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Europäische Idee LXXII

Hello, Freunde der europäischen Idee LXXII,

„KEIN DER GEOMETRIE UNKUNDIGER SOLL DIESEN ORT BETRETEN.“

„Ich habe kaum jemals einen Mathematiker kennengelernt, der in der Lage war, vernünftige Schlußfolgerungen zu ziehen.“

Beide Zitate sind von Platon. Sie scheinen sich zu widersprechen.

Nachdem die Moderne das Lesen und Denken verlernte, ist jetzt die Mathematik fällig. Maschinen werden erfunden, die den Menschen in allen Disziplinen übertreffen. Bücher werden nach der Maxime gelesen: was in diesem Text steht, bestimme noch immer ich.

Vorbilder der Buchstabenvergewaltigung sind heilige Schriften, deren inhumane Botschaften nicht durch radikale Kritik entkernt, sondern im Wortlaut als Offenbarungen festgehalten werden, die man per ordre de mufti mit Wunschdeutungen umnebelt, um sie unsichtbar zu machen.

Was würde man von einer Feuerwehr halten, die das Feuer nicht löschte, sondern mit optischen Künsten der Wahrnehmung entzöge? Der giftige Kern bleibt, die verbalen Schaumkünste, die ihn verdecken sollen, wuchern ins Endlose.

Schrift, die wunderbare Erfindung der Menschheit, wird wertlos. Buchstaben werden durch magische Projektionen in ihrer Klarheit vernichtet. Lesen wird Anleitung zum Träumen und Phantasieren. „Seinen Traum verwirklichen“ ist zur Handlungsmaxime der Zukunftstotalitaristen geworden. Es ist nicht der Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, sondern der Alptraum der Gottebenbilder, der die Welt in einen Schrotthaufen verwandelt.

Wer die Realität der Buchstaben nicht wahrnimmt, hält die objektive Wirklichkeit für eine tabula rasa, die man mit eigenen Hieroglyphen besiedeln und

besudeln kann. Von Philosoph zu Philosoph schrumpfte die äußere Realität immer mehr zu einem presque rien (fast Nichts), das man mit eigenen Träumen illusionär neu erfinden konnte.

Lockes tabula rasa wollte den angehäuften scholastischen Schwindel aus dem Gehirn der Menschen entfernen. Der Akt der Säuberung entartete zu einer Annullierung all dessen, was Menschen der Mutter Natur zu verdanken haben. Der von aller Tradition gereinigte Mensch wuchs zuerst zum Giganten, der der Natur vorschrieb, wie sie sich verhalten soll, schließlich zum creator ex nihilo, der die Natur nach seinen Wünschen konstruierte. Weshalb sie von Konstruktivismus sprechen, der es ablehnt, eine sogenannte Realität anzuerkennen, damit der Mensch nicht gezwungen werde, sie schmählich zu plagiieren.

Erkennen ist nicht Dechiffrieren der äußeren Wirklichkeit, sondern creatio continua aus der unendlichen Brust: die immer wieder vom Punkte Null an beginnende Konstruktion der Welt aus dem hohlen Kopf der Kreativen. Erkennen ist Schaffen, Lesen ist Neuerfinden der Texte. Wissenschaft betreiben ist kein Akt der Bescheidenheit vor der Natur, sondern der omnipotente Versuch, sie durch eine menschen-gemachte zu ersetzen.

Bei der Mathematik gelingt das Kunststück der allgewaltigen Gottgleichheit am wenigsten. Wer mathematisch denkt, kommt nicht so schnell auf die Idee, die Gesetze der quantitativen Zahlenformeln selbst erfunden zu haben. Der Hochmut der Konstrukteure weicht der Scheu, „heiliges“ Gelände zu betreten, wo man bescheiden mit dem Einmaleins zu beginnen hat. Heilig nicht als Anbetung einer übernatürlichen Religion, sondern der Bewunderung und Verehrung der Natur.

Warum sind so viele Menschen Mathematikgeschädigte? Weil sie den Spagat von der subjektiven Allmacht zum Bestaunen des Objektiven – das dem Belieben des Menschen nicht untersteht – nicht schaffen.

