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Europäische Idee XLIV

Hello, Freunde der europäischen Idee XLIV,

ein Papst aber, der unterwegs war – nicht zufällig, sondern per Jet vom Himmel herabgedüst –, besuchte ein ausgewähltes, potemkinsch aufgehübschtes Lager, und als er die Elenden sah, hatte er Erbarmen mit ihnen und trat hinzu, verband aber weder ihre Wunden noch hob er sie auf sein Papamobil, sondern ließ sich die Hände küssen und wie ein Heiland anbeten – zufällig war die Weltpresse anwesend und Kameras übertrugen das erregende Heilsgeschehen in die verlorene Welt.

Zwölfe von ihnen – gemäß der Zahl der Jünger Jesu – nahm er spontan mit in seinen pompösen Dom. Nein, in seine bescheidene Papstklause. Wiederum nein, sondern in ein präpariertes Dorf in der Nähe Roms, weit entfernt von den Wandelgängen meditierender Kardinäle in ihren bezaubernden vatikanischen Gärten.

Eine christliche Familie aber nahm er nicht mit, obwohl sie zu den Erlosten gehörte: die Familie hatte keine richtigen Papiere. Niemand sollte dem Herrn der Katholiken den Vorwurf machen, er bevorzuge seine christlichen Brüder und Schwestern.

In diesem Moment fühlte der Papst sich innig verbunden mit seiner lutherischen Schwester in Deutschland, die auch alle illegalen Flüchtlinge, die sich erkühnen, ohne rechte Papiere notleidend zu sein, aus der europäischen Wertegemeinschaft ausweisen und dem bösen Wirt Erdogan übergeben lässt, dem sie zuvor einen gotteslästerlichen deutschen Satiriker gebraten und gesotten ausgeliefert hatte, um jenen gnädig zu stimmen und die neiderfüllten, lästigen Flüchtlinge vom hart erarbeiteten Wohlstand der Europäer fern zu halten.

Danach traf der Papst zwei weitere Päpste aus Griechenland und der Türkei und die drei steckten ihre gesalbten Köpfe zusammen. Selbdritt fluchten sie auf die Welt, vornehmlich auf das abendländische Europa, das immer mehr seinen Glauben verrät, der – solange die Kirchen die Herren Europas waren – Ströme der Liebe über

den Kontinent ausgebreitet hatte. Eine deutsche Posaune des Papstes mit Namen Drobinski verklärt in der SZ den Besuch des Papstes zum bedeutendsten spirituellen und politischen Ereignis seit Menschengedenken:

„Die fünf Stunden auf der Flüchtlingsinsel sind ein Statement gegen die Regierungen in Polen, Ungarn oder sonstwo, die sich für besonders christlich halten, wenn sie Zäune gegen die angebliche islamische Invasion errichten. Es ist eine Gardinenpredigt ohne Worte für alle auch in Deutschland, die das harte Herz und den Egoismus als Realismus preisen, die Angst, Vorurteil und Hass schüren und sich dabei noch als Retter des christlichen Abendlandes missverstehen.“ (Süddeutsche.de)

Hätte der Papst nicht „ecce homo“ gesagt (seht, welch ein Mensch), würde kein Mensch auf die Idee kommen, Menschen als Menschen zu erkennen. Denn Christen, wenn sie Menschen helfen, helfen nicht diesen, sondern ihrem Heiland, der alle Notleidenden der Welt in seiner Person repräsentiert: was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan. (Schwestern repräsentiert er nicht.)

Katastrophen lassen die Kirchen „zusammenrücken“, eine „kleine ökumenische Sensation.“ Eben deshalb hat Gott das Flüchtlingselend zugelassen, damit die Kirchen wieder zusammenrücken. Die Orthodoxen sind nicht an der Zerrüttung der Kirchen schuld, wie Drobinski in römischer Verbundenheit schreibt. Lange hätten sie die „Kirchen im Westen misstrauisch beäugt“? In Wahrheit wollten sie sich – nicht anders als Luther – Rom nicht unterwerfen.

