Kategorien
Tagesmail

Europäische Idee XLI

Hello, Freunde der europäischen Idee XLI,

Schmäh-Festspiele bei den nachösterlichen, garantiert ironie-freien Neugermanen. Wären sie Wiener, hätte ihr Schmäh wenigstens Charme. Wiener Schmäh ist die „typisch österreichische, gelegentlich als oberflächliche Freundlichkeit empfundene, charmante Grundhaltung und wird bisweilen in Reiseführern mit „Wiener Charme“ gleichgesetzt.“

Was haben Wiener, was lutherische Preußen und ihre muslimischen Vettern am Bosporus nicht haben? Kann es sein, dass sie …? Nein, unmöglich! Doch, es muss so sein: sie müssen etwas Sokratisches an sich haben, diese Charmebolzen, dass sie nicht mal auf die Idee kommen, ihr Schmäh könnte irgendjemanden kränken oder verletzen.

Aristophanes, aus allen Rohren schießender, vor Geist, Frechheit und Übermut sprühender Giftnickel, hatte Sokrates als ordinären Sophisten geschmäht, der den Menschen beibringe, die „schlechte Sache zur besseren zu machen.“ Was natürlich das Gegenteil der Wahrheit und eine Unverschämtheit war.

Unser über alles geliebter Sokrates bekämpfte die sophistischen Wahrheitsverdreher mit allen Kräften seiner argumentierenden Hebammenkunst. Warum kam der Gescholtene nicht auf die Idee, dem komödiantischen Denunzianten das Handwerk zu legen und wegen Schmähkritik vor ein Volksgericht zu zerren? Weil er der seltsamen Devise folgte, „dass dem guten Menschen weder im Leben noch im Tode irgendein Übel zustoßen kann“.

So geht das aber nicht, oh Meister der demokratischen Streitrede. Kein Wunder, dass die griechische Polis verschütt ging, weil du sie auf realpolitische Unmöglichkeiten verpflichten wolltest. Man solle Gott mehr gehorchen als den Menschen? Das Motto, welches die Frommen dir klauten, um es als eigene Gottesweisheit zu propagieren, hatte bei Dir den Sinn, dem Gott der Vernunft mehr zu gehorchen als

den Menschen. Mit deinem Kernsatz: Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun – verfälscht in das neutestamentliche: „Trachtet zuerst nach dem Himmelreich, dann werden euch alle diese Dinge hinzugefügt werden“ – ist auch kein Staat zu machen. Beginnt, oh Bester, mit Dir der Abschied der Moralisten von der irdischen Realpolitik und der ätherische Abflug in ein Überirdisches, das die Erfindung des Christentums unausweichlich machte – wie manche Kenner behaupten? Da reden wir uns noch.

Sich zum Spaß beleidigen, um sich gegen Unverschämtheiten abzuhärten: solche pädagogischen Trainingsmethoden gibt es nicht in der nach oben offenen Kränkungsskala kapitalistischer Wettbewerber. Ist das nicht verwunderlich? Müssten sie nicht abgehärtet sein, die Schnellläufer ins Himmelreich der Superreichen, um den Konkurrenten keine Blöße zu bieten? Sollte man denken. Ist aber nicht so – und dennoch tun sie, als ob sie gegen alles gefeit wären.

Das ist der kleine Unterschied zwischen dem nüchternen: so ist es – und dem paulinischen Erlösungs- und Kasperletheater Als-Ob. Sie tun, als ob sie knochenhart über alle Hindernisse preschen würden. In Wirklichkeit sind sie ewig rach- und vergeltungssüchtige Neurotiker – um nicht zu sagen, Psychotiker –, die ihre Ressentiments dadurch kühlen, dass sie ihre besiegten Konkurrenten in sklavenhafter Abhängigkeit zu lebenslangen Versagern, Neidern und Bewunderern verurteilen. Sie leben von der Genugtuung, zu auserwählten Siegern zu gehören, die es an die Spitze der Gesellschaft brachten, während die Loser im Morast der Abgehängten versinken müssen.

Humor war für den Wiener Sigmund Freud das verlässliche Zeichen für Lebensbewältigung und Freude am Dasein. Wenn eine Therapie dazu beiträgt, humorige Distanz zu sich selbst herzustellen, dann hat sie gute Arbeit geleistet. Wer fähig ist, seine Persönlichkeit aus ironischem Abstand zu sehen, der ist schmäh-fest und beleidigungsresistent geworden. Was nicht bedeutet, mit der Wahrheit Allotria zu betreiben und menschen-freundlichen Ernst in zynischen Unernst zu verwandeln.

