auch wir Deutschen nicht.“ (BILD.de)

Jubelstürme bei den Rechten allerorten: es komme der Dominoeffekt und befreie uns von Brüsseler Zwingherren und dieser engelgleichen deutschen Zwingherrin. „Die Niederlande werden die nächsten sein“. (SPIEGEL.de)

Keinen einzigen Abend „opferten“ die Öffentlich-Rechtlichen dem Gesamtthema: „Britannien und wir. Was treibt unsere skurrilen Vettern um?“ Keine einzige öffentliche Debatte fand statt zwischen Engländern und Deutschen, Schotten und Bayern, Londonern und Hamburgern, Vertretern des Unterhauses und Abgeordneten des europäischen Parlaments. Dafür wird’s heute Abend überlange Brennpunkte geben. Die nachfolgenden Krimis verschieben sich um geschlagene 15 Minuten.

Bloß gut, dass König Fußball pausiert. Kann denn Wales weiterhin am EM-Turnier teilnehmen? An schönen Dingen wollen sie partizipieren, doch einer des andern Last tragen, kommt für schnöde Krämer nicht in Frage. Nein, an den Sentiments deutscher Helden zu Rosamunde Pilcher und ihrer aphrodisiakischen Küste Cornwalls wird sich kein Jota ändern. Waren doch ihre Reichen und Schönen allesamt für Europa. Nur die „Globalisierungsverlierer“ aus heruntergekommenen Proletenstädten schäumten vor unbritischer Wut, erklärte ein britischer Journalist in PHOENIX.

Ökonomen und ökonomisch denkende Journalisten beherrschen die deutschen Kanäle. Ging es nicht vor allem um Wirtschaft? Ist die EU nicht ein reines EURO-Projekt – wie die mächtigste Frau der Welt behauptete und in Brüssel erzwang? „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“, sagte die barmherzige Samariterin.

Maischberger konfrontierte den luxemburgischen Außenminister Asselborn mit Verheugens Kritik an der EU, sie sei nicht demokratisch genug. Kleinlaut wich der Angesprochene aus: habe die EU-Kommission nicht viel Segen über Europa gebracht?

Eliten bringen Segen, der undankbare europäische Mob spuckt auf den elitären Segen? Maischberger, wie immer beredt-meinungslos, beharrte nicht auf einer genauen Antwort auf ihre Frage, warum die EU-Kommission keine wählbare und abwählbare Institution sei.

Für deutsche Beobachter gilt immer mehr, sich mit der eigenen Meinung nicht gemein zu machen.

„Bei mir ist es leider so, dass ich zu vielen Themen keine Meinung habe. Meinungen sind jedermanns persönliche Sache. Sie wachsen aus Gerüchten, Geschmäckern, Ahnungen, Informationen. Es geht nicht um Wahrheit, sondern um Haltung, Vergewisserung und Teilnahme, vielleicht um Missionen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Zufall, dass die Absage an die Wahrheit in dem gleichen Moment verkündet wird, in dem die wahrheitslose und wirtschaftssüchtige EU Schiffbruch erleidet? Scheinbare Zufälle sind oft keine. Das demokratische Europa wurde auf Wahrheit gegründet. Jener zu suchenden Wahrheit, die sich im Streit der Gleichberechtigten als Schwarmintelligenz herausmendeln kann.

Die Wahrheit der Polis „ruhte auf den beiden Pfeilern Autonomie und Autarkie“. Hier handelte es sich nicht um göttliche Gebote – wie das christliche Abendland heute hoch und heilig beteuert –, „diese Lebenshaltung entsprang dem seelischen Wesen des Menschen, der sie an der Erfahrung erprobte. Wer sie durchführt, der ist der wirklich starke und freie Mensch, der nichts fürchtet und unabhängig von Menschen und Dingen sich selbst genügt.“ So beschreibt ein Griechenfreund die sokratische Wahrheitsliebe, die einzige Medizin, die dem modernen Europa aufhelfen könnte. Doch solch vermessene Hybris hat der Herr der Zeiten gottlob zur Sünde erklärt.

