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Europäische Idee XLII

Hello, Freunde der europäischen Idee XLII,

gestern ein Volk der Flüchtlingsenthusiasten,

über Nacht ein Volk ausgebrannter Moralhelden und verschämter Befürworter der Abschottung,

heute ein Volk verwegener Satiriker.

Was geht ab?

Dialektik geht ab, Alter.

Dialektik? – sprich deutsch mit mir, Spitzkopf.

Okay, okay; sei doch nicht immer gleich so gereizt. Also: zuerst Streit bis aufs Messer, dann der Ganz Große Kompromiss als Nationale Groß-Koalition. Kennst du eine einzige Partei, die mit Merkel nicht ins Bett will – weswegen sie unersetzlich ist?

Sie nennen es Wettbewerb um die Mitte. Haha, die Mitte! Wackelgreise reden von Harmonie. Die Deutschen klumpen zusammen und schießen gegen den gemeinsamen Feind – weit hinten in der Türkei. Sind wir nicht überzeugt, dass wir geschlossen unsere Knete und Autobahnen verteidigen müssen? Das ist unser patriotisches Eiapopeia.

Bei Putin waren wir noch gespalten, diese sabbernden Putin-Versteher haben uns noch die völkische Suppe verhagelt. Jetzt sind wir weiter: wer wagt es, sich bei einem anatolischen Pascha einzuschleimen – außer unserer Kanzlerin? Doch die muss. Das gehört zu ihrem Job, damit sie uns die Hungerleider, pardon, diese Wirtschaftsmigranten, vom Halse hält.

Ach so, jetzt verteidigst du auch noch die „One Woman-Show“?

Mann, kapier doch, wir Männer haben fertig. Kennst du einen einzigen Mann, den

du dir als Kapitän vorstellen kannst? Ich sag dir, wir müssen froh sein, dass die tapfere Angela einspringt und die Trümmer wegräumt, die die kaputten He-Männer hinterlassen haben. Zum Dank wird sie noch geprügelt. Sollte sie morgen die Schnauze voll haben und ins Geheimnisvolle entschweben, werden wir alle heulen wie die Schlosshunde. Hat sie nicht erklärt, das ist nicht mehr ihr Land, wenn nicht jeder Deutsche Mutter Theresa in den Schatten stellt? Angela, halt durch, wir glauben an dich. – Mit diesem mutterländischen Appell zurück ins Funkhaus.

Zuerst die große Begeisterung (über die Französische Revolution), dann der Katzenjammer (über den Robespierre-Terrorismus), schließlich Abschied von der Politik und Sprung auf die moralische Schaubühne und ins Schöne (die Flucht deutscher Dichter und Denker in Kunst und Idealismus). Sire, geben Sie Gedankenfreiheit! Als sie keine Gedanken mehr hatten, ging auch die Freiheit flöten. Das war der Übergang der Untertanen ins Ästhetische, womit wir bei der Satire wären.

Die Vergangenheit hat uns im Schwitzkasten. Wir betreiben keine Politik mehr, wir machen in Kunst. Wann ist Satire Kunst? Muss Kunst moralisch sein? Muss das Versmaß klassisch, der Inhalt koscher – oder darf das Ganze dadaistisch sein? Hatten wir nicht gerade deutsche Jubelfeiern zum Dadaismus? Erleben wir nicht einen perfekt eingefädelten TV-Dadaismus – und kein Dadaistenbewunderer hat es bemerkt?

Dadaismus ist jene Kunst, die übrig bleibt, wenn man das klassische Versmaß nicht mehr beherrscht und das Schöne, Wahre und Gute unter Veitstänzen begraben hat. Was bleibt? Das Possenspiel, das Spottgedicht des Satyrs – oder die Satire.