In sage und schreibe fünf Stunden hat der Papst mehr erreicht als alle christlichen Staaten Europas zusammen – die gar nicht christlich sind. Wie die östlichen Staaten Ungarn oder Polen. Ist Polen nicht eine besonders katholische Nation? Ist das fünfstündige Handauflegen kein veritables Wunder, wofür man den Papst schon zu Lebzeiten selig sprechen müsste? Der Welt hat er die Leviten gelesen, es handele sich um die schlimmste Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Frau Merkel, schauen Sie hin, so geht man mit Flüchtlingen um:

„Franziskus hat in den fünf Stunden auf Lesbos den Flüchtlingen ihre Gesichter zurückgegeben. Die verlieren sie in dem Maße, wie die Europäer in ihnen die Flut sehen, gegen die es Deiche braucht, das anonyme Problem, die Verschiebemasse. Er hat sich Fluchtgeschichten angehört, gegen die Neigung, die Ohren zu verschließen, weil man ja schon so viele dieser Geschichten gehört hat und der Einzelfall nichts übers Große und Ganze sagt, am Ende gar das eigene Wahrnehmungssystem erschüttert. Und er hat in anarchischer Barmherzigkeit einfach mal zwölf Menschen geholfen – gegen das kleinliche und unbarmherzige Gefeilsche unter den europäischen Staaten, die sich ja tatsächlich darüber in die Haare kriegen, wer dieses Dutzend nimmt und wer jenes.“

Wenn das kein „Denkzettel für Europa“ ist. Sollte das nicht besser „Glaubenszettel“ heißen? Der Papst wird doch niemanden zum Denken provozieren wollen!?

Jetzt ahnen wir, warum Merkels Barmherzigkeit nur ein kleines Zeitfenster lang offen stand. Wo kämen wir hin, wenn die deutsche Wirtschaftsmaschine durch anarchische Machenschaften ins Stottern käme? Das Beste, der harte statistische Beweis für vatikanische Liebes-Überlegenheit über alle Welt, kommt am Schluss. Das muss zitiert werden, sonst glaubt es niemand:

„Zwölf Flüchtlinge beginnen nun ein neues Leben. Nur zwölf? Das Wesen des Vergleichs ist, dass er hinkt, aber: Der Vatikan hat um die 800 Bürger, Deutschland um die 80 Millionen. Die zwölf sind, rechnet man dies hoch, so viel wie die 1,1 Millionen Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland kamen. Auch das ist eine Botschaft dieser spontanen Geste des Franziskus.“

Womit quantitativ bewiesen: Rom überragt Wittenberg und alle anderen gottlosen Demokratien um ein Vielfaches. Doch auch hier schwindelt der katholische Theologe in SZ-Diensten um Jesu willen. Wo werden die Flüchtlinge wirklich untergebracht?

Die Flüchtlinge „werden vorerst von der Gemeinde Sant’Egidio in Rom betreut.“ (Der Standard.de)

Der mittelalterliche Kaiser Friedrich II hatte von den drei größten Schwindlern der Geschichte gesprochen. Er meinte Moses, Jesus und Mohammed. Hätte er die drei Oberpopen auf Lesbos gesehen, wie sie sich als Einheit gaben, hätte er sich bestätigt gefühlt.

Die reichsten und einflussreichsten Institutionen Europas bestimmen seit Jahrtausenden das moralische Klima Europas – und nun erwecken sie den Eindruck, als ob die Früchte ihrer heiligmäßigen Erziehung mit ihnen nichts zu tun hätten. Wenn sie „symbolische Nächstenliebe“ vollbringen oder „Zeichen setzen“, wiegt das mehr als alle humanistischen Aktionen zusammen, bei denen Gott abwesend ist.

