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Europäische Idee LIII

Hello, Freunde der europäischen Idee LIII,

also doch. Nun sind sie nach Canossa gekrochen und haben sich bäuchlings dem Papst unterworfen: die europäische Elite, die Merkels, Junkers, Schulzen. Eine deutsche Kanzlerin kannte keine Skrupel, die Formulierung Heinrichs IV. (der seinen calvinistischen Glauben verriet und katholisch wurde, um den französischen Thron zu ergattern: „Paris ist mir eine Messe wert“) zu wählen, „das ist mir eine Reise nach Rom wert, um meinen Respekt vor dem Papst auszudrücken.“

Im Tempo des Fortschritts brettern sie zurück ins Mittelalter. Der Bischof von Rom ist wieder zum symbolischen, geistlichen Herrscher Europas auferstanden. Das Erbe Luthers, der sich auch politisch von Rom gelöst hatte, wurde von einer lutherischen Pastorentochter verraten und verkauft, damit sie mit gnädiger Hilfe des römischen „Antichristen“ ihren politischen Gesamtbankrott vertuschen kann. Das Lutherjubiläum beginnt unter päpstlichen Weihrauchschwaden.

Wenn Ereignisse sich überschlagen, wiederholen sich die Dinge im Getümmel. Aus den Canossa-Annalen Lamperts von Hersfeld:

„Sie krochen bald auf Händen und Füßen vorwärts, bald stützten sie sich auf die Schultern ihrer Führer; manchmal auch, wenn ihr Fuß auf dem glatten Boden ausglitt, fielen sie hin und rutschten ein ganzes Stück hinunter; schließlich gelangten sie doch unter großer Lebensgefahr in der Ebene an.“

Die europäischen Werte, die nicht moralisch sein dürfen, entlarven sich als Börsen- und Finanzwerte mit allerheiligstem Segen von Oben. Europa, neoliberal ausgebeint und skelettiert, haben sie mit gesetzlos-launischer Boulevard-Barmherzigkeit vergeblich zu retten versucht. Nach zwei Wochen schlug die Misericordia um in die apodiktisch vorgeschriebene no-bail-out-Brutalität.

Nachdem sie das düstere Geheimnis der europäischen Solidarität kenntlich gemacht haben, suchen sie Trost vor dem Altar, um vom Vater aller Christen Absolution zu

erhalten. Küsst die Welt Ihm die Füße, kennt die Gnade des Papstes keine Grenzen:

„Papst Franziskus hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach der Privataudienz einen Friedensengel überreicht. Die protestantische CDU-Politikerin bedankte sich und sagte: »Den können wir gut gebrauchen in Europa.« »Ich freue mich, dass Sie da sind, und das schon zum dritten Mal», sagte der Pontifex zur Begrüßung.“

Und ehe der Hahn krähte, hatte Merkel Luther zum dritten Mal verraten. Doch die Treulose ging nicht hinaus, um bitterlich zu weinen.

Ab jetzt wird Europa mit Friedensengeln regiert. Die Sitzungen des Berliner Kabinetts beginnen mit Gebet und enden mit Segen. Barmherzigkeit und Nächstenliebe, die keine Lippenbekenntnisse sein dürfen (so Junker), haben schnöde Interessen zu ersetzen. Die Epoche niederer Interessen ist vorbei, es beginnt die Ära der höheren. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden die Erde besitzen – sofern sie dieselbe nicht längst in Besitz genommen haben. Das sind ihre wahren Interessen: Herrscher über die Erde und Selige im Himmel zu werden.

Was unterscheidet Agape (Nächstenliebe) von politischer Tugend? Agape ist ein altruistisch-scheinendes, in Wirklichkeit egoistisches Mittel, um ewige Seligkeit zu erwerben – nicht um die hoffnungslose Welt zu humanisieren. Politisches Handeln – sofern es moralisch sein will – will den Kampf aller gegen alle in einen Kampf aller für alle verändern. Vorsicht, Utopiegefahr.

Utopie ist das Ziel, das man benötigt, um Verhältnisse zu verbessern, ohne zu wissen, ob man es erreichen wird, und dennoch in der Zuversicht, der Mensch könne sich jenem durch Versuch und Irrtum annähern. Nein, das Ziel ist nicht nichts, eine Bewegung ohne Ziel aber führt ins Nichts.

Der Papst bestärkt die Europäer, sich als Menschenfreunde zu betätigen. Wer genauer hinschaut, erkennt die klerikale Täuschung: kein Jünger Jesu glaubt an den Menschen. Der Glaube an den Menschen ist die Sünde wider den Geist im Neuen Testament.

„Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles gegen euch, so sie daran lügen.“

Wer von Menschen gehasst werden will, damit er selig werde, ist selbst ein Menschenhasser.

Die moralischen Qualitäten des Menschen werden als Sünde des „Rühmens“ verdammt. Der Mensch darf auf eigene Leistungen nicht stolz sein. Er soll sich als hoffnungsloser Versager vor die Füße Gottes werfen, damit die Gnade des Herrn ihn zum neuen Menschen erhebe. Gott erwählt, wen er will und verwirft, wen er will. Nicht der Ruhm des Menschen, sondern des göttlichen Erlösers muss das letzte Wort haben.

EINPROZENT der Menschen wird erwählt, 99PROZENT aller Menschen wandern ins ewige Feuer. Das propagandistische Manöver mit Feindesliebe und Erbarmen dient dazu, den dogmatischen Rahmen für Hölle und Himmel ungeschehen zu machen. Die Hölle für fast alle und der Himmel für fast niemand.

Kann Merkel als Überläuferin vom Sozialismus zum Kapitalismus bezeichnet werden? Sie bleibt eine Untergrundkämpferin im Namen Gottes. In der DDR war sie davon überzeugt, der christliche Glaube werde stärker sein als der gottlose Sozialismus. Heute ist sie davon überzeugt, ihr Glaube werde auch den Kapitalismus besiegen.

Freilich, der Sozialismus schien der christlichen Lehre näher als der Kapitalismus. An der Zweireichelehre Luthers ändert das nichts. Das Reich der Welt, wie immer es ist, muss vergehen, um dem himmlischen Reich Platz zu schaffen. Bei Emil Fuchs, dem ehemaligen christlichen Chefideologen der DDR, kann man lesen:

„Christen und Marxisten sehen, wie man in der Sicht der Wirklichkeit und in der Arbeit für dieselbe sehr eins sein kann, wenn auch der eine an einem ganz bestimmten Punkt eine Grenze zieht, wo der andere darüber hinaus noch eine ganz heilige und gewaltige Wirklichkeit schaut, die ihm für seine Arbeit tiefere Kräfte und Möglichkeiten gibt. So kommt es bei Daniel zu jener Vision des Menschensohnes, der die Überwindung mächtiger Weltreiche und die Errichtung ewigen Friedens bedeutet.“ (Marxismus und Christentum)

Ob Sozialismus oder Kapitalismus, die Botschaft des Erlösers wird die Welt überwinden. Die Heiligen werden gerettet, die Unheiligen bei unangenehmen Temperaturen entsorgt.

Merkels Ethik ist punktueller Gehorsam. Wen Gott ihr vor die Füße wirft, den rettet sie – für einen Augenblick. Danach überlässt sie ihre Liebesobjekte für ein Almosen einem zufällig am Wegesrand befindlichen Wirt. Wie der mit den Opfern umgeht, interessiert sie nicht, ruhelos muss sie im Dienste ihres Herrn weiterpilgern.

Merkel und Faymann waren für einen Herzschlag der Geschichte vereint in spontanem Helfenwollen. Jetzt haben sie sich nichts mehr zu sagen. Der Österreicher verbarrikadiert sich am Brenner, Merkel lässt à la turka abschieben. Gott hat beschlossen, seine Magd von Augenblick zu Augenblick anders zu lenken als den österreichischen Knecht. Ende der trauten Zweisamkeit. Heidegger sprach von Sein und Zeit, er hätte auch von Gnade und Zeit, Kairos und Gehorsam reden können.

Was ist das für eine Moral, in der die zweite Tat der ersten ins Gesicht schlagen darf? Rationale Politik – für Merkel eine Blasphemie – ist angestrebte Stringenz in allen Dingen, Politik aus einem vernünftigen Guß. Wer gehorsam schwankt wie ein Rohr im Winde, bleibt eine Marionette Gottes.

Europa ist an einem Tiefpunkt angekommen. Ein klerikaler Führer, der nur predigt und nichts tut – man spricht von symbolischem Handeln oder von Zeichen setzen – ermahnt die Europäer, nicht-symbolische Taten der Nächstenliebe zu bringen, obgleich die renitenten Flüchtlingsverweigerer sich ihres christlichen Glaubens am sichersten fühlen. Wenn konträre Taten unisono als christliche gelten: müssten dann verantwortliche Staatsmänner kein mittelalterliches Konzil einberufen, um zu klären, was dem Geiste des Erlösers wirklich entspricht?