„Der Dadaismus stellte die gesamte bisherige Kunst in Frage, indem er ihre Abstraktion und Schönheit durch z. B. satirische Überspitzung zu reinen Unsinnsansammlungen machte, z. B. in sinnfreien Lautgedichten. Die Sprache wird ihres Sinnes entleert und die Laute werden zu rhythmischen Klangbildern zusammengefügt. Dahinter steht die Absicht, auf eine Sprache zu verzichten, die nach Ansicht der Dadaisten in der Gegenwart missbraucht und pervertiert ist.“

Da muss er noch ein bisschen üben, der kühne TV-Satyr. So richtig sinnfrei und rhythmisch war sein Klanggebilde noch nicht. Zu viel erkennbare Gossensprache. Nur Mut, es wird schon – beim nächsten Versuch. Ein kleiner kreativer Leitfaden:

„Satire kann folgende Funktionen haben:

Kritik: nach Schiller kontrastiert Satire die mangelhafte Wirklichkeit mit einem Ideal.

Polemik: Einseitigkeit, Parteilichkeit, Agitation bis zur Aggression.

Didaktik: direkte oder indirekte Absicht zu belehren und zu bessern.

Unterhaltung: Nähe zu Komik und Parodie, von denen sie sich durch kritische Absicht unterscheidet.“

Wen wollte die Satire belehren und verbessern? Was war ihr Ideal? War das Gebilde komisch – oder peinlich? Ist Peinlichkeit die zeitgemäße Form der Komik? Man wird ja noch fragen dürfen.

Darf deutsche Kunst überhaupt mit moralischem Zeigefinger auftreten? Was sagen die gestrengen Literaturkritiker, die sich sonst bei jedem Roman „mit moralischer Botschaft“ übergeben müssen? Dies alles soll sich über Nacht verändert haben?

Die Deutschen – aus dem Stammland nie endender Erneuerungs-Bewegungen – scheinen fähig zu jeder Blitzkonversion. Hauptsache, sie hören die Stimme der Geschichte oder eines noch höheren Orts. „Plötzlich umstrahlte sie ein Licht vom Himmel und sie stürzten zu Boden und hörten eine Stimme.“ Das ist altbackene Bekehrung. Heute bekehrt man sich vor dem Smartphone, dem Großbildfernseher oder mit der Rundum-Google-Brille. Auch Offenbarungen unterliegen der progressiven Nötigung, sich technisch fortzuentwickeln. Das Höchste auf dem Markt der Offenbarungen ist heuer der Algorithmus, der in sich selbst satirisch ist – ohne es zu wissen. Maschinen sind absolut humorfrei. Was das mit Deutschen zu tun hat?

Napoleon ist an allem schuld. Hätte es diesen maßlosen Korsen nicht gegeben, wären die jung-wilden Deutschen Anhänger der Französischen Revolution geblieben, hätten brav ihre Deutsche Revolution ausgerufen und Adel und Popen zum Teufel gejagt. Aber nein, der Weltgeist wollte es anders.

Goethe machte seinen Kotau vor dem Eroberer aller deutschen Lande, wie Merkel vor dem türkischen Despoten. Er, Napoleon, habe den Werther siebenmal gelesen. Das genügte dem eitlen Fürstenknecht, um geschmeichelt seine Aufwartung zu machen. Und Hegel erst. Der hat den „Weltgeist zu Pferde durch die Stadt zum Rekognoszieren reiten sehen.“

Nun standen die Stürmer und Dränger im Regen. Ihre Begeisterung für Menschenrechte und Empörung wider alle Unterdrücker erhielt einen schrecklichen Dämpfer. Just jene, die ihre freiheitlichen Vorbilder waren, hatten sie überrollt und spielten ihre Zwangsbeglücker. An dieser Wegmarke erhielt das deutsche Wesen jenes Verkorkste und Widersprüchliche, das es bis zum heutigen Tag nicht ablegen konnte.

Die deutsche Seele spaltete sich bis zur Wurzel: einerseits der Hang zur politischen Selbstbestimmung, andererseits die störrische Reaktionsbildung gegen alles Menschenrechtliche ihrer neuen Herren, die ihre rechtsrheinischen Untertanen nicht mit Argumenten, sondern mit Gewalt zu freien Menschen nötigen wollten.