Europa wird es zu nichts mehr bringen, wenn es nicht zur Wahrheit zurückkehrt. Zur selbsterdachten Wahrheit des Menschen, nicht der Zwangsbeglückung des Himmels. Wahrheit erkennt man an der „sichtbaren Übereinstimmung von Denken und Handeln, der schlichten Rechtschaffenheit ohne Eitelkeit und Pathos, die dem Toben des Mobs ebenso widersteht wie Verlockungen und Drohungen mächtiger Klassen und Gewaltherrscher.“

Europa geht fehl, wenn es seine demokratische Grundlegung in Athen verleugnet. Unterstützt von Himmelsschwärmern und – Althistorikern, die es besser wissen sollten. Doch die deutschen Gelehrten haben ihr Rückgrat an die Meistbietenden verkauft, an lärmende Edelschreiber und dominanzsüchtige Plutokraten. Ihre Bildung hat nicht den Zweck, die schnöde Gegenwart über sich selbst aufzuklären. Bildung tragen sie vor sich her wie Eisverkäufer ihre Bauchläden. Was haben vergangene Zeiten mit der Gegenwart zu tun? Tempi passati, Schrott von gestern. Schauen wir nicht zurück, sonst erstarren wir zu Salzsäulen. Blicken wir nach vorne – ins futurische Nichts, woher uns Hilfe kommen wird.

„Keine Frage, man kann von der Betrachtung des alten Athen für heutige Demokratien nichts lernen – außer dass die Übertragung des Begriffs «Demokratie» in die Moderne höchst problematisch und irreführend ist. Selbst in Schweizer Kantonen ist eine Herrschaft des Volkes, nimmt man das Wort konkret, allenfalls bruchstückhaft möglich. Sollte man, ohne das Wort zu kennen, das Funktionieren eines politischen Gemeinwesens im modernen Europa beschreiben, würde man wohl gar nicht erst darauf kommen, es zu bilden. Und führt sein Gebrauch nicht immer wieder dazu, Erwartungen zu wecken, die nicht zu erfüllen sind, also Enttäuschung, vielleicht gar Bitterkeit oder Hohn hervorzurufen?“ (NZZ.de)

Christian Meier sieht nur auf den quantitativen Unterschied zwischen der athenischen Polis, in der sich fast alle persönlich kannten, und den unüberschaubaren Riesenrepubliken der Gegenwart, in denen viele Einzelne wenige Repräsentanten wählen müssen. Eine stabile Demokratie aber lebt nicht von delegierten Aufgaben, sondern von der demokratischen Qualität jedes Einzelnen. Dessen Aufgabe besteht nicht nur darin, qualifizierte Stellvertreter zu wählen, sondern auch die politischen Künste der Regierungen zu beurteilen und sich lautstark zu Wort zu melden. Einmal in vier Jahren ein Kreuzchen machen: das ist keine Demokratie.

Liest man Meiers bekanntes Buch „Die Entstehung des Politischen bei den Griechen“, ist man erstaunt, dass der Gelehrte die charakterlichen und intellektuellen Fähigkeiten eines Demokraten sehr wohl erkannt und beschrieben hat. Doch all seine trefflichen Betrachtungen scheinen für eine moderne Demokratie nicht zuzutreffen, die für Meier eine anonyme Maschine sein muss, an der jeder in rituellen Zeitabständen gewisse Knöpfe zu drücken hat. Demütig beuge er sein Haupt vor den Gewählten, als seien sie Boten des Himmels.

