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Europäische Idee XXXIX

Hello, Freunde der europäischen Idee XXXIX,

aus Widersprüchlichem folgt Beliebiges. Also kann christliche Lehre keine Moral sein. Moral verlangt Eindeutigkeit. Weshalb sie von Deutschen gehasst wird. Wenn Deutsche moralische Probleme debattieren, stürzen sie sich auf Grenzfälle und Ausnahmen. Die gibt es. Doch sie müssen im Licht der Eindeutigkeit gesehen werden. Ausnahmen bestimmen nicht die Regeln.

Die Einheimischen lieben das Graue und hassen das Entweder-Oder, welches sie verwechseln mit religiösem Dualismus, dem unüberbrückbaren Hass zwischen Licht und Finsternis, Gott und Teufel. Hier rächt sich der deutsche Einheitsbrei aus Irdischem und Überirdischem, heidnischem Vernunft-Denken und exklusivem Erlöserglauben.

Das logische Entweder-Oder hat mit religiöser Seins-Spaltung nichts zu tun. In ihr hasst ein omnipotenter Männergott die weibliche Natur, die er geschaffen haben will, um sie zu vernichten.

Logik ist Folgerichtigkeit der Natur. Ein über- und widernatürliches Credo ist für sie ein Vernichtungsangriff gegen die vertraute Welt.

Deutsche glauben an die Dialektik, weshalb sie Logik hassen. Logische Widersprüche sind nicht identisch mit realen Widersprüchen – wie Hegel und Marx behaupten. Reale Widersprüche beruhen auf menschlichen Konflikten, die unter utopischen Voraussetzungen lösbar wären. Logische Widersprüche hingegen bleiben in der besten Utopie unvereinbar.

Wenn Dialektik an die finale Lösung realer Probleme und Widersprüche glaubt, glaubt sie an die utopische Kraft der Menschen – sofern sie autonom bleiben will.

Hegel brachte das Wunder zustande, menschliche Autonomie und göttliche Heteronomie am Ende aller Dinge in Einklang zu bringen. Er glaubte an die utopische Kraft eines jenseitigen Gottes, der mit der diesseitigen Natur

verschmilzt. Marx glaubte an die utopische Kraft der materiellen Heilsgeschichte – die nichtidentisch ist mit der „rohen, bedrohlichen, naturwüchsigen“ Natur, sondern mit einer gebändigten, für die Bedürfnisse des Menschen zugeschnittenen, durch Arbeit und Technik angepassten, „veredelten“ Natur. Natur war das wilde Weib, welches vom Mann auf seine sittliche Höhe gezogen, Pardon erzogen, werden musste.

Auch in der griechischen Philosophie gab es Bestrebungen, den Menschen in den Mittelpunkt des Universums zu stellen. Doch der Protest folgte auf dem Fuß: der Mensch ist ein Teil des Kosmos, nicht Krone der „Schöpfung“, die es ohnehin nicht geben kann. Natur ist von Ewigkeit zu Ewigkeit.

In der Männerreligion wurden alle herausragenden Attribute der weiblichen Natur auf den Männergott übertragen, der vor lauter Kraft nicht mehr laufen konnte und seine Geschöpfe für seinen eigenen Unfug verantwortlich machte.

Wenn Dialektik die Kraft des Menschen ist, politische Konflikte zu durchschauen und zu lösen, gehört sie zum Repertoire des mündigen Menschen. Sofern sie sich anheischig macht, zeitlose Gesetze der Logik außer Kraft zu setzen, ist sie eine Rattenfängerin.

Logik ist ein Lerninstrument, eine Methode, sich der Wahrheit zu nähern. Was Wahrheit ist, kann sie nicht sagen. Sie weiß nur, was nicht wahr sein kann: was sich selbst widerspricht. Was ein Widerspruch ist, muss zuvor geklärt werden. Nicht alles, was widersprüchlich klingt, ist bereits ein Widerspruch.

„Der Mensch ist ein Gott, sobald er Mensch ist.“ Der Satz des wunderbaren Hölderlin ist für Christen eine antagonistische Blasphemie. Mit einer Ausnahme: der Gläubige ist gottähnlich geworden. Gott und Mensch, Gott und Natur sind für sie im Grunde unvereinbar. Ist Gott aber – wie bei Hölderlin oder den griechischen Kosmosverehrern – der Inbegriff der Natur und der Mensch ein Teil derselben, können Mensch und Gott verschmelzen. Der göttliche Mensch ist identisch mit einem humanen Gott.