Seit jenen Tagen wurde „Ambivalenz“ zum wichtigsten Begriff der deutschen Physiognomie. Oder, wie Festredner zu formulieren pflegen: Freiheit – aber in Bindung. Und wie es der Teufel – äh Gott – wollte, verwuchs die ambivalente Erfahrung der Freiheit unauflöslich mit der paulinischen Formel:

„Denn ihr seid zur Freiheit berufen, ihr Brüder. (Von Schwestern keine Rede). Nur lasset die Freiheit nicht zum Anlass für das Fleisch werden, sondern dienet einander.“

„Handelt nicht als solche, die die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit benutzen, sondern als Knechte Gottes.“

Die historische Erfahrung mit der Niederlage gegen die einst bewunderten französischen Revolutionäre verstärkte die lutherisch-paulinische Botschaft der Freiheit – die keine war. Wer frei ist im Glauben, soll zum Knecht aller werden. Wer Erster sein will, soll Letzter, soll Diener aller sein. Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben? Nicht für Deutsche. Gesetze sind Unterdrückung und wären sie die demokratischsten. Besser als Gesetze ist jene Freiheit, die die Deutschen „über den Wolken“ vermuten. Über den Wolken ist Synonym fürs Jenseits.

„Über den Wolken
Muss die Freiheit wohl grenzenlos sein
Alle Ängste, alle Sorgen
Sagt man
Blieben darunter verborgen
Und dann
Würde was uns groß und wichtig erscheint
Plötzlich nichtig und klein.“ (Reinhard Mey)

Freiheit, die die Freiheit anderer ignoriert und keine Regeln der Rücksicht und Kooperation anerkennt, ist neoliberale, chaotische, anarchische, deutsch-romantische, christliche Freiheit. Es gibt keine grenzenlose Freiheit, die maximale ist das Wohlgefühl, unter Gleichen ein freier Mensch zu sein.

Auch Ängste und Sorgen schrumpfen in Freiheit nicht zu nichts. Im Gegenteil. Das grenzenlose Risiko verstärkt die Angst, im Wettbewerb zu verlieren und abzusteigen. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan – und ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ (Luther)

Die reformatorische Freiheit Luthers wurde zur Untertänigkeit unter jedwede Obrigkeit. Der junge Luther war voll der caritativen Gefühle für Juden und Bauern, die er als Freunde und Unterstützer seiner Reformation einschätzte. Doch als die Juden nicht daran dachten, urchristliche Protestanten zu werden und die Bauern ihre Unterdrücker nicht allein durch Gebete loswerden wollten, schlug – kaum anders als bei Lutheranerin Merkel – die anfängliche Barmherzigkeit des Wittenbergers um in machtbewusste Kaltherzigkeit und Mitleidlosigkeit. Im Gegensatz zum Reformator, der Hass, Gift und Galle spucken konnte, versteckt die Pastorentochter alle Gefühle unter einem lang einstudierten Pokerface.

Ambivalente Gefühle sind einseitig und erfordern zur emotionalen Komplettierung ihr unbewusstes Gegenteil. In ihrer Labilität neigen sie dazu, leicht ins Gegenteil zu kippen. Das zeigt sich jetzt, wenn viele Kommentatoren die Klärung der Satire-Affäre von einem Gerichtsurteil erwarten (z.B. Blome in BILD).

In der gestrigen Phoenix-Runde forderte Heribert Prantl die Abschaffung des „Schah-Paragraphen“. Früher habe es Bestrebungen gegeben, den aristokratischen Dünkel-Paragraphen abzuschaffen. Die meisten Juristen hielten diesen für einen peinlichen Überrest monarchischer Zeiten. Dennoch sei er nie abgeschafft worden mit der seltsamen Begründung, ohnehin hätten wir wenig mit ihm zu tun. Solange wir ihn aber hätten, meinte Prantl, müssten wir mit ihm umgehen.

Müssen wir nicht. Was wissen Juristen, was Demokraten nicht wissen? Die Affäre ist eine politische und müsste durch öffentliche Debatte der Polis entschieden werden. Schon ist der neue Trend erkennbar: je weniger man Politikern übern Weg traut, je mehr erwartet man von weisen und klugen Juristen, die mit seltsamsten Begriffen (wie „Schmähkritik“) hantieren, als seien sie vom Himmel gefallen. (Nach Hörensagen sind nicht wenige Karlsruher Richter mit vatikanischen Orden dekoriert. Kein Wunder, dass die Böckenförde-Degradierung der laizistischen Demokratie zugunsten religiöser Unterfütterung und klerikaler Dominanz zum Grunddogma der Republik werden konnte.)

