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Europäische Idee XL

Hello, Freunde der europäischen Idee XL,

wenn jetzt Krieg ausbräche, der ganz Europa verwüstete und wir, mit Mühe dem Tode entronnen, hielten Rückschau und dächten nach über die Gründe des Dritten Weltkrieges: zu welchem Ergebnis kämen wir?

Wollten wir das finale Massaker? Schlidderten wir erneut somnambul in die Katastrophe? Waren wir erleichtert über das reinigende Gemetzel, das die übergroße Menschenmasse gesund schrumpfte und dem demokratischen Getue das überfällige Ende bereitete?

Längst ist der Krieg ausgebrochen: zwischen denen, die haben und denen, die nichts mehr haben. Ihnen soll noch genommen werden, was sie haben.

Die Weltgeschichte, der Konkurrenzlauf der Völker zu nationalem Glück und individueller Seligkeit, nähert sich dem brandgefährlichen Entscheidungskampf. Einst hatte man den Himmel erfunden, um den Drangsalen der Welt zu entkommen. Als man glaubte, das Reich Gottes im Innern des Menschen gefunden zu haben, war es in verblüffender Weise geeignet, das verhasste Reich der Welt zu unterwerfen und die Erde an die Kette zu legen. Die Erfindung des Jenseits war die wirksamste Methode, um das Diesseits zu überwältigen und die Erde zum Schemel des Himmels zu erniedrigen.

Während die Weltweisen den Menschen erklärten, Glück und Frieden auf Erden könnten sie aus eigener Kraft und in selbstbestimmter Leistung realisieren, verkündete die Religion Wohlgefallen allen Menschen durch die Versprechungen überirdischer Heilande: Menschen, alles geben wir euch, was ihr je erfleht und

erhofft habt – wenn ihr niederkniet und uns anbetet.

Der Kampf um Sein oder Nichtsein der beiden unvereinbaren Weltgestaltungen ist der Kern der europäischen Geschichte. Gewinnt das Erlösungsmodell, wird die Menschheit untergehen. Denn die männlichen Erlöser hassen die weibliche Natur und ihre selbstbewussten Kinder und haben der irdischen Brut den Untergang angekündet. Nur eine winzige Minderheit der Erwählten wird überleben. Die Majorität der Menschen wird unter ewigen Schmerzen gefoltert und bestraft werden. Nein, auch die winzige Minderheit wird keine himmlischen Belohnungen erleben. Denn die Verheißungen der Erlöser sind nichts als imaginäre Blendwerke und illusionäre Versprechungen.

Zwischen der Verlässlichkeit und Solidität der Natur – und den absurden Versprechungen männlicher Heilsbringer, die die Natur übertrumpfen und ausradieren wollen, muss der Mensch sich entscheiden. Hier gibt es keine Grautöne, kein kräftiges Sowohl-Als-auch. Wird sich aber die menschliche Lebensfähigkeit durchsetzen, haben auch die Verblendeten eine Chance, zur Vernunft der Mütter zurückzukehren. Das drängende Entweder-Oder erzeugt in zunehmendem Maße Nervosität, Unruhe, Gereiztheit und blinde Wut.

Die Nationen rüsten auf mit furchterregenden Waffensystemen. Überall zündelt es, uralte nachbarliche Konflikte brechen wieder auf. Atomwaffen werden modernisiert, mit denen die Erde mehrfach vernichtet werden kann. Die Völker, eben noch ein offenes, globales Dorf, igeln sich ein, errichten Mauern, Zäune und unüberwindbare Gräben.

Die Opfer der Konflikte, die Schwächsten der Schwachen, sollen zugrunde gehen. Die Bevorzugten des Himmels, reich und übersättigt, wollen unter sich bleiben. Ihr Besitz ist für sie ein unantastbares Heiligtum, kein zufälliges, mit Macht und List erbeutetes Privileg, das sie mit der ganzen Menschheit teilen müssten, wenn sie an die Gleichheit und Geschwisterlichkeit der Menschen glauben würden. Ihr Glaube steht nur auf dem Papier, nicht mal mehr dort. Sie wollen keine Gleichheit, sie wollen schreiende Unterschiede.

