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Europäische Idee LVII

Hello, Freunde der europäischen Idee LVII,

mit Staat die Demokratie zertrümmern: das ist deutscher Furor der Gegenwart.

„Steht der Staat über der Religion?“ – diese Frage stand nicht in einem Kirchenblatt, sondern in der ZEIT. So weit sind wir wieder gekommen, dass Religion sich erkühnt, sich über den Willen der Menschen zu erheben. Es sollte ein Pro und Kontra sein. Doch es war ein Doppel-Kontra gegen die Demokratie, die in dem Artikel kein einziges Mal erwähnt wird.

Eine „freiheitliche Gesellschaft“ ist keine Demokratie, sondern die reife Frucht derselben, und Demokratie ist Herrschaft des Volkes – und kein Staat. Staatliche Organe sind Diener der Demokratie – und kein Selbstzweck. Wenn beide Kontrahenten sich unisono auf Böckenfördes Kaperung der Demokratie durch Religion berufen, dann ist Demokratie zur Attrappe einer christlichen Scharia verkommen.

Wie konnte sich eine klerikale Anmaßung zum Credo einer autonomen Volksherrschaft hoch putschen – zumal mit dem Segen eines sogenannten Aufklärers wie Habermas?

Wer Religion über den Staat stellt, ist christlicher Fundamentalist und denkt keinen Deut anders als muslimische und jüdische Fundamentalisten, die den Staat mit religiösen Gesetzen zu kujonieren versuchen. Auch wenn er sich im alltäglichen Allerlei dezent zurückhält, um dem Staat seine taktische Reverenz zu erweisen.

„Aber der freiheitliche Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht garantieren kann“, schreibt Pro-Anwalt Wolfgang Thielmann.

„Festgehalten hat dieses Diktum der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde, der damit so oft zitiert wird, dass es selbst fast schon einem Gesetz gleicht: „Der

freiheitlich-demokratische Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann,“ schreibt Kontra-Anwalt Hannes Leitlein. (ZEIT.de)

Ein Rechtsstaat ist keine Demokratie, Recht per se nicht demokratisch. Es gibt undemokratische Rechtssysteme. Das Dritte Reich, die DDR, auch sie waren Rechtsstaaten.

Was früher Recht war, kann heute kein Unrecht sein, erklärten unbelehrbare Ex-Nazi-Juristen in der Nachkriegszeit. Ehemalige DDR-Juristen berufen sich noch heute auf Bismarcks Gesetze, die im sozialistischen Reich Honeckers unverändert gegolten hätten. So kann man sich belügen.

Rechtsstaat wurde zum Fetisch aller Rechtwinkligen, bei denen es korrekt und regelrecht zugehen muss – ohne dass es gleich „demokratistisch“ hergehen müsste.

Der Rechtspositivismus ist die verhängnisvolle, besonders unter Deutschen beliebte, Lehre, dass Recht Recht sei, gleichgültig, wer es erfunden, gleichgültig, ob es mit dem Rechtsgefühl der Demokraten übereinstimmt oder nicht.

Rechte sind Ableitungen aus der Vernunft eines Volkes, das sich standardisierte Mindestregeln sozialen Verhaltens verordnet – und von der streitigen Vernunft ständig nachjustiert werden muss.

Gesetze sind nie gegeben. Irgendeine Obrigkeit hat sie den Unteren verpasst und verordnet. Sie sind weder Offenbarungen noch unumstößliche Dogmen. Wenn Demokraten bestimmte Grundrechte für ideale Beschreibungen der Humanität halten, können sie diese als zeitlose und ewig gültige definieren – obgleich die Vorstellung unsinnig ist, dass heutige Generationen allen zukünftigen ihre Rechtsauffassungen vorschreiben könnten.

Mit „ewig“ gültigen Gesetzen wäre nicht nur die heute geltende postmoderne Beliebigkeit, sondern auch die Feindschaft gegen das Ideal am Boden zerstört. Auch der Hass gegen Utopie ist mit ewigen Grundgesetzen nicht zu vereinbaren. Denn das Sollen der Gesetze beschreibt einen idealen Zustand, der durch kontinuierliche demokratische Arbeit herzustellen wäre.

Das Ideal ist der Maßstab, an dem die Realität gemessen und beurteilt werden muss. Wenn die Würde des Menschen unantastbar sein soll, muss der kleinste Grapschversuch an der Unantastbaren rigoros geahndet werden.