Das Debakel Europas besteht im Tohuwabohu, dass alle christlich sein wollen, obwohl sie sich fundamental widersprechen. Die heidnische Disziplin der Logik gilt nicht mehr im europäischen Einflussbereich des Vatikans. Gott gibt, Gott nimmt, Gott sagt Ja, Gott sagt Nein, der Name des Herrn sei gepriesen.

Dabei gäbe es durchaus Spuren, die die Logik der Hellenen im Revier der Frommen hinterlassen hat. „Eure Rede sei ja ja, nein nein. Was darüber ist, ist von Übel.“ Doch wer wird sich fundamental an Worten festhalten? In kreativer Hermeneutik stellen wir fest: der Imperativ gilt keinesfalls für Gott. Die Seinen lenkt und leitet er durch launische Augenblickseinfälle.

Jünger Jesu sollten sich nicht so viele Gedanken machen, was sie sagen oder nicht sagen werden. Logische und philosophische Eitelkeiten haben sie den Heiden zu überlassen. „Sehet zu, ob euch jemand des Glaubens berauben will durch Philosophie und leere Täuschung.“ Diesem Motto fühlt sich die Kanzlerin eisern verbunden. Logik lässt sie nur im engen Bezirk der Physik gelten, nicht im Bereich politischen Tuns. Dort gilt für sie die Devise des Herrn:

„Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn ihr seid es nicht, die da reden, sondern des Vaters Geist, der durch euch redet. Der wird euch zu ebender Stunde lehren, was ihr sagen sollt.“

Nicht der Mensch ist es, der im Geist des Herrn redet: er bleibt passives Mundstück Gottes, der ihm von Stunde zu Stunde diktiert, was er zu sagen hat. Prediger im Dienste Gottes verschmähen logische und philosophische Argumente, um die Welt zu überzeugen:

„Und mein Wort und meine Predigt war nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft, auf daß euer Glaube bestehe nicht auf menschlicher Weisheit, sondern auf Gottes Kraft.“

Vernunft und Logik sind hybride Erfindungen sündiger Menschen. Vor Gott sind sie Torheit. Das eben ist das unerschütterliche Überzeugungsprinzip Merkels. Widerspruchsfreie, logische Argumente in ihrer liebsten PR-Sendung „Anne Will“? Welch überflüssiger Tand. Der Meute sind rationale Beweisketten gleichgültig. Die Verunsicherten wollen von Muttern beruhigt und getröstet werden. In der Welt habt ihr Angst, doch ohne Sorge, bleibt ohne Sorge, ich habe die Welt überwunden.

Das Problem Merkel ist das Problem Deutschland. Je apokalyptischer die Zeiten, desto mehr benötigen die Ängstlichen – die ihre Angst verleugnen – den Zuspruch einer gelassenen, mütterlich lächelnden Magd des Herrn.

Europa ist in die Epoche der christlichen Romantiker zurückgefallen, die ihrerseits in die Epoche des Mittelalters zurückgefallen waren. Nach der Niederlage gegen Napoleon verfielen die Deutschen in eine trotzige Selbstverherrlichung. Deutschland wurde zum messianischen Vorbild der Nationen gekürt. „Europa ist durch Deutschland gefallen, durch Deutschland muss es wieder emporsteigen.“  

Aufklärung und die Französische Revolution waren „Lobredner der vollkommensten Sklaverei, die jemals die Völker gebeugt hatte.“ Man erlebe den „schmählichen Verfall Europas und seine vollständige Unterjochung“ durch Aufklärung und Sittenlosigkeit. Zur Kurierung des kranken Europa wurde Religion verordnet. „Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern.“

Wann wird Europa sicher sein? „Nur Geduld, sie wird, sie muss kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird.“ Schlegel plante ein Organ, in dem die „religiöse Neugeburt Europas in statu nascendi“ (im Zustand des Entstehens) dokumentiert und befördert werde. „Europa ist letztlich als ein Eschaton (Eschatologie = die Lehre von den letzten Dingen) zu verstehen.“ „Mit der Religion ist es uns keineswegs Scherz, sondern der bitterste Ernst, dass es an der Zeit ist, eine zu stiften. Das ist der Zweck aller Zwecke und der Mittelpunkt.“

Die jungen Romantiker begannen als Anhänger der Aufklärung. Wie sich die Kinder der 68er in saturierte Vertreter der Bourgeoisie verwandelten, so die Kinder der Aufklärer in glühende Propagandisten der Religion. Die aufklärerische Rationalität gaben sie preis und stellten sich in den Dienst konservativ-katholischer Kräfte.