Was ist symbolisches Tun? Laut Wiki ist Symbol „ein wahrnehmbares Zeichen bzw. Sinnbild (Gegenstand, Handlung, Vorgang), das stellvertretend für etwas nicht Wahrnehmbares steht.“ Wenn sie ständig von Liebe quasseln, ohne dass man sehen kann, was sie tun – weil sie außer Quasseln nichts tun: das ist Symbol-Christentum. Leere und hohle Worte, aber mit dem Gütesiegel der Bergpredigt: das ist der Höhepunkt europäischer Moral. Beim Papst wie bei Merkel & Co.

Nehmen wir nur mal die griechische Kirche, einer der reichsten Institutionen des gebeutelten Landes. Sie weigert sich strikt, ihren Besitz transparent zu machen, damit sie keine angemessenen Steuern zahlen muss. In BILD werden die Griechen ständig geprügelt, weil sie ihre Superreichen nie zur Kasse bitten würden. Die Kirche wird in diesem Zusammenhang nicht mal erwähnt. Der heilige Kern Europas muss geschont werden.

„Manche schätzen das Gesamtvermögen auf mehrere Billionen Euro. Ich denke, dass sich die Summe auf 100 bis 200 Milliarden Euro beläuft. 2,5 Millionen Euro Steuern für ein ganzes Jahr. Wie kann das sein? Die Kirche ist nach dem Staat der zweitgrößte Landbesitzer. Allein entlang der Küste östlich von Athen, einem der teuersten Vororte der Hauptstadt, darf die Kirche Grundstücke zu ihrem Portfolio zählen, die nach ihren eigenen Angaben 1,5 Milliarden Euro wert sind. Das Gesetz sieht vor: Die sonst übliche Grundsteuer entfällt, weil ein Gebäude für soziale Zwecke darauf erbaut ist.“ (Weltspiegel)

Mit symbolischer Heiligenmoral wird Europa betäubt, lässt Europa sich betäuben. Mit Wortgeklingel und bombastischen Verheißungen hat die christliche Religion die Welt erobert. Sie erschauern vor der Gewalt ihrer eigenen, gnadenbegabten Reden und glauben, sie seien identisch mit ihrem Herrn, der „lehrte wie einer, der Gewalt hat, und nicht wie ihre Schriftgelehrten. Nie hat ein Mensch so geredet, wie dieser Mensch redet.“

Seit dem Siegeszug des messianischen Redenschwingers ist das Kriterium der Wahrheit nicht mehr die Übereinstimmung von Wort und Tat, sondern das bloße Wort, welches vergessen macht, dass keine Taten folgen. Natürlich folgen Taten, aber nicht diejenigen, die von den gewaltigen Rednern angekündigt wurden.

Der Begriff Heuchelei ist zu abgenutzt, um das Maß an Doppelmoral zu kennzeichnen, mit der das christliche Europa sich und die Welt betrügt. Um exakter zu werden: es ist schon ein Riesenfortschritt, dass die Europäer – wenigstens gelegentlich – ihre Religionsvertreter als Heuchler empfinden. Ohne Aufklärung und vernünftigen Moralkodex wäre solches Entlarven unmöglich gewesen. Vor der Aufklärung hätte kein Frommer einen Widerspruch zwischen Predigen und Tun erkannt. Warum nicht? Weil Gott und seinen Geschöpfen alles erlaubt ist und wenn es sich noch so widerspräche. Der Herr der Heerscharen ist nicht nur Urheber des Guten, sondern auch des Bösen.

„Das Gute nehmen wir hin von Gott und sollten das Böse nicht hinnehmen“? (Hiob)

Das Böse, dieser Satz steht fest, ist stets das Gute, das man mit guten und bösen Taten realisiert.

Auch der SPIEGEL will die Verteidigung des christlichen Abendlandes nicht an die letzte Stelle rücken. Trotz mancher kesser Artikel muss auch in Hamburg die Kirche im Dorf bleiben. Jan Hedde, Jurist, soll alle zwei Wochen einen Begriff erklären. Die Juristen haben momentan Hochkonjunktur und sind dabei, die Theologen als unfehlbare Instanz abzulösen. Hedde untersucht den Begriff Toleranz und kommt auf erstaunliche Erkenntnisse.