Der biologische Rassismus, Erbe der religiösen Auserwählung, hat sich zum Rassismus des Geldes und der technischen Erfindungskraft fortentwickelt. Die Unterschiede der Menschen werden ins Metaphysische aufgebauscht, um die Unterschiede der Macht zu rechtfertigen. Seit Erfindung der männlichen Hochkultur wollen die Starken sich nicht der Macht der vereinigten Schwachen unterwerfen. Demokratie, die Macht der vereinigten Schwachen, soll zugrunde gehen.

Doch die Starken trauen sich nicht, die Herrschaft der Völker direkt anzugreifen. Sie attackieren den „Staat“, der angeblich nichts anderes will, als die wirtschaftliche Freiheit und Überlegenheit der Tüchtigen einzuschränken. Dass ein demokratischer Staat den Willen des Volkes verkörpert, wird unter den Teppich gekehrt.

Angriffe gegen den Staat sind in Wirklichkeit heimtückische Angriffe gegen das Volk, den demokratischen Souverän. Man redet von Wirtschaft, meint aber die Aushöhlung des Staates, die Entmachtung der Überflüssigen. Es gibt zu viele Lebensuntüchtige auf der Welt, die der Erde die letzten Haare vom Kopf fressen. Die Starken, auf ihren glücklichen Inseln und in ihren ummauerten Revieren, fühlen sich nicht wohl, wenn die Massen sie mit Neid und Missgunst umzingeln. Sie fürchten, jeden Augenblick könnten die Ohnmächtigen sich empören und sie in die Luft sprengen. Ohnehin wundern sie sich, dass die Pöbelhorden es noch nicht geschafft haben, sie an den Pranger zu stellen, um von ihnen Rechenschaft zu fordern.

Die Apathie der Völker bestätigt die Meinung der Reichen, dass jene selbst zur Empörung unfähig sind. Wenn einer der reichsten Männer der Welt den Völkern den Fehdehandschuh hinwirft und diese reagieren nicht – bedeutet das nicht, dass die Massen ausgebrannt und nicht mehr widerstandsfähig sind?

„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“. (Warren Buffett)

So weit haben wir es gebracht, dass Superreiche die ungeschminkte Wahrheit aussprechen – und nichts geschieht. Führer der Proleten hingegen leugnen Klassengesellschaft und Klassenkampf. Die Welt steht auf dem Kopf.

Parteien der Schwachen sind zu Unterstützern der Starken geworden. Niemanden hassen die „Arbeiterführer“ mehr als ihre eigenen Anhänger, die den Aufstieg nach oben nicht schaffen. Nach oben, wohin sie selbst, dank der Ergebenheit ihrer Wähler, hinaufgekrochen sind. Die Proletenführer schämen sich ihrer Herkunft. Sie schämen sich der vielen Versager ihrer Herkunftsklasse. Ihre Scham ist zum Hass geworden, der die Schwachen zu Versagern stempelt, um sie mit allen Mitteln eines missgünstigen Sozialstaates zu diskriminieren. Selbst schuld, wer benachteiligt ist. Hätte er sich doch aus der Benachteiligung befreit!

In Deutschland vom Staat unterstützt werden, kann gefühlsmäßig schlimmer sein als in den USA auf sich gestellt zu sein. Nichts Schlimmeres als sein Leben nicht durch eigener Hände Arbeit zu fristen. Dass der Großteil der Arbeit pure Abhängigkeit von Arbeit-Gebern bedeutet, wird von den Abhängigen nicht zur Kenntnis genommen. Von Reichen und Mächtigen abhängig zu sein, ist nicht unwürdig – doch abhängig zu sein von der Solidarität des Volkes soll ein unauslöschlicher Makel sein.

Was muss das für eine Solidarität sein, die all jene erniedrigt, die sie in Anspruch nehmen müssen? Wer die Hilfe anderer benötigt, ist verachtenswert. Selbst ist der Mann. Auch wenn es keinen einzigen unabhängigen Mann in einer Gesellschaft geben kann, in der alle von allen abhängig sind.