Die Nachkriegszeit ist eine fast vollkommene Wiederholung romantischer Vorläufer. Selbst die wachsende Kluft zwischen Deutschland und Frankreich hatte eine historische Vorläuferin. Während die Deutschen sich von ihren aufklärerischen Anfängen lösten und katholisch-konservativ wurden, brachen die französischen Romantiker mit ihrer erzkatholischen Phase und kehrten zu einem gemäßigten Liberalismus zurück.

Merkels religiöse Barmherzigkeit fand in Frankreich ein überwiegend ablehnendes Echo. Adam Müller, einem der führenden Intellektuellen der Romantiker, schwebte ein „religiöses Verhältnis unter den Staaten vor, eine Art realisierter civitas dei als Ziel der Europapolitik“. Wie Novalis verlangt er, dass die Religion die Basis und der Garant der europäischen Einheit werde. „Wohlan, so drängt alles zurück in die lange versäumte Mitte, in den Mittelpunkt der Weltgeschichte: demnach zu Christus. Christus ist der einzige wahre Universalmonarch.“

Das war die absolute Gegenposition zu Heinrich Heine. Heine in seiner kritischen Bedeutung anzuerkennen, fällt Deutschen heute noch schwer. Nicht Heine, sondern die Neukatholiken prägten den Fortgang der deutschen Geschichte. Bismarck war ein frommer Pietist, der wusste, dass mit der Bergpredigt keine Politik zu machen sei. Er weigerte sich, nach Canossa zu gehen und kannte den Unterschied zwischen Moral und Staatsraison.

Solche grundlegenden Probleme sind seiner Nachfolgerin bis heute unbekannt. Dem eisernen Kanzler mit scharfer Intelligenz steht heute eine rückgratlose, dumpf in den Tag hineinwerkelnde Merkel gegenüber. Der eine gründete das deutsche Reich mit Blut und Eisen, die andere stabilisiert die führende Wirtschaftsmacht Europas mit hohler Himmelsethik und wachsendem Flüchtlingselend weit ab in der Türkei. Auf griechischen Inseln werden Kinder in Gefängnisse gesteckt, Hilfesuchende in Lager gefangen genommen und mit Gewalt in die Türkei deportiert.

Sollte Erdogan seine Drohung wahrmachen, wird Brüssel die Griechen bedrängen müssen, die Rolle der Türken zu übernehmen. Ein BILD-Kommentar bringt den galoppierenden Wahn auf den Begriff. Anstatt den halsabschneidenden „Reformkurs“ Brüssels zu beenden, die Schulden zu erlassen und das Land so zu unterstützen, dass es den Flüchtlingen helfen könnte, soll das Land weiterhin stranguliert werden. Die Rede ist gar von einem Grexit, Athen soll den Euro-Raum verlassen.

„Denn die große Gefahr ist: aus Rücksichtnahme auf die Flüchtlinge beide Krisen zu vermischen. Obwohl Athen mit wichtigen Reformen seit Monaten im Verzug ist, gibt es erneut Rufe nach Schuldenerleichterungen – als Rabatt für die Flüchtlingskrise! Hinzu kommt: Die griechische Wirtschaft liegt seit Jahren am Boden, weil das Land mit der verfehlten Rettungspolitik und dem Euro nicht wettbewerbsfähig ist. Umso wichtiger ist es daher, dass Finanzminister Schäuble seinen harten, aber richtigen Kurs gegenüber Athen – Geld nur gegen Reformen – durchhält.“ (BILD.de)

Nicht nur Merkel, auch ihr potentieller Widerpart Gabriel liegt am Boden. Über Krankheiten soll man nicht sprechen, doch Not kennt kein Gebot. Die SPD leidet an einer Krankheit, die den Proleten die verdrängte Wahrheit aus allen Poren treibt: sollten sie nicht rot sein und der Gerechtigkeit auf die Sprünge helfen? Rote Punkte verunzieren das edle Antlitz der alten verdienstvollen Arbeiterpartei, die nicht mehr aus den Augen schauen kann.