„Zunächst ist Toleranz entgegen der weitverbreiteten Meinung nämlich keine Tugend. Weder geistliche noch weltliche Aufzählungen der Tugenden nennen sie. Toleranz ist eine Haltung eigener Art, deren Qualität die Neuzeit geschaffen hat. Die Antike kennt diese Toleranz nicht. Jesus war nicht tolerant, Jesus war demütig und duldsam.“ (SPIEGEL.de)

Jesu‘ Demut und Duldsamkeit waren paradoxe Interventionen, um entgegengesetzte Ziele zu erreichen. In Wahrheit war Jesus ein hasserfüllter Richter und Vernichter aller Ungläubigen.

Wegen bodenloser Ignoranz müsste Hedde entlassen werden. Andere Epochen und Völker müssen nicht über dieselben Begriff verfügen, um genau dies zu vertreten, was der moderne Begriff meint.

Die chinesische Philosophie kennt nicht den Begriff der Menschenrechte und ist dennoch eine leidenschaftliche Befürworterin derselben – mit anderen Begriffen, die man aus dem Zusammenhang des Denkens ableiten und übersetzen müsste. Das gilt für alle Kulturen und Religionen der Welt. Wer ein anderes Vokabular als der Westen hat, kann ihm dennoch an Humanität und Menschenwürde überlegen sein.

Deutsche Gelehrte plustern sich gerne auf mit der angeblichen Unübersetzbarkeit von Worten. Sei es aus dem Griechischen oder aus dem Biblischen. Das ist Unsinn. Würde man den Begriff mit wenigen Sätzen erklären, wüsste jeder, wie man ihn verwenden kann.

Arete, die Tugend der Griechen, ist keine christliche und dennoch ist sie eine Tugend. Christliche Tugend ist keine der Logik unterworfene, widerspruchsfreie Tugend. Sie bezeichnet die gläubige Gesinnung des Frommen, dem alles erlaubt ist – wenn es im Dienst des Himmels geschieht. Die Reinheit des Glaubens reinigt alles Tun als Gehorsam gegen Gott. Glaube – und tu, was du willst. Sündige tapfer, wenn du nur glaubst.

Biblische Tugend ist antinomisch, sie kann Gutes wie Böses als heilige Tat definieren. Nicht so griechische Tugend. Sie unterscheidet streng zwischen gut und böse. Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun: das könnte man übersetzen: Böses erleiden ist besser als Böses tun. Eben dies wäre das Gute. Das Gute einer Tat ist nicht abhängig von der Gesinnung, Gesinnung ist abhängig von der jeweiligen Tat. Sage mir, was du tust und ich nenne dir deine Gesinnung. Bei Christen umgekehrt; nenne mir deine Gesinnung und ich sage dir, ob du ein Liebling Gottes bist.

Kennt man die philosophischen Unterschiede zwischen antinomischem Glauben und griechischem Nomos, könnte man in beiden Fällen von Tugend sprechen. Einfacher geht’s nicht. Völker sind verschieden – und dennoch ineinander übersetz- und verstehbar.

Für pluralistische Gesellschaften gilt das Prinzip der Übersetzbarkeit auch für den Streit der Individuen. Die mäeutische Gesprächskunst war eine fortlaufende Übersetzung des Denkens des Einen in das des Anderen. Was, oh Freund, verstehst du unter dem Begriff der Wahrheit?

Diese Übersetzungskunst durch unermüdliches Klären ist in der Moderne verloren gegangen. In öffentlichen Streitgesprächen wird nie geklärt, was jeder mit seinen Begriffen meint. Das Ergebnis ist eine kollektive Dauer-Kakophonie. Keine Gesellschaft kann sich langfristig erhalten, wenn ihre Mitglieder in wirren Privatsprachen aneinander vorbeireden.