Wie kann man an die Gültigkeit der Gesetze glauben, wenn man alle Moral zum Teufel wünscht? Recht ist stets kodifizierte Moral, wenn auch eine reduzierte Grundmoral, die das äußerliche Zusammenleben unterschiedlichster Individuen erst möglich macht.

Nicht alles, was legal ist, muss moralisch sein – siehe Panamapapers –, aber alles, was moralisch ist, müsste vereinbar sein mit dem Geist der Gesetze. Widrigenfalls diese geändert und „nach-moralisiert“ werden müssten.

Wer sich an bestehende Gesetze hält, kann kein Räuber, Totschläger oder Völkerverbrecher sein, doch Weib und Kind könnte er ungestraft seelisch drangsalieren, seine Arbeitnehmer wie Weihnachtsgänse ausnehmen und maßlose Reichtümer zusammenraffen, mit denen er seinen Willen schwächeren Zeitgenossen – ja selbst dem Rechtssystem und staatlichen Institutionen – aufzwingen könnte.

Reiche Magnaten legen dekorativen Wert auf untadelige Legalität, ohne wahrzunehmen, dass die unmoralischen Gesetze, auf die sie sich berufen, von ihrer elitären Kaste durch jahrhundertealte Lobbyarbeit dem Rechtssystem einverleibt wurden.

Das Wirtschaftsrecht des Kapitalismus ist eine Farce des Rechts, wenn man es mit Maßstäben vernünftiger Moral betrachtet. Die ökonomische Legalität von heute ist eine schreiende Amoralität, die schwache Mehrheiten dem Willen winziger Minderheiten ausliefert, welche sich als Platzhalter evolutionärer Gesetze aufspielen.

In einer stabilen Demokratie dürfte es kein einziges Gesetz geben, das die Gleichheit vor dem Gesetz und vor der Macht verletzen kann. Jeder Citoyen muss dieselbe Chance besitzen, seinen Willen durch Debattieren und Überzeugen zur politischen Geltung zu bringen.

In einer funktionierenden Demokratie muss niemand „aufsteigen“, um seine Person zur gleichwertigen Geltung zu bringen. Würden nur Aufgestiegene das Schicksal der Nation bestimmen, lebten wir in einer Plutokratie (Herrschaft der Tycoons), Oligarchie (der Wenigen) oder gar in einem totalitären System, in dem verwegene Cliquen sich an die Macht putschten.

In einer funktionierenden Demokratie darf es kein Oben und Unten geben. Es muss eine klassenlose Gesellschaft sein. Nicht nach dem Muster jener sozialistischen Staaten, in denen auserwählte, wissende Parteibonzen das Gesetz der Geschichte dem unverständigen Pöbel aufoktroyieren konnten.

Wenn die Chance, auf dem Marktplatz einem BASF-Vorstandsvorsitzenden, einem Giovanni di Lorenzo zu begegnen, um mit ihnen zu debattieren, gleich Null geworden ist, haben wir eine ummauerte Mammon- und Bramahnengesellschaft.

Hat es jemals öffentliche Debatten zwischen Edelskribenten und ihren Lesern gegeben? Die medialen Quotenschreiber schotten sich rigider ab als die politischen Machthaber des Landes.

Unsere Demokratie ist zum Aggregat unverbundener Lebensquartiere und zerklüfteter Klassen verkommen. Die Reichen und Mächtigen leben auf Inseln des Überflusses: mit dem Hubschrauber von der idyllischen Villa direkt auf den Landeplatz des eigenen Wolkenkratzers. Alle neoliberalen Nationen sind Rechtssysteme, die amoralisch sind bis auf die Knochen.

Das moralische Empfinden einer demokratischen Mehrheit, die den heiligen Gesetzen des Neoliberalismus widerspricht, wird von Hayek ohne zu zögern als amoralische Ressentiments missgünstiger Horden diffamiert. Hayeks Demokratie ist nicht die Herrschaft zufälliger Mehrheiten, sondern privilegierter Dompteure unveränderlicher Gesetze der Vorsehung. Die Demokratie hat ihre Grenze, wo sie der Wirtschaft die Regeln vorschreiben will.