Das wäre die Verwechslung von sokratischer mit romantischer Ironie. Erstere ist die Leichtigkeit, die verschiedenen Argumente solange in der Schwebe zu halten, abzuwägen und zu überdenken, bis der Erkenntnisprozess sich seiner Sache sicherer wird. Letztere soll – für Hegel, der die romantische Ironie hasste – darin bestehen, „dass alles, was sich als schön, edel anlässt, hintennach sich zerstöre und aufs Gegenteil ausgehe.“

Nach Hegel lebten wir heute in einem Zeitalter des Zynismus, der alles und nichts für wahr, alles und nichts für moralisch, alles und nichts für realpolitisch berechtigt und förderlich hält. In der Postmoderne erlebt der romantische Zynismus den Höhepunkt seines Sieges über das abendländische Europa. Die schon immer geltende christliche Antinomie ist endgültig aus dem Katechismus der Gottesgelehrten ins Handbuch christogener Machiavellisten hinübergewandert.

Merkels Politik aus zweiwöchiger Barmherzigkeit und obergrenzenloser Brutalität ist ein Paradebeispiel für spätromantischen Zynismus. Oder theologisch: dem Reinen ist alles rein, dem Sünder dient alles zur Verwerfung; ein guter Baum bringt stets gute Früchte und Merkel ist ein besonders guter, der gar nicht fähig ist, faule Früchte zu bringen (posse non peccare).

Die gegenwärtigen Shitstorm-Unflätigkeiten der Deutschen sind die Kehrseite ihrer an fehlendem Selbstbewusstsein leidenden Kränkungsbereitschaft. Die wiederum sind die jahrhundertealten Folgen einer zu Sündenkrüppeln deformierten Nation unter dem Dauerfluch der Verdammung. Selbstbewusste Menschen, die es nicht nötig haben, eine Als-Ob-Demut zu zeigen, um Andersdenkende zu beherrschen, lassen sich von Beleidigungen anderer Leute nicht so einfach das Gemütsleben verhageln. Sie wissen, dass persönliche Angriffe unter die Gürtellinie mehr über jene aussagen, die sie verabreichen als über diejenigen, denen sie gelten.

Wenn Kinder wütend werden und ihre Eltern beschimpfen, machen sie keine objektiven Aussagen über ihre Aggressions-Objekte. Eltern, die solche subjektiven Emotionen als Sachaussagen über sie, die Autoritäten der Kinder, verstehen, haben von ihren Kindern noch nicht viel verstanden. Je besser man andere versteht, umso besser kann man einschätzen, ob hier jemand aus seinem Innern keine Mördergrube macht oder aber das bürgerliche Ansehen anderer Menschen kaltblütig zerstören will. Gegen vorsätzlich-bewusste Destruktionsabsichten aus politischen oder sonstigen Machtinteressen muss man den rechten Backen nicht zusätzlich hinhalten. Vor Gericht kämpfte Sokrates mit all seiner rationalen Energie gegen die Falschaussagen seiner Ankläger.

Deutschland ist kein Land des Humors. Trotz rheinischer Schunkelmanie und karnevalistischer Rituale – die noch immer am Bändel klerikaler List laufen und den Sündern eine limitierte Trieb-Befriedigung erlauben. Einmal im Jahr die Sau raus lassen trägt nichts bei zur Charakterentwicklung einer souveränen Selbstironie. Einmal im Leben „etwas ganz Verrücktes“ anstellen: das ist das Klischee deutscher Pseudofreiheit in deutschen Filmen. Freud hat den Humor als Lebenskunst trefflich beschrieben:

„Es ist Zeit, daß wir uns mit einigen Charakteren des Humors vertraut machen. Der Humor hat nicht nur etwas Befreiendes wie der Witz und die Komik, sondern auch etwas Großartiges und Erhebendes, welche Züge an den beiden anderen Arten des Lustgewinns aus intellektueller Tätigkeit nicht gefunden werden. Das Großartige liegt offenbar in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, daß ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahegehen können, ja es zeigt, daß sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind.“ (Der Humor 1927)

Die Engländer haben es in Europa am weitesten gebracht mit der Gelassenheit, sich selbst zu ironisieren. Das amerikanische Ritual, sich rhetorisch selbst auf die Schippe zu nehmen, ist ein reichlich zwanghaft wirkendes Plagiat, das sie äußerlich von den insularen Gentlemen übernommen haben – ohne deren innere Gelassenheit einer uralten siegesgesättigten, von griechischem Geist geprägten Weltnation.