Die Reichen kassieren den Profit der Arbeit der Massen mit legalen Gesetzen, denen man das räuberische Unrecht von weitem ansieht – wenn man es sehen wollte. Gesetze werden von den Reichen gemacht, damit ihre Raubgier als Recht erscheine. Oder von politischen und klerikalen Unterstützern der Reichen, die gern am Tische der Reichen Platz nehmen, um ihre Wichtigkeit für die Gesellschaft anerkannt zu sehen.

Die Ergebnisse des Panama-Skandals wären vor kurzem noch als Verschwörungstheorien verurteilt worden. Inzwischen sind fast alle Verschwörungstheorien zu unleugbaren Tatsachen geworden. Der Sinn der Verschwörungstheorien ist somit klar geworden: Tatsachen, die die Mächtigen belasten, sollen als Erfindungen der Benachteiligten geächtet werden, damit die soziale Ruhe der Gesellschaft nicht gefährdet wird.

In den Anfängen des Kapitalismus waren die Interessen der Starken nicht durchweg im Gegensatz zu den Interessen der Armen. Abgesehen von den Kleinigkeiten, dass die Allmende der Dörfer von den Reichen geraubt und selbständige Bauern brotlos gemacht wurden, auf dass die ersten Fabriken ihre Malocher bekämen. Wer nichts mehr zu essen hat, geht lieber in eine schreckliche Fabrik, als die Seinen hungern zu sehen.

Die Interessen der Fabrikbesitzer überlappten sich mit den Interessen der Malocher – sofern die eigene Nation im Wettbewerb mit anderen die Nase vorne hatte. Wer seine eigenen Interessen bediente, konnte stolz darauf verweisen, dass ein wohlverstandener Egoismus – nicht ohne Unterstützung einer himmlischen Hand – dem Egoismus aller Abhängigen diente. Heute sind sie allergisch gegen jede Intervention Gottes und des Staates – wenn diese den Armen zugutekommt. Wenn aber beide Interventionen dem „Fortschritt“ und der „Schaffung von Arbeitsplätzen“ dienen, ertönt kein Wehegeschrei aus den Vorstandsetagen.

Nicht alle Reichen betrügen den Staat. Aber wie viele Reiche gehen auf die Straße, um ihre reichen Geschäftspartner des Betrugs anzuklagen? Ihr gesellschaftliches Wohlwollen bekunden sie vor allem durch Stiftungen und Almosengeben. Solch eitlen Werke entsprechen dem katholischen Ablasshandel: wenn das Almosen im Kasten klingt, die Seele der Edlen in den Himmel springt.

Den Reichen aber steht es nicht zu, ihre Gnadengaben als demokratische Mittel auszugeben – und damit zu verfälschen. Die soziale Struktur einer Gesellschaft ist vom Volk zu bestimmen – und nicht von denen, die ihre egoistische Mildtätigkeit zur Rechtfertigung ihrer legalen Raubzüge nutzen. Milde Gaben sind Gnadengaben der Reichen. Ändern sich ihre Launen, ist es vorbei mit der Gabenspenderei. Ein Philosoph wollte seine Steuern als persönliche Liebesgabe definieren. Was, wenn morgen seine Liebe zum Volke erlöschte?

Eine intakte Gesellschaft lebt von generellen Strukturen und allgemeinen Gesetzen, die für alle gleich sind und gleichen Kriterien entsprechen. Dennoch sind Gesetze nur für diejenigen abstrakt und unpersönlich, die den Zusammenhalt der Gesellschaft durch allgemeine Vernunft als minderwertig betrachten. Vernunft denkt an alle.

Alle – das ist nicht das Gegenteil des Persönlichen, sondern die Summe alles Persönlichen. Eine Gesellschaft besteht nur aus Einzelnen und Gleichen. Der Erlösergott aber siehet den Einzelnen an, um ihn als Ungleichen zu behandeln. Die einen gelten als Unkraut, die anderen als Weizen. Erlöser spalten die Gesellschaft. Eine intakte Gesellschaft der Sünder ist ihnen ein Gräuel. Alles, was intakt ist auf Erden, gehört zu den Gesunden, die eines Heilands nicht bedürfen. Die Gesellschaft muss gekränkt werden, damit viele Kranke des Wunders bedürfen. Gott wählt aus, wen er auswählt. Auf die Würdigkeit und Fähigkeit des Erwählten kommt es nicht an.