Mit Hilfe der Logik kann ich beim Suchen der Wahrheit unwahre Sätze ausschalten. Ich lerne. Und debattiere mit anderen Lernenden über verschiedene Perspektiven der Wahrheit. Kann ich mit Hilfe der Logik meinen Mitdebattanten eines Widerspruchs überführen, habe ich ihn – vorläufig – widerlegt. Vorläufig deshalb, weil beim weiteren Nachdenken neue Argumente auftauchen könnten, die eine neue Debatte erforderlich machen. Das gleiche gilt für mich, wenn mein Mitstreiter mir nachweisen könnte, dass ich Stuss rede.

Streiten um Wahrheit ist ein Wettbewerb. Ein Agon. Es ist der einzige Wettbewerb, der keine Verlierer kennt. Denn auch der „Verlierer“ gewinnt, wenn er seinen Irrtum eingesehen hat.

Die Moderne basiert auf dem Wettbewerb aller gegen alle – aber nicht in Fragen der Wahrheitsfindung, sondern eines brutalisierten Existenzkampfes, der allesgewinnende Sieger und allesverlierende Loser kennt. (The winner takes it all, der Gewinner kassiert alles, der Verlierer guckt in die Röhre.)

Der wirtschaftliche und gewalttätige Wettbewerb ist ein Dogma der Moderne. Den geistigen Agon hasst die Moderne wie die Pest. Nichts schlimmer, als in einem Disput „das Gesicht zu verlieren“. Für Roland Barthes, einen der Heiligen der Postmoderne, gibt es nichts Schlimmeres als widerlegt zu werden durch Aufweisen von Widersprüchen:

„Roland Barthes wendet sich gegen die sokratische Mäeutik; er sieht in der Vorgehensweise des Sokrates das Bestreben, „den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen.“

Dieser Satz Roland Barthes verrät das ganze Elend der Moderne, die auf den erkenntnistheoretischen Hund gekommen ist. Der Unwahrheit überführt werden, ist für sie kein Gewinn, sondern eine Schande. Barthes formuliert den christlichen Hass gegen die Überlegenheit des griechischen Denkens. Dieser Schande können die Frommen nur entgehen, wenn sie ihren Gott zum Rächer ihrer Unfähigkeit machen:

„Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“

2000 Jahre nach der Geburt eines angeblichen Erlösers ist es christlichen Dogmen gelungen, sich als philosophische Sentenzen zu verkleiden und zu präsentieren. Mehr als 100% der modernen Philosophie ist nichts anderes als maskiertes, mit griechischen Sätzen aufpoliertes Christentum. Das wäre belanglos, wenn es nur um die Misere einer bankrottierenden Fakultät ginge. Doch es geht um demokratische Politik. Ja, es geht um das Überleben der Gattung unter demokratischen Bedingungen.

Wie es lebensgefährlich ist, rechts zu blinken und links abzubiegen, ist es lebensgefährlich, der Menschheit eine Zukunft zu verheißen – indem man die Gattung abschaffen will. Oder ihr ein glückliches Leben zu versprechen, indem man Glück und Zufriedenheit als langweilige und bornierte Selbstzufriedenheit mit allen Mitteln eines trügerischen Fortschritts untergräbt.

Auch der demokratische Streit ist ein Agon, bei dem die Gesetze der Logik uneingeschränkt zu gelten haben. Stattdessen gelten heute Verschleierungs- und Verschwiemelungsgesetze der Dialektik, nach denen jeder alles sagen kann – und das genaue Gegenteil.