Wann hatten die Deutschen historische Epochen entspannter Freude und Gelassenheit? Woher also sollte der neugermanische Humor kommen? Zurückgebliebenheit, Leid, Zerrissenheit, politische Bedeutungslosigkeit, kompensiert mit denkerischer und dichterischer Grandiosität und politischer Berserkerei, sind keine seelischen Grundlagen für spontane Herzlichkeit und die Fähigkeit, sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen. Was nicht bedeutet, sich demokratisch nicht wichtig zu nehmen. Im Gegenteil: ein stolzer Demokrat hat kein Talent, sich als furchtsamer und resignativer Untertan aus den Angelegenheiten seines Gemeinwesens herauszuhalten. Wo es brennt, ist er zur Stelle und ist zur Stelle, damit es nicht brennt. Also immer.

Demokrat sein ist anstrengend – aber auch lustbetont. Ist es nicht lustbetont und nur saure Pflicht, hat man sein Selbstwertgefühl in der Solidarität der Gleichen und Freien noch nicht gefunden.

Die überwältigende Hilfsbereitschaft der Deutschen war eine vorpolitische, von Moral ausgehungerte Aktivierungswelle. Merkel roch den Braten, sprang nachträglich auf und verkaufte das kollektive Moralereignis als eigene Erfindung. Die HelferInnen wurden von ihr nicht als autonome politische Subjekte gewürdigt, sondern zu heteronomen Samaritern degradiert und entmündigt.

Was ist der Unterschied zwischen situativer, von Oben befohlener Caritas – und genereller Politik, die sich nicht nur für den Einzelfall in zeitlicher Begrenzung verantwortlich fühlt? Mit den Worten des protestantischen Theologen Bultmann:

„Der Entwurf einer politischen Rechtsordnung des Volkes ist in der Forderung der Liebe sowenig vorgezeichnet wie ein Programm der Weltgestaltung überhaupt. So große Bedeutung das Leben unter der Forderung der Liebe faktisch für die Gestaltung des Volks- und Gemeinschaftslebens haben wird – direkt richtet sich die Liebesforderung an den einzelnen, ihn in die Begegnung mit dem Nächsten verweisend. Indem sie ihn so in das Jetzt der Begegnung verweist, macht sie ihm die Zukunft unverfügbar, und in diesem Sinne ist Jesu Ethik eine Ethik der Jenseitigkeit, eine „eschatologische“ Ethik. Gottes Forderung steht ständig als neue in der Begegnung des Nächsten vor dem Menschen.“

Allgemeine Gesetze als Regel der Moral lehnen Deutsche instinktiv ab. In abstrakten Gesetzen ist der Einzelne für sie nur das „auswechselbare“ Ich unter vielen Ichs. Sie hingegen wollen das unvergleichliche Ich, das von Gott persönlich ausgesucht und angeschaut wird. Wie der einzelne Sünder, der Buße tut, wichtiger ist denn 99 Gerechte, ist der ausgewählte „Nachbar“ wichtiger als alle gleichwertigen BürgerInnen des Gemeinwesens. Tugenden sind keine kategorischen Pflichten für alle, sondern stets neue, unverfügbare und unberechenbare Augenblickseingebungen.

Das Event ist keine Erfindung der Moderne. Es ist der heilige Augenblick, in dem Gott spricht – oder aus unerfindlichen Gründen schweigt. Liebe deinen Nächsten, heißt: alle Mitglieder deiner Nation musst du nicht lieben. Schon gar nicht alle Mitglieder der Menschheit, die viel zu weit entfernt sind, dass man liebende Gefühle für sie aufbringen könne. Eine kosmopolitische Humanität aber ist eine weltumspannende Solidarität, die auf narzisstische Emotionen der Nähe nicht angewiesen ist.

Die Empathie des Menschen ist keine regional-beschränkte Borniertheit. Sie weiß, dass das Schicksal des Nächsten mit dem des Fernsten so verknüpft ist, dass das Interesse an meinem Überleben mit dem des Fernsten zusammenfällt.