„Das grundlegende Problem, vor dem sich die attische Bürgerschaft gegen Ende des 6. Jahrhunderts fand, bestand darin, ihren Willen im Zentrum der Polis regelmäßig anwesend zu machen; um es kurz zu sagen: bürgerliche Gegenwärtigkeit (présence civique) zu bewerkstelligen. Die Bürger mussten eine neue Solidarität entdecken, begründen und befestigen, eine neue Ebene des Zusammenlebens, auf der sie Bürger unter Bürgern waren. Eine breite Schicht in der Bürgerschaft wollte künftig regelmäßig und wirksam mitreden; es waren Wege zu suchen, um ihren Willen gegenwärtig zu machen. Schon längere Zeit hatte es Zweifel gegeben an der natürlichen Überlegenheit der Adligen. Jetzt büßte das Gefälle zwischen Adel und Nicht-Adel endgültig seine Evidenz ein. Aus der Gleichheit konnte man politische Konsequenzen ziehen. Der Weg war frei für die Behauptung, nicht nur der Gleichheit vor dem Recht, sondern der politischen Gleichheit aller Bürger. Das bedeutete Isonomie. Isonomie ruhte auf der Anschauung, dass alle Bürger gleichermaßen beurteilen konnten, was dem Gemeinwesen frommt, dass also alle für das Gemeinwesen verantwortlich seien. In diesem Gleichheitsanspruch lag der Wunsch, wenn nicht die Forderung, nach wirksamer Mitsprache, nach Kontrolle des Gemeinwesens in wichtigen Angelegenheiten. Gleichheit und Recht gingen endgültig die enge Verbindung ein, die sich aus dem Begriff Isonomie nicht mehr verlor. Gleichheit wurde zum zentralen Merkmal einer guten Ordnung. All dies konnte nur gelingen durch eine dauerhafte Politisierung des Volkes. Breite Schichten der attischen Bürgerschaft sollten selbständiger, einander vertrauter und mächtiger gemacht werden. Teilhabe an der Politik beschränkte sich nicht auf den höheren Stand, sie erstreckte sich auf alle, praktisch bis zu den mittleren Schichten herab. Aus Untertanen wurden selbständig denkende und handelnde Bürger. Es gab keine Kaste, auch keine religiöse, welche als Hüterin des Wissens und Glaubens die Eigentümerin des Denkens hätte sein können. Die Bürger waren auf freies Denken angewiesen. Solon war von der Überzeugung beseelt, dass man vor den Problemen der Zeit nicht verzweifeln müsse, sondern etwas dagegen tun könne. Nicht Götter hätten die Mißstände der Zeit verursacht, es waren die Bürger selbst, die ihre Probleme verschuldet hatten. Also war es möglich, die rechte Ordnung selbst wieder herzustellen. Die rechte Ordnung konnte nicht erst in der Zukunft liegen. Die Polis lebte von der Voraussetzung, dass eine wirkliche Verbesserung der Polis nicht möglich war, wenn sich nicht breitere Schichten an der Politik beteiligten. Verschiedene Reformen von Solon über Kleisthenes bis Perikles erbrachten eine Umwertung der Werte zugunsten einer Ethik der Polis. Neue Maßstäbe verbreiteten sich. Weisheit und Gerechtigkeit konnten als die wichtigsten Tugenden erscheinen. Das korrespondierte mit der Forderung breiter Schichten nach Recht (dike). Die mächtigen Adligen mussten unter Kontrolle gebracht werden. Es entwickelte sich eine Solidarität auf der Basis grundlegender Gleichheit. Immer breitere Kreise von Bürgern engagierten sich und strebten nach wirksamer und regelmäßiger Mitsprache in politicis.“ (Meier)

Meier muss all seine Einsichten vergessen haben, als er seinen demokratie-allergischen Artikel in der NZZ veröffentlichte. Es soll nicht mehr wichtig sein, den Mut zu freier Meinungsäußerung zu lernen? Zeigen die shitstorms der Gegenwart nicht die Sünden einer Vergangenheit, in der die Menschen nicht in der Lage waren, ihre Positionen der Öffentlichkeit mitzuteilen? Heute können sie dies – aber nur unter Beleidigungen, Schmähungen und Bedrohungen. Einem freien Volk, das seine Meinung nicht unterdrücken müsste, könnte ein derart unflätiger Ausbruch seines kollektiven Unbewussten nicht passieren.