Auch Hayeks Lehrer Ludwig von Mises hält nichts vom sogenannten Naturrecht, das der Vernunft der Menschen entspringe. Der Mensch unterscheide sich nicht vom Tier, weil er sich einbilde, eine Vernunft zu besitzen. Auf solche Gedankengänge könnten wir heute „nicht mehr eingehen, weil die Voraussetzungen, mit denen wir an das Problem herantreten, andere geworden sind. Uns ist die Vorstellung einer Menschennatur, die sich von allen anderen Lebewesen grundsätzlich unterscheidet, fremd geworden. Wir denken uns den Menschen nicht mehr als von Anfang an mit der Idee des Rechts behaftetes Wesen. Das Recht kann sich nicht aus sich selbst erzeugt haben. Der Ursprung des Rechts liegt außerhalb der Rechtsordnung. Wir, die wir nur die Wirkung des Rechts, die Friedensstiftung sehen, müssen erkennen, dass es nicht anders ins Leben treten konnte als durch Anerkennung des Bestehenden, wie immer dieses auch entstanden sein mag. Jeder Versuch, es anders zu machen, hätte den Kampf erneuert und verewigt. Frieden kann nur werden, wenn man den augenblicklichen Zustand gegen gewaltsame Störung sichert und jede künftige Veränderung von der Zustimmung der Betroffenen abhängig macht.“ (Die Gemeinwirtschaft)

Mises weiß zwar nicht, woher das Recht stammt, aber er weiß genau, dass es nicht vom Menschen stammt. Der Mensch ist kein animal rationale oder zoon logon echon, ein vernunftbesitzendes Wesen. Kommt das Recht aber nicht vom Menschen, muss es von einer Oberen Instanz stammen, nennen wir sie Gott, Geschichte oder Evolution.

Die Neoliberalen sind Sprösslinge der Gegenaufklärung, die nichts mehr verachten als die lernende Vernunft der Menschen. Nicht anders als in der Theologie muss der Mensch sich unter höhere Mächte beugen, die nicht mit sich reden lassen. Wie bei der paulinischen Obrigkeit gibt es keinen Status quo, der nicht von Gott wäre. Frieden ist der bestehende Zustand des herrschenden Unfriedens, der sich per Zufall und Gewalt herausgemendelt hat.

Wer an diesem zufälligen Recht des Unrechts rühren will, ist ein Empörer, der den Status quo mit Gewalt ändern will. Als Feind des herrschenden Willen Gottes muss er mit Gewalt aus dem Weg geräumt werden. Recht ist die siegreiche Folge eines archaischen Unrechts, das wir nicht kennen und – nicht ändern können. Sollten wir es dennoch versuchen, würden wir mit Sicherheit schlimmere und ungerechtere Verhältnisse schaffen.

Das Erstaunliche der neoliberalen Ökonomie ist ihre demonstrative – Demut. Wir müssen uns bescheiden mit dem herrschenden Recht, auch wenn es der Sprössling eines früheren Unrechts wäre. Besseres als dieses „unrechte Recht“ ist uns hienieden nicht beschieden. Auch auf Glück durch äußeren Wohlstand für alle, wie ihn der Sozialismus verheißt, muss der Mensch verzichten.

Der Neoliberalismus „hat sich nie als mehr geben wollen denn als eine Philosophie des irdischen Lebens; was er lehrt, ist nur auf irdisches Tun und Lassen abgestellt; er hat nie beansprucht, das Letzte und Geheimste des Menschen auszuschöpfen. Die antiliberalen Lehren versprechen alles, sie wollen Glück und Seelenfrieden bringen, als ob dies von außen in die Menschen hineingetragen werden könnte.“

Auch hier die religiöse Beschreibung des irdischen Lebens als Lazarett. Wie verträgt sich diese Lazarett-Ideologie mit Mises‘ Meinung, sich mit Geld die Befriedigung aller sozialen Bedürfnisse kaufen zu können? Du kannst dir als Reicher wohl alle zwischenmenschlichen Beziehungen kaufen – ob du aber damit glücklich wirst, ist fraglich. Auch hier das alte Lied der Entsagung: wo du nicht bist, da ist das Glück.

Gibt es eine trostlosere Botschaft als die der schein-demütigen Reichen, die mehr als alles haben wollen, obgleich sie wissen, dass sie mit ihren Schätzen nicht glücklich werden? Sie verteidigen ein System des Zufalls und der Ungerechtigkeit. Jetzt verstehen wir die Herkunft der Hayek’schen Lieblingsverse aus Prediger 9:

„Wiederum sah ich unter der Sonne, dass nicht den Schnellen der Preis zufällt, noch den Helden der Sieg, nicht den Weisen das Brot, noch den Verständigen Reichtum, noch den Einsichtigen Gunst, sondern alle trifft Zeit und Zufall.“

Wer hingegen den Menschen irdische Erfüllung all ihrer Bedürfnisse verspricht, sprengt die Grenzen kreatürlicher Glücksmöglichkeiten. Er ist ein Empörer wider die göttliche Ordnung. Mensch, bleib bei deinem Leisten: der, der nichts hat, soll sich mit Nichts, der, der hat, mit seinem Reichtum begnügen. Beide sind zum Unglück verdammt, der Reiche jedoch auf einer Ebene, wo er seinen Mangel mit Überfluss kaschieren kann.