Ist es nicht so, dass wir Katastrophenbilder aus weit entfernten Weltregionen mit klar erkennbaren Gesichtern kaum betrachten wollen – weil sie uns das Herz brechen könnten? Wenn im sozialen Netz ein verbitterter alter Mann gezeigt wird, der von seinen Nächsten vernachlässigt wird, wandert das Video in Blitzesschnelle rund um die Welt.

Worin überhaupt besteht das Erfolgsgeheimnis des planetarischen Netzes? In der Fähigkeit des Menschen, mitzuleiden und sich mitzufreuen, gleichgültig, in welcher Entfernung das jeweilige Ereignis stattfindet.

Die Menschlichkeit des Menschen wird unterschätzt. Von Eliten und religiösen Menschenfeinden lässt er sich einreden, dass er ein moralischer Rohrkrepierer sei. Teure Geschwister, lassen wir uns nicht länger von anderen einflüstern, zu welchen Taten wir fähig oder unfähig sein sollen. Wir wären zu außerordentlichen Taten der Empathie fähig, wenn wir nicht länger auf die verderblichen Stimmen professioneller Menschenverächter hören würden.

Was war der Anlass unserer Überlegungen? Eine Schmähkritik. Ist der monströse Begriff kein Widerspruch im Beiwort? Kann berechtigte Kritik eine Schmähung, unsachliche Schmähung eine Kritik sein? Niemand weiß, was eine Schmähkritik ist, nur Juristen behaupten, sie wüssten es.

„Der Fuldaer Bischof Heinz Josef Algermissen hält Ungläubige für ein Sicherheitsrisiko. Der Mensch ohne Auferstehungsglauben wird zu einem großen Sicherheitsrisiko“, sagte er. Die Hektik und Daseinsangst ließen den Menschen zuschlagen und zerstören. Er gehe buchstäblich über Leichen, bevor er selbst zur Leiche werde. Das zeige sich auch in den Terroranschlägen von Brüssel. „Wo landen wir, wenn wir nur noch formal unseren Glauben bekennen, ihn aber nicht mehr praktizieren?“, fragte er.“ (ZEIT.de)

Gläubige schmähen Ungläubige als Feinde Gottes, die vernichtet werden müssen.

„Wenn aber ein einzelner vorsätzlich sündigt, der schmäht den Herrn, und seine Seele soll aus seinem Volke ausgerottet werden, denn er hat das Wort des Herrn verachtet und sein Gebot gebrochen, ausgerottet soll er werden, seine Schuld lastet auf ihm.“

Die Gläubigen erlauben sich den ungeheuren Frevel einer Schmähung der meisten Menschen auf Erden. Werden sie selbst geschmäht, rufen sie nach dem Büttel des Staates. Doch die viel gravierendere Schmähung der Majorität der Menschen durch Stellvertreter des Himmels wird durch keinen Paragraphen des StGB geschützt. Und dies in einem laizistischen Staat – der keiner ist, sondern ein christlicher Schariastaat, in dem Kleriker Kinder schänden können, ohne dass der Staat eingreifen dürfte – es sei, die Bischöfe genehmigen es. Carsten Frerk in der FR:

„Es geht um den Artikel 4 des Grundgesetzes und ganz entscheidend darum, dass 1949 von den Weimarer Kirchenartikeln ein Absatz zur Religionsfreiheit nicht übernommen wurde. Darin heißt es, dass durch die Religionsfreiheit Staatsgebote nicht beeinträchtigt werden, Gesetze also Vorrang vor Religionsgeboten haben. Das wurde einfach gestrichen. Die Sonderrolle der Kirche ist nur möglich, weil dieser eine Satz nicht übernommen worden ist. Genaugenommen sind das Mafiastrukturen.“

Was geschieht hingegen mit den Frommen, die von bösen Gottlosen geschmäht werden? Von Gott werden sie selig gesprochen:

„Selig seid ihr, wenn ihr geschmäht werdet über den Namen Christi; denn der Geist, der ein Geist der Herrlichkeit und Gottes ist, ruht auf euch.“

Würden sie wirklich glauben, wie sie behaupten, müssten sie über jede Schmähung durch Ungläubige in Jubel ausbrechen. Denn sie würden mit Seligkeit belohnt werden.

Ging es bei Böhmermann um Schmähkritik oder um Schmähsatire, wie ein Professor zu palavern wusste?