Toleranz war eine griechisch-römische Tugend. Die Alten sprachen von der Freiheit des Denkens. Heute würde man von Aufklärung sprechen. Die Griechen waren geradezu süchtig nach fremden Meinungen und konträren Ansichten. Wie hätten sie ihrer Leidenschaft – dem streitbaren Agon auf dem Marktplatz – nachkommen können ohne das „Dulden“ anderer Meinungen?

Dulden bedeutete nicht, den Wahrheitsanspruch anderer Meinungen blind zu übernehmen. Im Gegenteil. Das Unwahre musste mit allen Künsten der Logik widerlegt werden. Was nicht bedeutete, dass es verboten war.

Die Anklage gegen Sokrates wäre im freien Jonien unmöglich gewesen. Das zurückgebliebene Athen hatte noch reaktionäre Züge, die es erst allmählich ablegte. Hätte Sokrates seine Meinung dem Gericht ins Gesicht schleudern können, wenn sie – wie etwa im christlichen Mittelalter – per Gottesurteil verboten gewesen wäre? Dulden ist alles andere als schwächliches Hinnehmen. Es prüft und urteilt.

Hedde ist außer Rand und Band: „Toleranz ist demnach Neutralität, nicht die der gottgefälligen Seele, sondern des aufgeklärten Verstandes. Toleranz urteilt nicht, sondern sieht. Toleranz ist ihrer Natur nach passiv und eignet sich nicht zur Rettung anderer.“ (Hedde)

Versteht sich, dass Lessings Toleranz, die Frucht mühsamen Nachdenkens gegen christliche Intoleranz – ein anderes Wort für tödlichen Hass gegen Andersdenkende – bei Hedde mit keiner Silbe erwähnt wird. Die Wahrheit einer Religion hat sich durch humane Taten zu erweisen. Das war die nicht genug zu rühmende Leistung des Lessing‘schen Denkens gegen alle ketzerfressenden Geistlichen und für die Anerkennung der jüdischen Religion – sofern sie sich durch humane Taten beweist.

„Bei Lessing wird freilich Toleranz gepredigt. Aber nicht Toleranz aus religiöser Gleichgültigkeit, sondern in dem Sinn, dass jeder Bekenner einer Religion seine eigene und die des anderen ernst nehmen und ihren Wert durch sein praktisches Verhalten erweisen solle.“

Lessing war ein Freund des jüdischen Aufklärers Mendelssohn, dem er in der Figur „Nathan der Weise“ ein rühmendes Denkmal setzte. Heute ist Lessing mausetot. Heute wird der Wert einer Religion durch numinose Erbaulichkeit oder Fürwahrhalten von Absurditäten begründet.

Tolerieren von Intoleranz, die ihre alleinseligmachende Meinung mit Gewalt vollstreckt, kann unter keinen Umständen geduldet werden. Alles ist tolerierbar, was das Gesetz nicht verbietet. Wer Gesetze für falsch hält, muss sie auf demokratischem Wege zu verändern suchen. Tolerieren heißt nicht, alles für wahr halten. Unsinn muss geduldet werden, wenn er seine Unfehlbarkeit nicht mit terroristischen Mitteln verifizieren will.

Goethes unterschiedsloses und wertungsloses Tolerieren von allem ist die duckmäuserische Lobpreisung der Feigheit als Tugend. Obgleich er dezidierter Nichtchrist war, dachte er nicht daran, das Christentum zu attackieren. Aus Feigheit vor weltlichen und klerikalen Mächten stellte er sich auch nicht vor Fichte, der wegen Atheismus angeklagt war. Toleranz muss keineswegs zur Anerkennung einer falschen oder verderblichen These führen, wie Goethe meinte, der von demokratischer Toleranz nichts wissen wollte, denn vom Volk hielt er nicht viel.

Toleranz war jene Tugend, mit deren Hilfe die Aufklärer die mörderischen Religionskriege und Hexenprozesse der Kirchen beendet hatten. Dulden der Andersdenkenden als passive und schwächliche Tugend einzuschätzen, ist ignorant und absurd.