Wahre Vernunft hat kein Problem, die Natur als menschenunabhängige Quelle alles Seins anzuerkennen und sie im Akt neugierig staunenden Erkennens wahrzunehmen. Vernunft ist bescheiden vor der Natur. Demut ist die Perversion der Bescheidenheit im Ducken und sich klein Machen vor einer unerkennbaren Gottheit.

Ein Erkennender fühlt sich nicht klein und bedeutungslos, wenn er die Geheimnisse der Natur entschlüsselt. Er spürt, dass er selbst Natur ist. Im Erkennen der Natur begreift er sich selbst: Gleiches erkennt Gleiches, äußere und innere Natur finden zueinander. Erkennen ist einswerden von Mensch und Natur.

Platon nannte es die Wiedererinnerung der Seele, die einst im Schoße der Natur weilte. Das Neuerkannte ist das Uralte, das wir vergessen und verdrängen. Erkennen geht nicht ins Unendliche einer aus Nichts zu konstruierenden Zukunft, sondern macht sich auf, ihre Biografie als Naturwesen zu erfassen. Würde der Mensch sein Erkennen der Wahrheit als Heimkehr in die Natur betrachten, wäre er davor gefeit, den Ursprung alles Seins zu zerstören. Denn er würde seine eigene Heimstatt zerstören.

Wer hingegen Wahrheit als übernatürliche Offenbarung betrachtet, muss seine natürliche Herkunft ausradieren: sie ist die Heimstatt des Bösen, die dem Neuen und aus dem Nichts Erfundenen weichen muss. Bei Platon haben wir bei der Geburt schon alles in uns, wir müssen es nur aus Vergessenheit in Transparenz umwandeln. In der Erlöserreligion hat der Mensch nichts in sich – außer dem Erbe des Bösen. Alles Gute muss er sich von Oben geben lassen.

Die Zukunft der Moderne ist die an den Sankt Nimmerleinstag verziehende Offenbarung einer übernatürlichen Wahrheit. Gegenwart und Vergangenheit sind Epochen des Sündigen und müssen hinter uns zerstört werden. Gedenket nicht des Vergangenen, sondern richtet euch aus nach dem Zukünftigen.

In der irdischen Philosophie der Griechen gibt es nur eine Zukunft, wenn Vergangenheit begriffen und Gegenwart in vitaler Daseinsfreude gelebt wird. Zukunft ist die Summa erarbeiteter Vergangenheit und einer transparenten Gegenwart. Messianische Zukunft ist Totschlägerin einer satanischen Vergangenheit und einer hassenswerten Gegenwart.

An der Mathematik scheitert die ganze postmoderne Leugnung der objektiven Wahrheit. Wohl kann man alle „geisteswissenschaftlichen“ Meinungen als subjektive Beliebigkeiten vom Tisch wischen, nicht aber die Wahrheit des Einmaleins, die zu allen Zeiten und an allen Orten der Welt dieselbe ist.

Mathematische Wahrheit war für Platon das Vorbild aller Wahrheit. Wer in seiner Akademie Philosophie studieren wollte, sollte eine Ahnung von der Zeitlosigkeit aller Wahrheit mitbringen. Die Moderne hat sich wechselnden Offenbarungen einer übernatürlichen Heilszeit unterworfen; Zeitlosigkeit ist für sie eine lachhafte Hinterwäldlerei.

Nun ist es geschehen: das mathematische Unglück, das jeder kennt, aber niemand ernst nimmt, sondern als allzumenschliche Schwäche abhakt.

„Lehrer aus ganz Deutschland empören sich über die zentrale Matheprüfung für Zehntklässler in Berlin und Brandenburg: Die Aufgaben seien zu leicht gewesen.“ (SPIEGEL.de)

Worum ging es? Um die „superleichte Aufgabe“, aus den Ziffern 2, 3 und 6 die größtmögliche Zahl anzugeben, die man aus den drei Zahlen bilden könne.