In seinem Aufsatz „Was ist Dialektik?“ – der vom dialektischen Rausch der Frankfurter-Schule-Jünger nie zur Kenntnis genommen wurde – schrieb Popper, Gegner Adornos im sogenannten Positivismusstreit (der selbst kein Ruhmesblatt für agonale Streitkunst war):

„Wenn wir bereit wären, Widersprüche zu dulden, könnte ihre Offenlegung in unseren Theorien uns nicht mehr veranlassen, diese zu ändern. Mit anderen Worten: Alle Kritik (die in der Herausstellung von Widersprüchen besteht) würde ihre Kraft verlieren. Dies würde bedeuten, dass Kritik und jeder Fortschritt des Denkens zum Stillstand kommen müsste, falls wir bereit wären, Widersprüche zu dulden. Es lässt sich leicht zeigen, dass man jedwede Art wissenschaftlicher Tätigkeit aufgeben müsste, wenn man bereit wäre, Widersprüche zu akzeptieren: es würde den völligen Zusammenbruch der Wissenschaft bedeuten. Dies lässt sich durch den Beweis erhärten, dass, falls zwei kontradiktorische Aussagen zugelassen werden, jede beliebige Aussage zugelassen werden muss – denn aus einem Paar kontradiktorischer Aussagen kann jede beliebige Aussage logisch gültig abgeleitet werden.“

Die marxistische Linke ist tot, doch ihre magische Dialektik hat den Zeitgeist „vollinhaltlich“ infiltriert. Das ist der Zustand der gegenwärtigen Politik. Da der Tod der Logik auch alle kritischen Fähigkeiten mit ins Grab genommen hat, sollte man sich nicht wundern, dass Kritik heute keinen Klang mehr besitzt. Besondern bei jenen Edelschreibern, die gegen alles wüten, was „Recht haben will“. Damit wollen sie selbst Recht behalten, indem sie ihre Unwiderlegbarkeit als Liberalität und Offenheit propagieren. Verblendeter kann der Wahn der Gegenwart nicht sein. Es soll gar dialektische Amokläufer geben, die logische Folgerichtigkeit als faschistische Zwangsbeglückung angegriffen haben.

Merkel, Gabriel & Co widersprechen sich jeden Tag zweimal – und niemand widerspricht den Nebelverbreitern. Die Medien befinden sich in derselben Bredouille wie die politische Kaste, mit der sie täglich Händchen hält, auch wenn sie gelegentlich tut, als ob sie widerspräche. Doch es handelt sich nur um Alibikritik, damit man seinen Kollegen (und den Rüpeln von Pegida) zeigen kann, wie heroisch-kritisch man aufgetreten sei. Nach einer gewissen Schamfrist haben die Medien noch immer alles abgesegnet, was im Namen des Zeitgeistes – importiert aus Frankreich, England, vor allem aus Gottes eigenen Ländern Amerika und Israel – die Grenzen überwinden konnte.

Kleines Beispiel aus der Gegenwart: das terrorerprobte Israel sollen die Europäer sich zum Vorbild nehmen und nicht bei jedem kleinen Bombenattentat die Contenance verlieren. Vom Geheimdienstchef Netanjahus hören wir eine von Hohn triefende Rede gegen die schokoladen-verwöhnten Belgier. Das Fehlen jeglicher Wehrhaftigkeit käme von der Verweichlichung der moralisierenden Europäer, die durch ihren konsumierenden Pazifismus nicht mehr realitätstüchtig seien. Hätte ein anderer diese feinfühligen Sottisen losgelassen, wäre er geächtet worden. Doch Deutschland hält an seinen Matadoren fest, auch wenn sie vor Hochmut triefen.

Nicht nur der SPIEGEL ist in Turbulenzen. Was aber tun die Gewaltigen des Wortes, um sich zu regenerieren? Sie rüsten digital und algorithmisch auf, dass die Schwarte kracht. Ihre geistigen Defizite gedenken sie, durch technische Aufrüstung wettzumachen. Just wie jene bubihaften Programmierer, die den Menschen perfektionieren, indem sie ihn abschaffen und durch Maschinen ersetzen wollen. Kann es jemanden verwundern, dass diese Plagiatoren alle futuristischen Verheißungen aus Silicon Valley wie ein Evangelium anbeten?