Das Recht ist nicht das Erkenntnisprivileg juristischen Standesdünkels. Es muss vom Volk debattiert und abgesegnet werden. Alles andere ist juristische Patriarchenregierung. Seit wie vielen Dezennien hat es keine Grundlagendebatte mehr in Rechtsfragen gegeben? Eine Demokratie, deren Rechtsgrundlagen dem Volk nicht lebendig und präsent sind, kann keine lebendige sein. Denn hier beruhte der Rechtsgehorsam nur auf der Furcht vor Strafe und nicht auf der Einsicht: folge ich dem Recht, folge ich meiner eigenen Autonomie.

Eine außerordentliche Schwäche des jetzigen Rechtssystems ist die Bestätigung der alten Volksweisheit: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Wer seine Rundfunkgebühren nicht bezahlt, wandert unbarmherzig in den Bau. Wer verantwortlich ist für die größten Katastrophen, kommt ungesühnt davon. Fast kein einziger Bankier, kein einziger Zocker oder Spekulant musste wegen der verheerenden Finanzkrisen die Zeche zahlen.

Die Kategorie der Schuld kann in einer „überkomplexen Welt“ nicht mehr zur Geltung kommen. Deshalb hat man das Überkomplexe erfunden. Ist alles mit allem unerkennbar vernetzt, kann niemand als Subjekt des Tuns dingfest gemacht werden. Zwei flagrante Beispiele der jüngsten Vergangenheit:

a) Das Landgericht Duisburg lehnte es ab, einen Strafprozess zur Love-Parade-Katastrophe zu führen:

„Tatsächlich droht den Betroffenen und der Öffentlichkeit nun das Bild eines Unglücks zu entstehen, an dem niemand Schuld trägt, weil sich niemand dafür wird verantworten müssen. So als wären die Toten und Verletzten der Love Parade 2010 einem Wirbelsturm zum Opfer gefallen oder einer Flut. Doch das sind sie nicht. Sie starben bei einer Feier, die Menschen geplant, organisiert und überwacht hatten. Nur eben nicht gut genug. Aber wer machte welche Fehler und was hatten sie für Folgen? Diese Frage ist noch immer unbeantwortet.“ (SPIEGEL.de)

b) Ein Friedensaktivist hatte gegen die Drohneneinsätze der US-Army in Ramstein geklagt.

„Der Versuch, die Bundesregierung gerichtlich zum Einschreiten gegen die tödlichen Drohneneinsätze der USA zu verpflichten, ist vorerst gescheitert. Der Mann hatte geltend gemacht, durch seine Nähe zu Ramstein von möglichen Gegenschlägen von Terroristen bedroht zu sein. Dem Gericht genügte dies nicht, daraus eine persönliche Betroffenheit des Klägers herzuleiten. Die wäre aber Voraussetzung einer Klage.“ (Süddeutsche.de)

Schuld ist, wer Verantwortung trägt. Wer im politischen Raum verantwortlich ist, lässt sich feststellen. „Persönlich“ muss er keine Schuld auf sich geladen haben. Und dennoch ist er schuldig, wenn seine Untergebenen schuldig wurden. Nach lückenlosen kausalen Befehlsketten von Oben nach Unten zu suchen, ist irrsinnig. Verantwortliche Eliten wollen an nichts mehr schuldig sein. Rücktritte oder sonstige Konsequenzen ihres Fehlverhaltens haben sie abgeschafft. Schuld ist zum Alleinstellungsmerkmal der unteren Klassen geworden. Dass ein Bürger von etwaigen Völkerrechtsverletzungen der eigenen oder einer fremden Regierung nicht betroffen sei, ist eine unverschämte Entmündigung des Einzelnen. Anstatt dem Kläger für sein demokratisches Engagement zu danken, wird er mit Schimpf und Schande davon gejagt.

Das Prinzip der unerkennbaren oder nicht vorhandenen Schuld hat sich in den Gehirnen der Eliten eingenistet. Sie wollen verantwortlich sein für alles Gute, für alle Übel aber nicht zuständig sein. Das ist die Beschreibung des allmächtigen Gottes, der für die Wohltaten seiner Schöpfung angebetet werden will, die Folgen des Bösen schiebt er seinen Kreaturen in die Schuhe. Die Mächtigen werden immer gottgleicher, die Schwachen holt der Teufel.