Erstaunlich, dass ein Didaktiker für Mathematik der Einschätzung der Lehrer widerspricht, anstatt sie nach Zunftregeln der Frontalpädagogik zu unterstützen:

Kortenkamp: Die Aufgabe erscheint wirklich lächerlich, da fühlen sich viele Zehntklässler veralbert. Aber wenn man sich die Frage genau durchliest, geht es weniger um Mathematik als um Textverständnis: Da ist von Plastikkapseln die Rede, die hintereinandergelegt eine Gewinnzahl ergeben sollen. Ich kenne Kinder, die nicht doof sind und auch Mathe können und mit der Aufgabe trotzdem überfordert wären – einfach, weil sie sie nicht verstehen. Gerade Kinder mit Migrationshintergrund scheitern vielleicht schon am Wort Plastikkapsel.“

Mathematiker brüsten sich der rigiden Ja– oder Nein-Logik ihrer Wissenschaft. Hier gebe es keinen Raum für das Gefasel und Geschwätz der Konkurrenzwissenschaften, die keine seriösen Wissenschaften seien. Niemand kommt auf die Idee, das Entweder-Oder der Mathematik als dualistischen Terror der Vernunft zu verteufeln.

Hier zeigt sich an einem unscheinbaren Beispiel der Abgrund der gegenwärtigen Schulpädagogik und „Kinderbildung“, der von Wirtschaftlern und Politikern geforderten Voraussetzung allen späteren Aufstiegs. Selbst Sarah Wagenknecht legt Wert auf Bildung als Bedingung allen Aufstiegs, erklärte sie in einem 3-SAT-Interview. Aufstieg wohin und für wie viele?

Steigen wenige Leistungskräftige auf, bleiben die meisten Mittel- und Unter“begabten“ auf der Strecke. Freundschaften und soziale Beziehungen werden zerrissen – zugunsten eines egoistischen Alleingangs und zu Lasten der mehrheitlich Abgehängten. War dieser unsolidarische Egoismus nicht das „Urböse“ für eine gerechte und gleiche Gesellschaft?

In einer gerechten Gesellschaft gibt es kein Oben und Unten, kein Auf und Ab. „Götter walten überall“ und walten sie nicht, kann es keine gerechte Gesellschaft sein. Eine klassenlose Gesellschaft erkennt man an der potentiellen Präsenz aller auf der Agora, wo jeder dem anderen auf gleicher Augenhöhe begegnet.

Ummauerte Reviere und ausgeschlossene Populationen können niemals eine freie und gleiche Gesellschaft bilden, in der Unterschiede des Salärs keine Rolle spielen. So etwa war es in den vorbildlichen Zeiten der Nachkriegsepoche, so etwa muss es wieder werden – auf der ganzen Welt. Nicht naturschädliche Luxusfluten und Machtgefälle, sondern humane Verhältnisse müssen globalisiert werden.

Schulkinder, die durchaus rechnen können, scheitern regelmäßig an Textaufgaben. Wo liegt ihr Problem? Sie haben nicht gelernt, einen Text zu entschlüsseln. Zwar können sie Texte vorlesen, doch Verstehen ist im Lesen nicht inbegriffen. Wenn man ihnen im obligaten Religionsunterricht – der keine Einladung zur kritischen Verwendung der Vernunft ist – Texte frommer Mythen serviert, die sie niemals verstehen, werden sie schnell an ihrem Verstand irre. Da das Heilige noch immer emotionaler Mittelpunkt einer christlichen Gesellschaft ist, übertragen die Kinder ihre Verständnisschwierigkeiten der frommen Texte automatisch auf alle Texte.

Niemand kann Texte verstehen, der nicht ermutigt wurde, seinen eigenen Verstand beim Lesen zu benützen. Die allgemeine Lese- und Verständnisschwäche ist nichts anderes als Denkschwäche, die Frucht verbotenen Einschaltens des eigenen Kopfes. Wer nicht mehr mitdenken kann, überlässt sich automatisch den Weisungen der Autoritäten.

In der Unfähigkeit zu lesen liegt die Abrichtung der Jugendlichen zu autoritär geleiteten Untertanen. Noch immer ist Religion die wirksamste Methode der Obrigkeit, sich eine gefügige Basis zu schaffen. Die rivalisierenden Religionen haben strategische Bündnisse geschlossen, um den jeweiligen Religionsunterricht zu garantieren. Wohlwollend schauen die Politiker aller Parteien zu, die genau wissen, welche Methoden die Jugend am wirksamsten an die Leine nehmen. Um Gottes oder Allahs willen.