Ach, es blutet einem das Herz, die Partei Willy Brandts – dessen vorbildlichen Namen viele Geschichtsverdränger nicht mehr hören können – psychosomatisch geschlagen zu sehen. Ist der Partei noch zu helfen? Nicht, wenn man die lockeren Gedanken von Dirk Kurbjuweit im SPIEGEL liest. Die SPD habe sich mit einem Begriff belastet, den man nicht messen könne:

„Für die Gerechtigkeit gibt es kein Maß, anders als für ihre radikale Schwester, die Gleichheit. Zu hundert ist hundert gleich, zu tausend tausend. Aber was ist gegenüber hundert gerecht? Das ist eine Frage des Falles, der Umstände, der Sichtweisen. Jeder kann eine andere Meinung dazu haben und auf seine Weise im Recht sein. Es ist das Pech der SPD, dass sie wie keine andere Partei an diesem Wort hängt und eine klare Definition für Gerechtigkeit finden muss, um Wähler zu überzeugen.“ (SPIEGEL.de)

Ist Gerechtigkeit ein quantitativer Begriff, mit dem Metermaß zu messen? Gibt es einen einzigen Begriff der Moderne, der nicht umstritten wäre? Bei dem nicht jeder seine eigene Meinung hätte?

Soll es in einer Demokratie unmöglich sein, sich auf einen Kompromiss zu einigen, wenn jeder „auf seine Weise im Recht sein kann“? Dann sollten wir den Begriff Demokratie endgültig einmotten. Wäre es nicht langsam an der Zeit, die Vielzuvielen mit ihren überflüssigen Meinungen vom Prozess der Meinungsbildung auszuschließen? Soll der dreiste Pöbel in allen Dingen mitreden dürfen? Will heute nicht jeder Volltrottel Demokrat sein, wie Kurbjuweits Kollege Augstein klagte? Haben sich noch immer nicht „alle zum selben Thema zu Wort gemeldet“, wie mediale Volksverächter genervt formulieren?

Das Urwissen in Demokratie geht flöten. Postmoderne Beliebigkeit weiß nichts über Streiten und Argumentieren. Wenn alle Recht haben können, kann niemand mehr Recht haben. Überzeugen wäre widerlegen: welch ungeheure Schande. Ersparen wir uns also die Schande und überlassen den Mächtigen ihre gedankenlose Macht.

Wie viele Definitionen über Gerechtigkeit hat es in der Geschichte gegeben? Kein Grund für einen Medialen, sich zu informieren, Pro und Contra abzuwägen, sich einen Standpunkt zu bilden – um gewappnet in den Kampf der Meinungen zu gehen?

Merkel ist nicht die Einzige, die von demokratischer Willensbildung und agonalem Diskurs nichts mehr weiß. Die Sturmgeschütze der Demokratie leiden nicht an digitaler Verwirrung, sondern an intellektueller Anämie.

Wie wär‘s mit der Definition des Aristoteles? Gerechtigkeit ist diejenige sittliche Gesinnung, „welche das eigene Interesse mit dem der anderen auszugleichen sucht“? Gerechtigkeit ist „Trefflichkeit im Leben der Gemeinschaft“. In ihr ist jede Tugend inbegriffen, sie ist die Tugend schlechthin. Indem sie darauf hinwirkt, dass Leistung und Gegenleistung sich entsprechen, erweist sie sich als die Kraft, welche Staat und Gesellschaft zusammenhält, den Menschen mit dem Menschen verbindet.

Ist über Gerechtigkeit in Deutschland je so lange debattiert worden, dass man zur Abstimmung hätte schreiten können? Demokratie und Kampf um Gerechtigkeit: das ist identisch.

„So alt wie die Demokratie ist in Hellas die feindselige Spannung zwischen arm und reich. Nirgends, soweit wir die Geschichte der Menschheit kennen, hatte sich bis dahin dieser Gegensatz in solcher Klarheit und Schärfe, ich möchte sagen, mit solcher Bewusstheit geltend gemacht, wie seit der Zeit, in der auch hellenischem Boden die Gedanken der Freiheit und Gleichheit ihren siegreichen Einzug in das staatliche Leben gehalten, und so auch dem gedrückten und leidenden Teile der bürgerlichen Gesellschaft eine Stimme bei der Erörterung und Entscheidung der allgemeinen Volksgeschicke zugefallen war.“ (Pöhlmann, Geschichte der Sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt)

Der Kern der Demokratie ist der Wettstreit der Meinungen um die gerechte Polis. Wird er ersetzt durch die hauende und stechende Konkurrenz des Raffens und Übermächtigens, ist die Herrschaft des Volkes auf dem Altar der Wirtschaft erdrosselt worden.

Wenn Vernunft für tot erklärt wird, erhebt sich Rom zum Neuen Jerusalem. Und die Medien können sagen, nach Canossa seien sie mitgekrochen.

 

Fortsetzung folgt.