Das Persönliche der gnadenhaften Barmherzigkeit ist purer Schein. Es ist ein Machtakt, die Einen gegen die Andern auszuspielen. Wer die Gnadengabe von Oben begehrt, hat zu kuschen, um ihrer würdig zu werden.

Seit der Aufklärung hassten die Deutschen die abstrakten kalten Gesetze der Vernunft ihrer westlichen Nachbarn. Und flüchteten in die trügerische Wärme eines persönlichen Gottes, der jeden Einzelnen bei Namen ruft. Das Individuelle wurde zum Willkürlichen und Nationalen. Der Mensch galt nicht, weil er ein Mensch, sondern weil er ein Deutscher war.

Nur das Allgemeine aber ist das Medium des Kosmopolitischen. Das ist der Sinn der Gleichwertigkeit. Man muss nicht dieselben Charaktereigenschaften und Begabungen besitzen, um dem anderen ebenbürtig zu sein. Das Gesetz der Vernunft ist keine Willkürgnade launenhafter Autoritäten, die die Nase des Einen bevorzugen und die des Anderen verabscheuen.

Das Allgemeine ist das Persönlichste, das die Menschheit bisher erfand. Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Gleichheit ist die Wärme der Verbundenheit aller Verschiedenen, die im Nächsten wie im Fernsten sich selbst erkennen.

Warum haben viele Deutsche Probleme mit Fremden? Weil sie Probleme mit den Eigenen haben. Wer in allen Dingen ungleich sein will, kann in Fremden nicht dieselbe Würde des Mitmenschen anerkennen. Die Defizite der internen Gesellschaft schlagen sich in außenpolitischer Ignoranz und Ablehnungsgefühlen nieder. Dringt die Außenwelt in die Innenwelt, führen externe Hassgefühle zu internen Brandanschlägen und Gewalttaten.

Die Welt darf nicht zur Ruhe kommen. Der Geist des ruhelosen Wandels weht, wo er will. In der Moderne will er überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es klingt wie ein staatlich verordneter Rausch: wir leben in Zeiten außerordentlicher Veränderung. Die Veränderung gilt als Gesetz der Zeiten. Doch es gibt keine gesetzmäßigen Pflichten zur hektischen Ruhelosigkeit.

Wer will ständige Veränderungen? Nur diejenigen, die davon profitieren, um die Macht über die Menschheit zu erringen. Geht es um menschenfreundliche Veränderungen? Das wäre ja was. Über Veränderungen müssten die Menschen debattieren. Doch sie werden nicht mal gefragt.

Propheten bestimmen den Lauf der Geschichte, die eine Heilsgeschichte sein muss. Im Jahre 2030 werden alle Jobs der Gegenwart von Robotern übernommen. Was machen diejenigen, denen man den Arbeitsplatz weg-irrationalisiert hat? Sie haben neue zu erfinden. Schließlich ist der dumme Mensch, der durch eine intelligente Maschine zu ersetzen ist, so grenzenlos klug und kreativ, dass er grenzenlos neue Tätigkeiten erfinden kann, um die Roboter für wenige Jahre auf Abstand zu halten. Dann haben sie ihn wieder eingeholt. Erbarmungslos. Und fort geht die Hatz ins Grenzenlose. Und wenn sie nicht gestorben sind, kreieren sie noch immer Idiotenjobs, bis die Natur ihnen das Handwerk legen wird.

Während den Frauen eingebläut wird, dass Kinderkriegen eine minderwertige Angelegenheit sei, jubeln die Männer ob der Geburt ihrer technischen Superbabys im höheren Chor. Nein, sie verstehen nicht die Überlegenheit ihrer Intelligenzbestien. Doch muss man alles verstehen – wenn es nur Erfolg, Ruhm und Ehre einbringt?

Fortschritt ist das Revier des modernen Totalitarismus. Niemand wird gefragt, niemand kann über Veränderungen abstimmen. Niemand darf sich fragen: wozu Veränderungen, wenn das Gewohnte mir lieb und teuer geworden ist?