Die ZEIT-Kontrahenten kennen keine Demokratie, sie reden nur vom Staat. Staat aber ist alles, von der christlichen Obrigkeit über aufgeklärten Absolutismus, Monarchie, Demokratie bis zum totalitären Despotismus.

Kant war ein eifriger Vertreter des Rechtsstaates, dennoch ein Verächter der Demokratie. Wie passt das zusammen? Das Recht entspringt bei ihm aus der praktischen Vernunft. Müsste der Königsberger nicht ein Fürsprecher der Demokratie sein, wenn Recht der praktischen Vernunft jedes Menschen entspringt?

Dennoch geißelt er die Demokratie als „Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt begründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht miteinstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.“

Das Thema der „despotischen Mehrheit“ gegen eine unterdrückte Minderheit wird heute in Basisgruppen, die vorbildlich demokratisch sein wollen, lebhaft debattiert. Mehrheitsentscheidungen werden als undemokratische rundweg abgelehnt. Was tritt an ihre Stelle? Ein totaler Konsens oder – keine Entscheidung. Einsichten über Demokratie schwinden nicht nur bei den Eliten, sondern auch bei engagierten Aktivisten.

Konsens ist das Ideal, das anzustreben wäre – das man aber aus Ungeduld nicht übers Knie brechen darf. Das Lernen und Argumentieren braucht seine Zeit. Das Ideal kann nur angesteuert werden mit Kompromissen, die dem Ideal am nächsten kommen, weder die Entwicklung stoppen, noch in zwischenzeitliche Apathie verfallen.

Eine vitale Demokratie schaukelt sich durch viele, wechselhafte Mehrheitsentscheidungen peu à peu ans rechte Ziel. Die Überstimmung der Minderheit ist kein Despotismus, sondern der notwendige Teil eines Regelspiels. Kein Verlierer eines Schachspiels wird sich von seinem Besieger unterjocht fühlen, hat er doch jederzeit die Chance, seine Fähigkeiten zu verbessern und das Spiel unter günstigeren Siegeschancen zu wiederholen.

Das Verlieren einer Minderheit sollte ein Ansporn sein, die eigenen Argumente zu überdenken, zu verbessern oder gar zur Einsicht zu gelangen, dass die Mehrheit durchaus richtig liegen könnte. Der Agon, der Wettbewerb um die Wahrheit, geht in die nächste Runde.

Wer hingegen auf totalem Konsens beharrt, setzt entweder auf Dauer-Blockade aus Angst vor Entscheidungen oder ignoriert die noch immer vorhandenen Meinungsunterschiede.

Ähnliches gilt für die Mehrheit, die quantitative Abstimmungsergebnisse nicht für der Wahrheit letzten Schluss betrachten dürfen. Der Sieg einer Mehrheit ist keine Wahrheits-Garantie. Auch hier gilt: neues Spiel, neues Nachdenken, neue Mehrheitsverhältnisse.

Wer dieses Wechselspiel der Meinungen verachtet, dem bleiben nur autoritäre Allein-Entscheidungen faschistischer Mini-Gruppen oder totalitärer Einzelner.

Eine Mehrheitsentscheidung ist der genialste Kompromiss zwischen der Gleichwertigkeit aller vernünftigen Menschen – und der Tatsache, dass Vernunft bei unterschiedlichen Lebenserfahrungen zu unterschiedlichen Einsichten gelangen kann.

Der Wahrheitskampf einer fairen Demokratie bestünde im Verstehen anderer Meinungen im Vergleich mit der eigenen. Wer den potentiellen Wahrheitsgehalt anderer Perspektiven nachvollziehen kann, ist auch fähig, die eigene Relativität zu berücksichtigen – um aus beiden relativen Perspektiven die objektivere Diagonale zu ziehen.

Wer als Astronom seine „persönliche Gleichung“ kennt, kann die Abweichung seiner subjektiven Sehleistung in die allgemeine Formel so einsetzen, dass sie mit Erkenntnissen anderer Abweichungen übereinstimmen.