Die christlichen Staaten – Russland inklusive – wetteifern darum, das eschatologische Land des verheißenen Goldenen Jerusalems zu werden. Nur vordergründig soll Konkurrenz die üppigste und reichste Ökonomie liefern. In Wirklichkeit laufen sie um die Wette – direkt in die Hände ihres wiederkehrenden Messias. Wenn Merkel mit gewohnt tonloser Stimme den Wettbewerb preist, meint sie immer Doppeldeutiges. Wirtschaftlich will sie ihre europäischen Nachbarn ausstechen, eigentlich aber will sie als Lieblingstochter bei ihrem geliebten Heiland ankommen:

„Wisset ihr nicht, daß die, so in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber nur einer erlangt den Preis? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!“

Nur der Erste zählt, der Zweite gehört zu den Verlierern. Das ist nicht nur das Motto der Familie Kennedy, sondern des gesamten Christentums.

Das Interview ist das seltsamste und absurdeste Produkt einer Vierten Gewalt, die sich längst als Jurorin und Meisterin der ersten drei Gewalten – und des Volkes aufspielt. Zuerst die rigide Rollenaufteilung. Hie der alleswissende Experte, dort der Fragende, der tun muss, als könne er nicht bis drei zählen – obgleich er dem Experten natürlich überlegen ist. Er darf es nur nicht plakativ zeigen. Die Objektivität des Fragers – keinem politischen Lager anzugehören, sich weder für das Gute, noch für das Böse engagieren zu dürfen – ist längst zur Dummstellerei geworden.

In einer Demokratie hat jeder Farbe zu bekennen. Zumal, wenn sie gefährdet ist. Steht gar das Überleben der Gattung auf dem Spiel, wird jede teilnahmslose Objektivität zur selbstzerstörerischen Verantwortungslosigkeit.

Woher stammt die Blasiertheit des Sich-raus-Haltens, die zur Feigheit von Mitläufern geworden ist? Haben die Nachkriegs-Deutschen sich nicht feierlich geschworen, niemals mehr mitzulaufen, sondern Stellung zu beziehen und tapfer Widerstand zu leisten?

„Nach meinen Beobachtungen“: das ist ihre Lieblingsfloskel. Sie beobachten und machen in Mauerschau. So sehr sie den Zeitgeist vergötzen, so wenig fühlen sie sich der Gegenwart verpflichtet. Die fahrlässige Unbeteiligtheit kommt von der Mentalität der Auserwählten, die wissen, dass sie allein gerettet werden, die Ungläubigen aber alle in die Hölle wandern. In dualistischen Erwählungsreligionen gibt es keine Gemeinsamkeit zwischen Verworfenen und Erwählten. „Was ist los mit Deutschland, was ist los mit dieser Welt?“ So existentiell fragen sie, gekonnt den Oberkörper windend. Sie tun, als ob sie von einer Reise ins Universum zurückgekommen wären und nun auf Erden fremdeln müssen.

Obgleich sie interesselose Objektivität simulieren, sind die meisten Fragen auf persönliche Interessen gerichtet. Welches Interesse hat Sie geleitet? Sind Sie als Putinversteher nicht auch Putin-Rechtfertiger? Die sachlichen Fragen bleiben lästige Beilagen. Kritische Fragen sind selbstredend nicht die Meinungen der Fragenden. Sie spielen nur den advocatus diaboli. Ihren Formulierungen aber, ihrer Stimmlage ist anzuhören, dass die Fragen so ernst nicht gemeint sind, wie sie klingen sollen.

Der emotionale Untertext unterhalb des Gesprächs klingt so: Entschuldigen Sie, werter Zeitgenosse, dass ich eine systemkritische, antikapitalistische Frage stellen muss – die wir beide selbstredend für Nonsens halten; doch im Namen unserer Leser Sie wissen schon!

Nachfragen? So gut wie keine. Nachfragen, die die widersprüchlichen Aussagen des Befragten aufspießen würden? Niemals! Es gibt keine logischen Regeln, mit denen man dem andern auf den Leib rücken müsste. Das wäre ja Rechthabenwollen.

Den Experten wollen sie vermitteln, dass sie eingebildete Wichte sind, doch selber Rechthaben dürfen sie nicht. Das wäre Sünde wider den Geist. Sollte ein Befragter auf die verwegene Idee kommen, den Frager zurück zu befragen – was selten vorkommt – was geschieht dann? Dann geschieht das Ungeheure, die Entlarvung des Geplänkels als diktatorische Veranstaltung. Ich stelle hier die Fragen, donnerte ein Frank Plasberg, der rein körperlich seine Gesprächsteilnehmer überragt. Nicht, weil er ein Riese wäre, sondern weil er wie ein Lehrer im Frontalunterricht vor seiner Klasse steht.