Das Dogma des Risikos ist der Rammbock der furchtbaren Zerstörung, die alles niedermäht, was sich bei den Menschen beliebt gemacht hat. Löse dich – von deiner Familie, deinen Freunden und deinen Gewohnheiten, an denen dein fortschrittsfeindliches Herz hängt.

Was ist die Erbsünde der Gegenwart? Sein Leben lieb gewonnen zu haben – ohne Genehmigung von Silicon Valley. Worüber klagt der reiche Westen am meisten? Dass seine Wirtschaft nicht ins Unbegrenzte wächst. Er klagt nicht über Ungerechtigkeiten, denkt nicht nach über gerechte Verteilungsmodelle. Er beklagt das geringe Wachstum, auch wenn die Natur durch Exzesse des Menschen bereits würgt und röchelt. Natur und Mensch sind Petitessen, die überwunden werden müssen. Das Ende der Menschheit naht. Unzählige Horden intelligenter Golems werden ins Weltall schwärmen, um brachliegende Sonnenenergie zu nutzen. Heißt es nicht: machet euch das Universum untertan – und nicht nur die mickrige Erde, die man dem interstellaren Schrott übergeben sollte?

Oettinger legt keinen Wert auf demokratie-theoretische Richtigkeit beim Abwickeln der Flüchtlingsfrage. Das hätten Putin und Erdogan auch nicht besser formuliert. Postdemokratische Verhältnisse sind faschistische Verhältnisse. Wie viele Aufschreie hätte es schon geben müssen, die es nie gegeben hat?

Realpolitik ist gefragt, wenn das Zeitfenster der Barmherzigkeit geschlossen ist und Idomeni in Brutalitäten erstickt. Schon stecken die Deutschen in ihrer alten Falle zwischen „edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ und ihrem Abscheu gegen das Gute, mit dem man keine Macht bilden kann.

Moral – oder Staatsraison? Moral ist gut für Kammerdiener und Spießer. Doch im Gerangel konkurrierender Staaten muss Machiavelli gelten. Für Deutsche kein Problem. Gestern die Willkommenskultur, heute kein Mucks gegen ihre alternativlose Kanzlerin, die von Caritas überfloss und heute lutherische Härte wider die Rotten der Bauern zeigt. Nicht allen könne geholfen werden. Merkel hat ihre Liebesobjekte beim nächsten Wirt abgeliefert und einen Obolus hinterlegt. Was Wirt Erdogan mit den Hilflosen anstellt, interessiert die fromme Magd nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn. Heute Nächstenliebe, morgen die Knute. Der Gott Merkels schafft das Gute und schafft das Böse, der Name des Herrn sei gepriesen.

Merkel, politische Gotteswurschtlerin, ist ein Verhängnis für Deutschland. Doch solange sie alternativlos bleibt für das wunde Innenleben ihrer verlorenen Söhne und Töchter, werden die Deutschen an ihr festhalten. Mehr als die Hälfte der Deutschen lehnen ihren Türkeideal ab, doch ihre persönlichen Werte steigen und steigen. Es ist wie bei VW. Die Retter des Konzerns versagen, doch ihre Boni müssen erhöht werden.

Gesine Schwan war die Einzige, die es gestern im ZDF formulierte: es geht um Klarheit und Lauterkeit der Rede, um den öffentlich zugegebenen Widerspruch zwischen grenzenloser Barmherzigkeit – und gnadenloser Abschiebepolitik. Merkel kann heute Hü und morgen Hott rufen: es ist alles einerlei. Hauptsache, sie sagt es so, dass die Gemüter besänftigt werden. Merkel ist an allem schuld. Doch noch schuldiger ist das Volk, das sich diese Kanzlerin leistet. Es wird Zeit für Brecht: löst das deutsche Volk auf und wählt ein anderes. Wie wär‘s mit den zauberhaften Mongolen, wo selbst Kamele über das Elend der Welt heulen?

Merkel kann nicht heulen. Ihre Politik ist Reich-Gottes-Politik. Die Deutschen wollen von ihr mit christlichem Eiapopeia getröstet werden. Von christlichen Dogmen und biblischer Lektüre wollen sie nichts wissen. Deutschland, das Land des fides implicita, des blinden Glaubens an den Glauben. Mutter wurschtelt voraus, ihre Kinder wurschteln hinterher. Ist das nicht allerliebst: ein Volk des heiligen Kuddelmuddels?