Geradezu gefährlich wird‘s bei Hedde, wenn er schreibt: „Man kann einen Flüchtling nicht tolerieren, denn sein Schicksal ist eine Tatsache, ebenso wie es die Hautfarbe, Herkunft oder das Geschlecht eines Menschen ist. Die Frage nach der Toleranz stellt sich nicht, weil Tolerieren oder Nicht-Tolerieren keinen Unterschied macht: Die Tatsache bleibt. Der Begriff hat deshalb ausschließlich das Geistige zum Inhalt.“

Tatsachen können sehr wohl geleugnet, ja mit Gewalt aus dem Weg geräumt werden. Was ist ein Krieg anderes als ein Vernichten von Tatsachen, die dem Machtwillen der Feinde entgegen stehen? Flüchtlinge werden immer wieder getötet. Die NSU ermordete mehrere Menschen, die ihrer Ideologie im Weg standen. Feindschaft und Hass, die Antithesen zur Toleranz, dulden niemanden, der ihrem Furor im Wege steht.

Was die Griechen unter Toleranz verstanden, kann man in den „Wolken“ des Aristophanes nachlesen, wo ein rebellischer Philippides die Ansicht äußert:

„Wie lieblich ist es, neuer Kunst und Wissenschaft sich weihen,

Besteh’ndem Recht und Vorurteil freidenkend sich entreißen.“

Traditionelle Sitten können durch Kritik erschüttert werden. Wer an die Macht aufklärenden Denkens glaubt, kann auf Gewalt verzichten, um die Verhältnisse zu humanisieren. Faschismus ist Verbessern und Beglücken durch Zwang und Gewalt. Aufklärung ist Humanisieren durch vorbildliches Tun und gute Gründe.

„Ist der, der aufgebracht die Tradition, nicht auch ein Mensch gewesen?

Wie du und ich? Und musst‘ er nicht mit Gründen sie empfehlen?“ (Philippides)

Durch freies Denken bestimmt ein Volk seine Gesetze. Danach erst können die Gerichte ans Werk gehen und das zu Gesetzen verdichtete Denken als Kriterium des Rechtsprechens benutzen. Solche Trivialitäten werden in der jetzigen Satire-Affäre unter den Teppich gekehrt. Merkels Kotau vor dem Despoten wird mit dem Hinweis verteidigt, das Recht müsse seinen Lauf nehmen. So bei Prantl in der SZ:

„Liefert die Kanzlerin den Satiriker ans Messer? Unsinn. Die Übergabe an die Justiz ist kein Kotau vor Erdoğan, sondern der gute Gang der Dinge in einem Rechtsstaat. Der Fall kommt jetzt aus der Sphäre der Opportunität in die der Legalität.“ (Süddeutsche.de)

Wenn Merkel das Recht hatte, zu entscheiden, ob sie Erdogans Bestrafungswünschen nachkommt oder nicht, wäre es ebenso rechtens gewesen, das schändliche Begehren mit klaren Worten zurückzuweisen. Hier geht es um eine urdemokratische Angelegenheit und nicht um eine primär juristische. Kein juristisches Verfahren schließt zudem eine öffentliche Debatte aus. Ohnehin hatte der zuständige Staatsanwalt ein Verfahren eingeleitet. Dessen Überlegungen wartete Merkel nicht ab, sondern handelte in vorauseilender Unterwerfung. Natürlich war es eine atmosphärische und politische Vorverurteilung, die die Kanzlerin am Telefon aussprach.

Es war nur die New York Times, die „beste Zeitung der Welt“, die den Rücktritt Merkels forderte. Deutschland ist dabei, sich vor der Welt als kriecherische Nation zu disqualifizieren – wenn es die Kanzlerin nicht in die Wüste schickt. Sie ist überfordert, ihre Zeit ist abgelaufen, ihr Ingenium für Volkes Meinung ist verloren gegangen. Die mächtigste Frau der Welt hat den Zenit ihrer Macht überschritten. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein kleiner Schritt – diesem deutschen Gesetz scheint sich auch die Kanzlerin beugen zu müssen.