Das ist der Prozess des gemeinsamen Lernens der Menschheit, politisch am wirkungsvollsten und humansten inszeniert im agonalen Spiel der Demokratie: über wechselnde Subjektivitäten vorwärts zur immer deutlicher werdenden Objektivität am Rande des gemeinsamen Horizonts.

Wahre Individualität besteht nicht im forcierten Autismus ihrer Unvergleichlichkeit, sondern im zunehmend objektiver werdenden Beitrag zur allgemeinen Wahrheitsfindung.

Hannes Leitlein widerspricht sich ununterbrochen. Er akzeptiert nicht den Vorrang des „Staates“, will sich aber dessen Forderungen – vorläufig? – unterstellen. Der Staat sei eine Erfindung des Menschen, also könne er der Religion – der Erfindung eines Gottes – nicht überlegen sei. Leitlein formuliert seinen Glauben, als sei er eine wissenschaftliche Erkenntnis. Was würde er zu Feuerbachs These sagen, Gott sei die Erfindung des Menschen?

Wieder droht ein Glaubenskrieg, weil die Frommen ihren Gott zur objektiv erweisbaren höchsten Autorität erheben. Mit Gott aber ist keine Demokratie zu machen. Er ist allwissend und allmächtig, auf Mehrheitsentscheidungen sündiger Kreaturen nicht angewiesen. Wenn Leitlein Christ ist, kann er nicht mit links behaupten, jene Zeiten seien vorbei, in denen der Staat von Gott eingesetzt wurde.

Hier zeigt sich die lässige Schindluderei im Umgang mit heiligen Texten, an deren Offenbarungen sie offiziell glauben – und deren Wahrheitsgehalt sie mit beliebigen Deutungen negieren. Dass der Staat nicht von Gott, sondern von Menschen erfunden wurde, scheint sich beim Streiter Gottes noch nicht herumgesprochen zu haben. Demokratie ist die Erfindung des autonomen Menschen, der alle Menschen als gleichberechtigt anerkennt.

Warum akzeptiert Leitlein den Staat nur in eingeschränktem Maß?

„Und doch können Christinnen und Christen im Bewusstsein ihrer langen Widerstandstradition diesen Satz nicht einfach hinnehmen. Das sind sie denen schuldig, die sich widersetzt haben, wenn Staaten sich zu wichtig nahmen.“

Hier wird die Kollektivlüge über den angeblichen Widerstand der Kirchen gegen das nationalsozialistische Regime zum dreisten Ereignis. Wer hat in der Geschichte des Abendlandes am bittersten und mühsamsten der totalitären Macht der Priester widerstehen müssen?

Erstaunlich, dass Leitleins Kontrahent auf diese Absurditäten mit keinem Wörtchen eingeht. Der Diskurs in der deutschen Öffentlichkeit ist der Austausch von historischen Lügen und religiösen Ammenmärchen. Im Grunde vertritt Leitlein eine christogene Schariaposition, allerdings mit der taktischen Zusicherung, die Überlegenheit des Gottes nicht ins Spiel zu bringen – solange die Kirche nicht mächtig genug ist, um ihren früheren Totalitätsanspruch anzumelden?

„Religiöse Menschen leisten dem deutschen Grundgesetz Folge, nicht weil es über ihrem Gott steht, sondern weil sie beides in Einklang bringen. Grundgesetz und Religion harmonieren, auch wenn es hier und da zu Dissonanzen kommt. Gottesanbeter kommen mit dem Grundgesetz zurecht, weil es ihnen zu Recht verhilft.“

Wo ist das ganze Problem, wenn es gar keins geben kann, da Demokratie und Bibel auf der ganzen Linie harmonieren?

Eine unfassliche These, wenn man die Heilige Schrift auch nur flüchtig durchblättert. Solche Statements sind an ignoranter Selbstverblendung nicht mehr zu überbieten. Wenn die Eliten nach Canossa gehen, um vor den Stellvertretern des Himmels zu knien, öffnen sich allüberall die Schleusen und herrschsüchtige Forderungen nach Erniedrigung des Staates unter die Kirchen beginnen an der Basis zu lärmen. Wie lange noch – als geballte Faust in der Tasche?

Wer Demokratie zertrümmern will, nenne sie Staat – und erniedrige sie zur satanischen Erfindung des Menschen. Höchste Zeit, dass Gott herniederfahre, um mit Feuer und Schwefel nach dem Rechten zu sehen.

 

Fortsetzung folgt.