„Heutigentags wollen keine Satiren mehr gelingen“, wusste Hegel bereits vor 200 Jahren. Was aber ist eine Satire? „Die Freiheit, mit Einfällen zu spielen. Für standpunktlose Skeptiker ein Spielen und Plänkeln mit all den Problemen, mit denen der Satiriker sonst nicht fertig wird. Das zu ernst Nehmen, so mag er sich gesagt haben, war sein Fehler gewesen. Die Widersprüche des Lebens hören auf zu schmerzen und zu verwirren, wenn man sich in der Verwirrung wohl sein lässt, wenn man sich spottend an derselben ergötzt und eine Torheit an der andern sich aufreiben lässt.“ (Haym, Die Romantische Schule)

Heißt das, ein Satiriker müsste erst seine kritische Kompetenz nachweisen, bevor er jemanden attackieren dürfte? Das wäre das Ende der Meinungsfreiheit. Geht es zudem um einen ausländischen Despoten, der alles Demokratische verhöhnt: den dürfte man nicht nach allen Regeln der Kunst vergackeiern? Das wäre das Ende der Demokratie.

„Bewusst verletzend“ seien die Verse Böhmermanns, hatte Merkel in vorauseilender Unterwürfigkeit alle Regeln demokratischen Selbstbewusstseins in den Staub getreten. Inzwischen ist sie schon wieder zurückgerudert. Ihr persönlicher Geschmack wolle die Meinungsfreiheit nicht gefährden. Tut sie aber. Nun hat Erdogan die Verurteilung des Bösewichts gefordert. Wie reagiert die prinzipienlose Berliner Regierung, die es nicht mal für nötig hielt, dem Hilfsbegehren des Verseschmieds entgegenzukommen? „Die Reaktion aus Berlin war zunächst verhalten. Die Bundesregierung wolle den Inhalt der Note nun „sorgfältig prüfen“ – und dann entscheiden, wie „weiter zu verfahren ist“. (SPIEGEL.de)

Elmar Brok verteidigt seine Kanzlerin, sie habe sehr wohl das Recht, „einen Text nicht gut zu finden.“ Das hat sie. Doch es geht hier nicht um ästhetische Bewertungen. Es geht um Meinungsfreiheit und die Verteidigung der Demokratie. Hier versagt Frau Merkel auf der ganzen Linie.

Was soll denn noch sorgfältig geprüft werden, wenn das Ergebnis durch den Mund der Kanzlerin dem Despoten schon vorab mitgeteilt wurde? Die Berliner sind außer Rand und Band. Sie merken nicht einmal – oder es ist ihnen gleichgültig – mit welch doppelter Rede sie das Publikum an der Nase herumführen.

Merkels Barmherzigkeit ist längst wieder in ihre ordinäre Unbarmherzigkeit umgeschlagen. Nun wissen wir, was die Parole: wir schaffen das, zu bedeuten hat. Wir schaffen das, auch wenn wir es nicht schaffen. Denn dann schaffen wir es, das unlösbare Problem jenen aufzuhalsen, die wir bislang aus der EU fernhalten wollten wie die Türkei oder – wie im Falle Griechenland – wirtschaftlich so gedemütigt haben, dass sie auf dem letzten Loch pfeifen. Ganz nach dem Beamtenspruch: Unmögliches erledigen wir sofort, Wunder dauern etwas länger, auch wenn es auf Kosten anderer geht. Das nennt man europäische Solidarität.

Einen bemerkenswerten Kommentar hat Oliver Trenkamp im SPIEGEL geschrieben:

„Die Verrohung der öffentlichen Debatte hat zum Glück weite Teile der Gesellschaft noch nicht infiziert. Ärzte und Pfleger arbeiten nach wie vor ehrenamtlich in den Auffanglagern; Lehrer, Erzieher, Schüler sammeln Spenden; Anwälte helfen bei Asylanträgen; Kirchengemeinden, WGs, Familien nehmen Syrer auf; Studenten holen Flüchtlinge im Kofferraum ins Land; Aktivisten heiraten Fremde, um ihnen einen dauerhaften Aufenthalt zu ermöglichen. Viele Deutsche sind im Kopf und im Herzen weiter als ihre gewählten Vertreter und die Befüller der Kommentarspalten. Lasst uns von ihnen Empathie lernen, lasst uns die Bilder von Idomeni, die Toten in der Ägäis nicht hinnehmen. Wir müssen, wir dürfen diese Bilder nicht aushalten. Wir sollten die Flüchtlinge von Idomeni in Deutschland aufnehmen.“ (SPIEGEL.de)