Demokratie ist für die Physikerin Merkel nur eine fromme Maschine, die auf Knopfdruck und Segensspruch reagiert. Als christliche Anhängerin eines totalitären Sozialismus hat die Pastorentochter weder die antiautoritäre, noch die feministische oder ökologische Bewegung am eigenen Leibe miterlebt. In allen Dingen setzte sie sich ins gemachte Nest. Sie tut, was Gott ihr aufträgt. Alles andere ist für sie lästige Ideologie. Was Aufklärung ist, kennt sie nur vom Hörensagen. Ihren Job versteht sie als bloßes Hantieren mit der Macht. Argumentieren und Überzeugen sind für sie Fremdworte. Putin, Orban und Erdogan, ihren politischen Widersachern, ist sie ähnlicher, als sie zugeben kann.

Prantl und seine juristischen Kollegen wollen der frommen Kanzlerin Flankenschutz geben, indem sie nach dem Richter rufen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Die Autoritäten in schwarzen Talaren übernehmen die Verantwortung. Ein ARD-Kommentator sprach gar von der Gewaltenteilung, die gefährdet wäre, wenn Merkel dem Despoten widerstanden hätte. Würdeloser geht’s nicht mehr. Eine intakte Demokratie ist immer im Zustand der Legalität – solange illegales Tun geahndet wird. Erst ein „failed state“ befände sich im Stande der Gesetzlosigkeit.

Prantl fällt hinter die Aufklärung zurück. Wo lassen Sie denken? Beim Richter. Nach Kant ist Unmündigkeit „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Zum autonomen Denken gehört die Überlegung, lächerliche Paragrafen zu demontieren. Der umstrittene Satiriker soll nach einem Gesetz beurteilt werden, das schon jetzt Makulatur ist.

Die absonderliche Vergangenheit des umstrittenen Paragrafen hat die TAZ recherchiert. Als die Deutschen nach dem Krieg ihren unfehlbaren Führer verloren hatten, wollten sie ihn als fremden Despoten stellvertretend wieder auferstehen lassen.

„Adenauer plante 1958, auch noch einen Paragrafen 103a einzufügen: Wer öffentlich „eine herabwürdigende Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die das Privat- oder Familienleben eines ausländischen Staatsoberhauptes oder eines seiner Angehörigen betrifft und geeignet ist, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu stören, wird ohne Rücksicht darauf, ob die Behauptung wahr oder unwahr ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. Um auch überhaupt keinen Zweifel an dem Willkürcharakter aufkommen zu lassen, schloss der Paragraf mit dem Satz: „Eine Beweisführung über die Wahrheit der Behauptung ist unzulässig.“ (TAZ.de)

Räsonniert so viel, wie ihr wollt und worüber ihr wollt, nur gehorcht. Das war Kants Einschränkung seiner eigenen Forderungen nach autonomem Denken. In Prantls Sprache: quasselt so viel ihr wollt, nur übergebt alles kompetenten Richtern.

Augstein will das Volk zum bloßen Kreuzchen-Machen degradieren, Prantl die Verteidigung eines demokratischen Grundrechtes der Justiz vorbehalten. Die Parteigänger des Heiligen verteidigen ihre fromme Kanzlerin bis aufs Messer. Die Edelschreiber gebärden sich immer patriarchalischer, um dem Pöbel zu zeigen, wo Bartels den Most holt.

Was darf Satire? Alles – was ein fremder Despot erlaubt. Deutschlands Sonderweg führt von neoliberaler Brutalität über auftrumpfende Caritas zur würdelosen Schande. Er führt direkt dorthin.

Fiat justitia, pereat democratia. Es lebe die Justiz, und wenn die Herrschaft des Volkes vor die Hunde ginge.

Justitia locuta, causa finita: haben die juristischen Weisen entschieden, hat das Volk zu schweigen.

 

Fortsetzung folgt.