Die griechische Urdemokratie war nicht perfekt. Sie war work in progress, ein in Versuch und Irrtum lernendes Gemeinwesen. Frauen und Sklaven waren aus dem demokratischen Prozess ausgeschlossen. Doch die philosophische Moral der sokratischen Schulen – besonders der Kyniker und Stoiker – war schon dabei, die allgemeinen Rechte für alle Menschen zu formulieren und zu fordern.

Heute werden die Griechen wegen ihrer Fehler geschmäht, nicht, um ihnen gerecht zu werden, sondern um die Demokratie als ganze in Verruf zu bringen. Für Demokratieverächter Marx war Athen nur eine Sklavenhaltergesellschaft. Wie lange benötigten marxistische Linke, um ihren Frieden mit dem demokratischen Geist zu schließen? Fundis haben noch heute dogmatische Schwierigkeiten mit dem Phänomen des Kompromisses oder der Partizipation an der Macht. Auch die Grünen mussten diese Urwerkzeuge einer funktionierenden Isonomie mühsam lernen. Freilich schossen sie – wie alle Parteien – übers Ziel hinaus und verwechselten Kompromisse mit der Selbstdestruktion ihres ursprünglichen Denkens.

Sind moderne Demokratien etwa fehlerfrei? Wann wurden die schweizerischen Frauen gleichberechtigt? Wann wurde die Sklaverei in den USA – nicht nur auf dem Papier – abgeschafft? Warum werden Mütter mit Kindern in der BRD noch immer schlechter gestellt als ihre kapitalistischen Männer? Warum verdienen Frauen noch immer weniger als „gleich qualifizierte“ Männer? Warum gibt es noch immer mehr Männer in führenden Positionen als fähige Frauen?

Die demokratische Ignoranz in Deutschland ist so immens, dass selbst religiöse Märchen von der Geburt der Demokratie in Bethlehems Stall Anklang finden. Die unantastbare Würde soll auf der Gottebenbildlichkeit des Menschen beruhen, als ob der Gott der Vergeltung und entwürdigender Belohnung der Präsident eines himmlischen Parlaments wäre, deren Voten er sich mit Freuden unterstellen würde.

Wird heute die Frage gestellt, was die Ursachen der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft seien, kommt kein Edelschreiber auf die Idee, sie in den mangelhaften demokratischen Tugenden der Deutschen zu suchen, die in Zeiten wirtschaftlichen Wohlstands von Zuckerguss lediglich überdeckt waren. Jetzt, in anschwellenden Krisen, werden sie von Unzufriedenen und Enttäuschten ventiliert, von bankrottierenden Eliten den Schwachen angehängt.

Demokratie ist ein tägliches Geschäft, eine unaufhörliche Aufgabe, ein permanentes Bedürfnis selbstbewusster Menschen. Wo auch immer sie leben, in der Schule, an den Unis, an Werkbänken und Schreibtischen, vor dem kapitalistischen Chef, dem dreisten Priester, den hörigen Medien. Nicht zuletzt in der Familie, in denen das Kind sich unbestraft und ungehindert zum mündigen Menschen entwickeln darf. Wer solche Simplizitäten als politische Forderungen erhebt, wird des irrealen Utopismus verdächtigt. In allen Parteien sind Aufsteiger gesucht, keine wehrhaften Demokraten.

Von den Griechen könnten wir nichts lernen? Haben wir denn bereits Ataraxie gelernt, die Unerschütterlichkeit der Seele, ihre Unabhängigkeit von äußerlichem Tand, Reichtum und Macht?