Den Gegensatz zwischen privater Agape und erbarmungsloser Gewaltpolitik hielten die Deutschen nur 100 Jahre aus. Dann war die Zeit fällig für eine Brachialsynthese aus barmherzigem Samariter und Mephisto: die NS-Schergen begannen ihr blutiges Handwerk. Das Böse verkauften sie als Gutes und säuberten die Welt von den Bösen. Noch heute empfinden sie die Undankbarkeit der Welt, die sie glaubten, unter Einsatz ihrer teuflisch-göttlichen Synthese, gerettet zu haben. Felix culpa, heilige Schuld.

Auch Merkel lädt kaltherzig Schuld auf sich, um ihre überforderten Kinder mit beflecktem Mitleid zu entlasten. So gut, wie sie anfänglich waren, können die Deutschen nicht mehr sein. Doch zugeben, dass sie überfordert sind – „regretting motherhood“, ihr Helfen bedauernd – das können sie erst recht nicht. Mutter exekutiert schweigend die heilige Schuld. Das Vakuum zwischen Nächstenliebe und Erfordernissen eines nationalistischen Machiavellismus füllten die Deutschen mit einer der grausamsten Vernichtungspolitik der Menschheitsgeschichte. So weit sind wir noch nicht. Das Vakuum aber zeigt sich.

Will man wissen, welche „Politik“ die Kanzlerin betreibt, muss man bei Adolf von Harnack nachlesen, wie er in seinen berühmten Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums“ die Botschaft Jesu seinen wilhelminischen Studenten erklärte:

„Ein soziales Programm in Bezug auf Überwindung und Beseitigung von Armut und Not – wenn man darunter bestimmte Anordnungen und Gesetze versteht – hat Jesus nicht aufgestellt. Er hat sich nicht in wirtschaftliche und zeitgeschichtliche Verhältnisse verstrickt. Hätte er es getan, hätte er Gesetze gegeben, die für Palästina noch so heilsam gewesen wären – was wäre damit erreicht worden? Sie wären heute nützlich gewesen und morgen veraltet, sie hätten das Evangelium belastet und verwirrt. Man muss sich hüten, solchen Anweisungen, wie die: „Gib jedem, der dich bittet“ und ähnlichen ihr historisch-relatives Maß zu nehmen. Sie wollen aus der Zeit und der Situation verstanden sein. Sie beziehen sich auf die augenblickliche Not des Bittenden, die mit einem Stück Brot, einem Trunk Wasser, einem Kleidungsstück gestillt wird. Jesus ist kein sozialer Reformer gewesen. Er konnte den Satz aussprechen: „Arme habt ihr allezeit bei euch“, und damit, wie es scheint andeuten, dass sich die Verhältnisse nicht wesentlich ändern würden. Und doch hat man je und je gewagt, aus dem Evangelium ein konkretes soziales Programm abzuleiten. Auch evangelische Theologen haben es versucht und versuchen es noch. Ein Unternehmen, an sich hoffnungslos und gefährlich, aber vollends verwirrend und unerträglich, wenn man die zahlreichen „Lücken“, die man im Evangelium findet, durch alttestamentliche Gesetze und Programme „ergänzt“. Das Reich Gottes kommt, indem es zu den Einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält. Das Reich ist Gottesherrschaft, gewiss. Aber alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung.“

Merkel betreibt eine fromme Beschäftigungstherapie. Sie tut, als sei sie eine weltliche Politikerin. Doch von irdisch-rationaler Politik hält sie nichts. Den Versuch des sündigen Menschen, eine humane Welt zu bauen, betrachtet sie als satanische Überheblichkeit. Den Deutschen, sofern sie noch Wert legen auf ein bisschen Vernunft, gaukelt sie rationale Politik vor. Den meisten aber gibt sie madonnenhaften Trost und Zuversicht beim düsteren Ritt über den Bodensee.

Als Harnack seine Vorlesungen hielt, dauerte es noch 14 Jahre – bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

 

Fortsetzung folgt.