Welche Lehren zog Schiller aus dem terroristischen Bankrott der von ihm so bewunderten Französischen Revolution? Dass der Mensch, bevor er den Staat verbessern will, zuerst sich selbst verbessere. Erst müsse er sich selbst zum Menschen erziehen, bevor er das Gemeinwesen humanisieren könne.

Dieses Argument kann man gelegentlich noch heute lesen. Bevor man den Staat heftig kritisiere, solle man doch bitteschön vor der eigenen Türe kehren. Zugrunde liegt, wie immer, ein neutestamentarisches Gebot. Hier das Bild vom Splitter und Balken. Erneut zeigt sich, dass das demokratische Denken der Deutschen durchgängig von einer antipolitischen religiösen Erbsündigkeit kontaminiert ist. In persönlichen Streitigkeiten ist es sinnvoll, seine eigenen Schuldanteile nicht zu leugnen. Soll aber das Opfer eines pädophilen Erwachsenen die Schuld erst bei sich suchen, bevor es den Täter anklagen darf?

Und im politischen Raum: müssen wir zuerst unsere ehebrecherischen Gedanken gestehen, bevor wir Merkel des rücksichtslosen Bruchs ihrer Flüchtlingspolitik anklagen dürfen? Wenn ein gerechter Krieg als Verteidigung gegen böse Feinde legitim sein soll, dann ist er weniger schuldig als der Krieg der Aggressoren. Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet? Das wäre das Ende jeder gerechten Schuldsuche und einer angemessenen Strafe. Das wäre Kumpanei auf Gegenseitigkeit. Ich richte dich nicht, wenn du mich nicht richtest.

Schillers Irrtum wurde zum durchgängigen Irrtum aller Deutschen bis zum heutigen Tag. Man kann sich nicht erziehen, wenn die politischen Verhältnisse es nicht zulassen – und umgekehrt. Die Verhältnisse werden sich nicht bessern, wenn nur die „Strukturen“ und „Institutionen“ verändert werden.

Das ist der Grundfehler der Marxisten, die dem aberwitzigen Motto folgen: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das Sein kann das Bewusstsein nur bestimmen, wenn das Bewusstsein das Sein bestimmt. Es ist ein reziproker Prozess, der in Gang kommen muss. Der Überbau bestimmt im gleichen Maße den Unterbau wie umgekehrt.

Die scheinrevolutionäre Apathie der Linken ist durch Marxens Aberwitz begründet, den Menschen zum Untertan objektiver Verhältnisse oder einer allmächtigen Geschichte zu erniedrigen. Marx ist eine bloße Variante des lutherischen Obrigkeitsdenkens. Seine Obrigkeit heißt nicht Gott, sondern Sein. Marxens Religionskritik war ein oberflächliches Plagiat Feuerbachs. Im Grunde war er Christ mit ökonomischem Vokabular und einem unerschütterlichen Glauben an eine Heilsgeschichte, die ins Reich der Freiheit münden werde. Es kann nicht verwundern, dass der englische Marxist Eagleton die Rückkehr der Religion begrüßt. Seine Erklärung:

„Die Religion fülle die symbolische Leere, die der Sieg der säkularen Kultur hinterlassen hat. Rücksichtslos habe sich der Westen ausgebreitet und dulde das Religiöse nur noch in verdünnter Emulsion: als metaphysisches Klimbim oder bizarres Hobby. Doch je deutlicher „der spirituelle Bankrott der kapitalistischen Ordnung sichtbar“ werde, desto schneller wachse das Bedürfnis zu glauben.“ (ZEIT.de)

Warum ähneln sich alle Parteien der BRD wie ein Ei dem andern? Weil sie allesamt das liebe Jesulein bewundern und verehren. Die einen, um ins Himmelreich zu kommen. Die andern, um die Schöpfung zu bewahren und die Dritten, weil der Nazaräer das Vorbild des Marx gewesen sei. Die großdeutsche Parteienlandschaft ist zur dialektischen Synthese zusammengebacken – und Merkel ist die Madonna aller Versöhnung.