Genügend Parrhesie, die Freimütigkeit im Reden?

Genügend Autonomie, die Selbständigkeit im Denken?

Genug Isonomie, die Gleichwertigkeit aller Menschen?

Genug Dikaiosyne, Gerechtigkeit, das einzige Mittel gegen alle Kluftbildungen zwischen Reich und Arm?

Woran stirbt Europa? An der Verwandlung der Demokratie in eine Monstermaschine, mit der ungewählte Eliten sich anmaßen, das Glück der Nationen in isolierten Konferenzen zu reglementieren. An der Verelendung einer Völkervereinigung zum Schlachtfeld von Tycoons, die mächtiger sind als mehrere Nationen zusammen. Jeden Monat lesen wir, dass die Zahl der Millionäre und Milliardäre auf Erden gestiegen ist. In der Londoner Innenstadt kann kein Sterblicher mehr wohnen, weil die Giganten der Welt alles aufgekauft haben.

Der Abschied der Briten ist nicht unumkehrbar – wie alles, was der Mensch zu entscheiden hat. Der Brexit muss zu einem Donnerhall in Europa werden, um den Völkern zu signalisieren, dass sie Europa – nein, nicht neu erfinden – sondern neu demokratisieren müssen. Die Erfindung ist uralt, sie muss nicht künstlich neu erfunden werden, damit die Europäer ihre vorbildlose Genialität beweisen können. Das verdrängte Alte muss erinnert und praktiziert werden.

Wenn Völker die Demokratie neu entdecken und ihre gewählten Regierungen darauf verpflichten, dann können sie versuchen, die Briten fürs gemeinsame Haus Europa zurück zu werben. Die Briten haben nicht – wie Tony Paterson und Elmar Brok auf allen Kanälen wiederholen – irrational gewählt. Ihre uralte demokratische Sensibilität machte es ihnen unmöglich, die Autokratie der Merkel & Juncker-KG einen Tag länger zu ertragen. Wider alle Regeln der Ökonomie erleiden sie lieber wirtschaftliche Einbußen, als sich von einigen Superheroes gängeln zu lassen.

Warum versagen alle anderen Völker, die alles aus Brüssel apathisch über sich ergehen lassen? Warum sind die Briten die einzigen, denen lebendige Demokratie ein Herzensbedürfnis ist? Thank you, älteste und erfahrenste Demokratie Europas. Entweder wird die EU zu einer transnationalen Demokratie nach dem Vorbild der USA oder sie wird nichts werden.

Althistoriker Karl-Wilhelm Weeber ist das genaue Gegenstück zu seinem Kollegen Meier, der – ein echtes Vorbild für Merkel – die Griechen versenkt hat. Weeber schrieb ein Buch mit dem Titel: „Hellas sei Dank; Was Europa den Griechen schuldet“. Von den Griechen könne man lernen, was ein miserabler Demokrat sei: ein Idiot, der „gemeinschaftsschädlich und selbstbezogen handelt.“ Solch ein apolitischer Pfau sei kein stiller, sondern ein schlechter Bürger, dekretierte Perikles. Woran erkennt man den Citoyen? Nicht an seinem Kontostand, nicht an seiner Arbeitswut, nicht an seinem Bundesverdienstkreuz für Untertanen, die bei Gauck vergessen, ihre Meinung zu sagen.

„Rechtes politisches Handeln bestehe darin, mitzumachen, sich einzumischen und den Nutzen für die Allgemeinheit nicht aus den Augen zu verlieren. Das ist Arete, die demokratische Tugend.“ Der Mensch ist ein politisches Wesen, kein geld- und machtraffendes Ungeheuer ohne Obergrenzen. Nehmen ohne zu geben, kann nicht gut gehen.

„Was das politische Engagement der modernen Politen angeht, können wir von den alten Griechen einiges abschauen.“ Und was?

„Vernunft und Leidenschaft“.  

 

Fortsetzung folgt.