Oft genug werden Textaufgaben im Unterricht gar nicht geprobt. So wird der Test zur Offenbarungsstunde, in der die Kinder zeigen müssen, ob sie das Gelernte in selbständiger Arbeit übertroffen haben. Zu zeigen, was sie von uns gelernt haben, das kann jeder – so spricht das Unbewusste der Lehrer, die von ihren Zöglingen mehr zurückfordern, als sie ihnen gaben.

Just das, was sie ihnen vorenthielten, erwarten sie von den Kindern: das autonome Denken. Das Übernatürliche und Wunderbare der Testsituation soll der authentische Beweis ihrer mangelhaften Einschüchterungs- und fremdgeleiteten Belohnungspädagogik sein. Mit brillanten Testaufgaben wollen ehrgeizige Lehrer eher ihre Kollegen beeindrucken als ihren Schülern gerecht werden.

Wer seine Mitschüler überragen will, muss das „Außerordentliche“ beweisen, das im ordentlichen Unterricht kaum vorkam. Der Test wird zum Gottesbeweis, aus dem er historisch entstand. Im Auftrag Gottes sollte Gideon die Kriegstüchtigkeit seiner Männer testen. Der göttliche Eignungstest war weder gelernt noch eingedrillt. Es waren willkürliche Kriterien, anhand derer Gideon seine Mannen auswählen sollte. Willkürliche Kriterien, die mit Leistungen und Lernen nichts zu tun hatten, wurden fortan zum Siegel biblischen Auserwählung:

„Und der HERR sprach zu Gideon: Des Volks ist noch zu viel. Führe sie sie hinab ans Wasser, daselbst will ich sie dir prüfen. Und von welchem ich dir sagen werde, daß er mit dir ziehen soll, der soll mit dir ziehen; von welchem aber ich sagen werde, daß er nicht mit dir ziehen soll, der soll nicht ziehen. Und er führte das Volk hinab ans Wasser. Und der HERR sprach zu Gideon: Wer mit seiner Zunge Wasser leckt, wie ein Hund leckt, den stelle besonders; des gleichen wer auf seine Kniee fällt, zu trinken. Da war die Zahl derer, die geleckt hatten aus der Hand zum Mund, dreihundert Mann; das andere Volk alles hatte knieend getrunken. Und der HERR sprach zu Gideon: Durch die dreihundert Mann, die geleckt haben, will ich euch erlösen und die Midianiter in deine Hände geben; aber das andere Volk laß alles gehen an seinen Ort.“

Streng genommen war der Eignungstest kein Test, sondern ein willkürliches Auswählen. Der Herr wählt, wen er will und verdammt, wen er will. Das sachlich und leistungsmäßig grundlose Wählen eines willkürlichen Herrn ist noch immer die emotionale Grundlage aller modernen Tests, selbst derer, die mit vorzeigbaren Leistungen klotzen. Die vorzeigbaren Leistungen beruhen auf Fähigkeiten, deren ungerechte Ursachen nirgendwo hinterfragt werden. Chancengleichheit in einer Gesellschaft, die ihre Ungleichheit sorgsam hütet und pflegt, kann es nicht geben.

Woher rührt etwa die Fähigkeit, Leistungen abzurufen? Ist der Einzelne der Urheber seiner eigenen Talente und Fähigkeiten? Die Bibel selbst destruiert den Schein des berechtigten Stolzes auf seine „selbst erworbenen“ Fähigkeiten. Der Mensch soll sich keiner Leistung rühmen, nur Gott ist der lobenswerte Urheber aller guten Taten:

„Denn wer hat dich vorgezogen? Was hast du aber, daß du nicht empfangen hast? So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich denn, als ob du es nicht empfangen hättest?“

Sind alle Menschen Kinder Gottes, empfingen sie auch alle Fähigkeiten und Unfähigkeiten aus seiner Hand. Nicht die Tontöpfe sind schuldig an ihrem Sosein, sondern ihr allmächtiger Schöpfer:

„Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich also? Hat nicht ein Töpfer Macht, aus einem Klumpen zu machen ein Gefäß zu Ehren und das andere zu Unehren? Derhalben, da Gott wollte Zorn erzeigen und kundtun seine Macht, hat er mit großer Geduld getragen die Gefäße des Zorns, die da zugerichtet sind zur Verdammnis.“