Mathias Döpfner hat sich mit Böhmermann solidarisiert. Das ist notwendig, unabhängig von der vermuteten subjektiven Motivation des TV-Satirikers. Dennoch ist es ein hinterlistiges Manöver, von der unwürdigen Kumpanei des SPRINGER-Verlags mit Merkel und Netanjahu abzulenken. Joachim Sauer, Merkels Gatte, wurde von Friede Springer unter dem Vorwand wissenschaftlicher Objektivität in den Beirat einer Springer-Stiftung gelockt. Für 10 000 Euro jährlich. Früher hieß es in solchen Fällen: man müsse auch den bösen Schein vermeiden. Heute ist jede Interessenverflechtung legitim, wenn sie nicht offiziell kriminell ist.

Viel schlimmer aber ist die verheerende Kumpanei Döpfners mit Netanjahu, die alle Menschenrechtsverletzungen des Regimes deckt und alle humanen Lehren aus dem Holocaust ins blanke Gegenteil verkehrt. Der neue Antisemitismus kommt daher im betrügerischen Gewande des Philosemitismus. Der israelische Staat ist zerrüttet und bräuchte öffentliche Kritik und fürsorglichen Zuspruch, sich aus den Fängen jener Frommen zu befreien, für die Palästinenser keine Menschen mehr sind, sondern Tiere, die man nach Belieben abknallen dürfe. Uri Avnery:

„Seit 1967 steht Israel einer einfachen aber schicksalshaften Wahl gegenüber: Gib die besetzten palästinensischen Gebiete zurück und mach Frieden mit Palästina und der ganzen arabischen und muslimischen Welt – oder behalte die Gebiete, baue Siedlungen und führe einen endlosen Krieg.

Dies ist keine politische Meinung. Es ist eine historische Tatsache.

Jeder wahre Freund Israels wird alles Mögliche tun, um Israel in die erste Richtung zu drängen. Jeder Dollar, jede Unce politischen Einflusses sollte für diesen Zweck benützt werden. Am Ende werden die beiden Staaten – Israel und Palästina – Seite an Seite vielleicht in einer Art Konföderation leben.

Ein Antisemit stößt Israel in die andere Richtung. Innerhalb der nächsten Hundert Jahre wird sich Israel in einen fanatischen, nationalistischen, ja faschistischen, isolierten Apartheid-Staat mit einer wachsenden arabischen Mehrheit verwandeln, und das ganze Land würde schließlich ein arabischer Staat werden mit einer abnehmenden jüdischen Minderheit.“

Der SPRINGER-Verlag ist ein falscher Freund Israels, der nichts unternimmt, um das gespaltene Land zu ermahnen, auf den Weg der Menschenrechte zurückzukehren.

Und Merkel kuscht mit. Sie kuscht vor allen mächtigen Männern, von denen sie sich abhängig fühlt. Vor Obama, Erdogan, den Saudis und Netanjahu.

SPRINGERs BILD wird zur Ekelpostille der Nation. Obgleich die Griechen unter den wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen Merkels immer mehr zu leiden haben, sollen sie noch klaglos jene Flüchtlingsströme aufnehmen, die Merkel ihnen unterjubelt. Was schreibt BILD? „Sie griechen es einfach nicht hin.“ Das ist schändlich.

Mathias Döpfners großmäulige Solidarisierung mit Böhmermann ist der letzte Befreiungsversuch, die Misere seiner schäbigen BILD-Gazette vergessen zu machen. Obgleich er die Schmähkritik verteidigt, bittet er Böhmermann um Verständnis für den Kotau der Kanzlerin – deren Name nicht mal fällt.

„Da müssen Sie verstehen, Herr Böhmermann, dass die deutsche Bundesregierung sich bei der türkischen Regierung für Ihre unsensiblen Bemerkungen entschuldigt. Diese sind – Kunstfreiheit hin oder her – in der gegenwärtigen Lage schlicht „nicht hilfreich“. (WELT.de)

Was ist das? Bodenlose Bigotterie, die sich nicht scheut, die Öffentlichkeit zu brüskieren und zu schmähen.

Merkels Zeit ist abgelaufen. Angela, sei charmant – und geh. It‘s time to say good bye.

 

Fortsetzung folgt.