Man könnte von einem riesigen faulen Kompromiss sprechen. Mächtige von früher beklagen die „One-Woman-Show“ der uniformierten Einheitsbreipolitik von heute. Den Namen Merkel liest man bei ihnen so wenig wie eindringliche Ursachen- oder Schuldanalysen:

„Demokratie brauche vitale Parteien, heißt es in einem Appell zur „Revitalisierung der politischen Parteien“, den unter anderem der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog jetzt in der F.A.Z. veröffentlicht hat. Die Ergebnisse der Landtagswahlen seien eine Quittung für „kollektives Versagen“.“ (FAZ.NET)

Der Mensch, der sich durch Literatur, Poesie und Theater gebildet und humanisiert habe, sei der vollkommen-moralische und also schöne Mensch, so Schiller. Das war ein Affront gegen Kant, obwohl er ihn überaus schätzte. Dass der Mensch nur aus sauren Pflichtgründen moralisch sein könne, da er seine Tugenden mühselig seinem radikalen Bösen entreißen müsse, fanden Schiller und Goethe abscheulich und einen Rückfall ins Mittelalter. Nein, der mündige Mensch könne nicht nur seinen vernünftigen Willen, sondern sein ganzes emotionales Gemüt mit wahrer Freude an der Tugend erfüllen. Schön sei die Einheit des Wahren und Guten in Harmonie mit der Natur.

„Aufklärung und Humanität sind auch für Schiller nicht voneinander zu trennen und sie weisen nicht nur über das Christentum hinaus, sondern sie stehen in polarem Gegensatz zu ihm.“ (Nestle)

Dennoch ist Nestles Beschreibung der Schiller‘schen Moralität positiv überzeichnet. Indem Schiller die Moralität des Menschen in den Bereich der Kunst verweist, unterstellt er sie dem irrationalen Genie, das sich keinen Regeln fügt. Weder moralischen, noch ästhetischen, noch politischen. Genie ist Inbegriff der göttlich-unberührten Natur, die sich von keinen menschlichen Gesetzen domestizieren lässt.

„Das höchste Ideal des Schönen ist Natur oder der natürliche Mensch: der ungebildete, d.h. unverbildete, der unmoralische, d.h. lebensvolle, der „geschmacklose“, d.h. der ungeschminkte; kurz, der naive, kraftvolle, urwüchsige Mensch, der nicht vernunftgeformt ist, sondern unmittelbar aus der Fülle des Herzens handelt. Nur da ist ein wahrer Gegenstand der Dichtung, wo die Einfalt der Natur über die Künstlichkeit der Kunst, den abstrakten Aberwitz der Vernunft, die Unsittlichkeit der „Sitten“ triumphiert und wo wir Gelegenheit erhalten, am Werte des Natürlichen und am Unwerten des Unnatürlichen unsere Freude zu haben.“ (Korff, Geist der Goethezeit I)

Satire ist ein Kunstprodukt. Innerhalb weniger Wochen wiederholten die Deutschen den Übergang von der Moral (der Barmherzigkeit) in die Ästhetik eines Gedichts, das dadaistische Poesie zu sein begehrt. Den archetypischen Übergang vollzogen ihre Vorfahren bereits vor 200 Jahren.

Die Moral der Nächstenliebe – für Deutsche Inbegriff der Menschenrechte – ist vergessen und verdrängt, die ästhetischen Vor- und Nachteile der Satire werden in epischer Breite behauptet und bestritten. Soll Kunst jedoch die Sache des unvergleichlichen Genies sein, entzieht sie sich jeder moralischen und vernünftigen Bewertung. Der Künstler, Urtyp der deutschen Geniereligion, ist nicht nur amoralisch, sondern auch apolitisch und weigert sich, dem platten Verstand demokratischer Kammerdiener zugänglich zu sein.

Die deutschen Politeliten befinden sich auf dem abschüssigen Weg ins Ästhetische und Geniale, der über Romantik, Richard Wagner und Nietzsche bis zum verbrecherischen Gesamtkunstwerk eines gewissen Wagnerfans führen wird, welcher sich zum Führer der Deutschen ausrufen ließ. Die Wiederkehr des Verdrängten beschleunigt sich.

 

Fortsetzung folgt.