Die Menschen sollen sich nicht ihrer Leistungen rühmen, denn alles, was sie haben, erhielten sie von Gott, dem allein Ruhm und Ehre gebühren:

„Seht doch, liebe Brüder, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Angesehene sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist, damit sich kein Mensch vor Gott rühme. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, damit, wie geschrieben steht (Jeremia 9,22-23): »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!«“

Alles Gute verdanken die Kreaturen ihrem Schöpfer, alles Schlechte jedoch – sich selbst. Das ist biblische Logik. Kapitalistische Logik ist es, die Menschen für Leistungen zu belohnen, die sie ihren natürlichen Talenten, ihrer elterlichen Erziehung und sonstigen Zufällen verdanken. Wer nicht in den Genuss solcher Glücksbedingungen kam, hat Pech gehabt. Sein Geworfensein kann er beklagen wie Hiob, an seinem Los wird sich nicht viel ändern. Selbst die Fähigkeiten des Änderns wollen gelernt und eingeübt sein.

Sehen wir ab von der himmelsschreienden Absurdität, dass die gigantischen Besitztümer der EINPROZENT nicht im Geringsten mit ihrer Leistungsfähigkeit zusammenhängen: ist wenigstens der „normale“ Kapitalismus ein gerechtes Belohnungssystem der Leistungen ihrer Lohnabhängigen?

Natürlich nicht. Wie kann man die Leistungen der Einzelnen objektiv bewerten, wenn alle Leistungen im Kontext arbeitsteiliger Gesellschaften erbracht werden? Jede Leistung müsste völlig unabhängig voneinander erhoben werden, damit man sie vergleichen könnte. Eine Note kann oberflächlich bewerten, welche Englischvokabeln der eine konnte – und der andere nicht. Soll aber die Note den persönlichen Leistungsfortschritt bewerten, ginge dies nur durch intrinsischen Vergleich des Schülers mit sich selbst. Dieser Aufgabe unterziehen sich höchstens die LehrerInnen einer Grundschule.

Bei einem Englisch-Test sind die Aufgaben dieselben, in einem Betrieb aber sind die meisten Arbeiten sukzessiv hintereinander geschaltet. Wie kann man qualitativ unterschiedliche Leistungen quantitativ vergleichen? Wenn eine Mutter die Kinder erzieht, das Haus in Ordnung hält, kocht, wäscht, die Freundschaften pflegt und ihren politischen Part in einer Basisgruppe spielt – warum verdient sie nichts und ihr Mann am Schreibtisch, sozial unfähig und kontaktgestört, pädagogisch und politisch eine Null, verdient alles?

Bei vielen Textaufgaben gelingt es dem ungeübten Schüler nicht, das gelernte Rechnen mit dem Text zu verknüpfen. Text und Formeln bleiben separiert. Gelänge es ihm, dem Text zu entnehmen, was er rechnen muss, könnte er die genialsten Gedanken entwickeln und dennoch das richtige Resultat verfehlen. Welcher Lehrer macht sich die Mühe, diesen Schüler auf seine Gedanken zu befragen, um die Leistung des Weges zu würdigen, auch wenn das Ziel nicht erreicht wurde? Heißt es sonst in der Gesellschaft: der Weg ist alles, das Ziel ist nichts, gilt in der „harten“ Naturwissenschaft das genaue Gegenteil: das Ziel ist alles, nur das Resultat zählt. Ende der Durchsage.

Mit solchen Widersprüchen kommen viele SchülerInnen nicht zurecht – und resignieren. Auch Mathematik ist eine Geisteswissenschaft, wenn man verstehen will, was SchülerInnen in diesem Fach leisten können. Es kommt auf das Verstehen an. Wer nur Fakten bewertet, versteht nichts von Menschen – in der Pädagogik die Sünde wider den Geist.

Das war ein Schlaglicht aus dem Bereich der Bildung, der Voraussetzung für einen gerechten „Aufstieg“. Doch von Bildung kann keine Rede sein, es handelt sich hier um Dressur gewisser Fertigkeiten, die man blind und taub reproduzieren muss, um das von der Wirtschaft definierte Ziel zu erreichen.

Wahre Bildung hingegen ist das Selbstformen einer Persönlichkeit zu einem verantwortlichen und humanen Mitmenschen. Die „Bildung“ der Wirtschaft ist das Gegenteil. Hier wird ein egoistischer und amoralischer Karrierist im Windkanal gehärtet.

Was Merkel unter Bildung versteht, zeigte sie beim obligaten Besuch in einer hübsch aufgeputzten Kita, in der sie ihre Lieblingsrolle der huldreichen Königin Luise spielte.

„Schon wegen des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels ist sie beseelt von der Mission, schon bei den Kleinsten für Forschung und Experimentieren zu werben. Gerade in den letzten Wochen häuften sich bei der promovierten Physikerin die Termine, in denen sie die öffentliche Aufmerksamkeit gezielt Richtung Naturwissenschaften lenken wollte.“ (BILD.de)

BILD war voller Bewunderung für die eineinhalb Stunden, die die Kanzlerin bei den „kleinen Forschern“ verweilte. Der Grund für solche Gnadenbeweise bei den Jüngsten ist einfach: sie muss ihre Popularitätskurve ins Reine bringen. Dass solche mittelalterlichen Gunstrituale hierzulande nicht als schrillste und patriarchalischste Formen des Populismus gelten, kann nur daran liegen, dass der Populismus der Richtigen mit dem der Falschen nichts zu tun haben darf.

Merkel legt keinen Wert auf die Förderung demokratischer und solidarischer Tugenden. Die Gesellschaft benötigt Forscher, also müssen die Kinder dazu herhalten, die Lücken der Konkurrenzgesellschaften zu schließen. Nach Kant ist der Mensch ein Selbstzweck und darf nicht als Mittel zu fremden Zwecken missbraucht werden. Hat Merkel den Namen Kant je gehört?

Was aber ist Forschung heute? Die Fähigkeit der Wissenschaftler, Waffen herzustellen und Einsichten zu gewinnen, die als Wettbewerbsvorteile genutzt werden können. Eine Grundlagenforschung gibt es nicht mehr. Deutschland ist drittgrößter Waffenhersteller der Welt. Seine Waffenindustrie braucht fähige Leute und Merkel ist ihre beste PR-Frau zur Rekrutierung des Nachwuchses. Fast alle Naturwissenschaften hängen am Tropf der Industrie. In Amerika spricht man vom militärisch-technischen Komplex, der einflussreichsten Lobby des Landes. Diese Entwicklung will die Kanzlerin mit allen Kräften plagiieren:

„Merkel äußerte sich auf dem CDU-Wirtschaftstag auch zu den deutschen Militärausgaben, die sich nach ihrer Auffassung deutlich erhöhen müssten. Die EU sei heutzutage nicht in der Lage, sich gegen die Bedrohungen von außen zu verteidigen, sagte sie. Deshalb sei nicht nur das transatlantische Bündnis wichtig. Vielmehr müssten sich Deutschland und die USA bei den Ausgaben für Verteidigung annähern. Deutschland gebe rund 1,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Verteidigung aus, die Vereinigten Staaten rund 3,4 Prozent, sagte die Kanzlerin. „Es wird auf Dauer nicht gut gehen, dass wir sagen, wir hoffen und warten darauf, dass andere für uns die Verteidigungsleistungen tragen.“ (SPIEGEL.de)

Platon wollte mathematisch kundige Schüler in seiner Akademie. Doch den politischen Denkfähigkeiten reiner Mathematiker misstraute er. Das war eine der ersten Erfahrungen der Berufsidiotie im alten Athen.

Merkel ist studierte Physikerin. Dass Physik ein exzellentes Propädeutikum für den Beruf der Politikerin wäre: diesen Beweis ist sie bislang schuldig geblieben. Kinder umwirbt sie im Auftrag einer prosperierenden Wirtschaft, um die knallharte internationale Konkurrenz zu bestehen. Dass Kinder das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben haben: von solchen pädagogischen Ladenhütern will die mehrfache Großmutter verschont werden.

Lasset die Kindlein zu ihr kommen, denn sie sollen den Ruhm des Landes in alle Welt tragen. Mit Hilfe exzellenter Waffen und einer triumphierenden Wirtschaft.

 

Fortsetzung folgt.