In einem freien Dialog gibt es diktatorische Regeln! Und wer diktiert? Die Fragenden, die sich den Schein des Unbeleckten geben, um die Weisen zu Fall zu bringen. Die Letzten werden die Ersten sein, wer sich ignorant stellt, wird der Weiseste aller sein.

Warum sucht Merkel sich Anne Will als Hof-Interviewerin aus? Anne Will ist nett, eine Augenweide, sie kann überaus distanziert gucken und Fragen stellen, die so kritisch klingen, dass niemand auf die Idee käme, die ARD wegen Gefälligkeitsjournalismus anzuklagen – und doch nicht so kritisch sind, dass die geplagte Mutter in Bedrängnis käme. Diese fein austarierte Art, Demokratie zu spielen, ohne demokratisch zu sein: das ist das Geheimnis der staatstragenden Medien.

Ein Streitgespräch auf gleicher Augenhöhe darf nicht sein, sonst müsste der mediale Fenstergucker seine Position enthüllen. In einem wirklichen Streitgespräch darf es kein Gefälle zwischen Fragen und Antworten geben. Jeder muss Rechenschaft über sein Denken abgeben.

Als ein Zuhörer Sokrates vorwarf, er hätte als Fragender leichtes Spiel, um den anderen vorzuführen, erhielt er die Antwort: Okay, dann antworte ich. Wer fragt? Plötzlich hatten seine Kritiker keine Zeit mehr für das verbale Allotria. Wenn man Sokrates mit einer lästigen Stechmücke verglich, müsste man die heutigen Medien mit dienstfertigen Quacksalbern vergleichen, die alle Wunden der Polis mit weißer Salbe tünchen. Zur Erinnerung:

„Solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden, wie: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken? Und wenn jemand unter euch dies leugnet und behauptet, er denke wohl darauf, werde ich ihn nicht gleich loslassen und fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und ausforschen. Und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, behaupte es aber, so werde ich es ihm verweisen, dass er das Wichtigste geringer achtet und das Schlechtere höher. Denn wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen andern solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie einem großen und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zur Trägheit neigt und der Anreizung durch den Stachel („Stechmücke) bedarf, wie mich der Gott dem Staate als einen solchen zugelegt zu haben scheint, der ich auch euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre.“ (Apologie)

Das Christentum ist zur Gefahr für die Menschheit geworden. Ihre Erlösung ist die Vernichtung dieser Welt.

„Schon aber ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt.“

Das ist sowohl wörtlich gemeint wie auf die ganze Welt bezogen. Zieht euch warm an, ihr Menschen, das Ende ist nahe herbeigekommen. Warum wird diese Gefahr nicht erkannt? Weil die meisten Christen diese Texte nicht kennen. Die andern, die sie kennen, sortieren sorgsam aus und suchen nur erbauliche Stellen, die ihren Bedürfnissen entgegen kommen.

Man sollte doch etwas über die Religion wissen, der man zugehöre, sagte Laienprediger Bodo Ramelow – im Nebenberuf Ministerpräsident Thüringens. Da täuscht sich der sympathische, sonst so nüchterne Politiker. Im Christentum muss man nichts wissen, um selig zu werden. Es genügt der Glaube an den Glauben. Theologen sprechen von fides implicita, von bewusstseinslosem Fürwahrhalten. Je weniger sie von ihrem Glauben wissen, desto leichter können sie vom Klerus und den Machteliten an der Nase herumgeführt werden.

Auch Ramelow weiß nichts von seiner Religion. Wie die meisten Gutgläubigen selektiert er Stellen, die er humanistisch verwerten kann. Alles andere wirft er in den Orkus. So kapiert er nicht, dass seine human klingenden Lieblingsworte im Rahmen einer inhumanen Dogmatik – inhuman werden müssen.

Das Christentum ist ein in sich widersprüchliches System, aus dem Beliebiges folgt: Gutes wie Böses. Ist aber das Böse nicht ausgeschlossen, kann es exekutiert werden, als sei es Gutes. Sind Gut und Böse gleichberechtigt und wechselweise ersetzbar, kann der Teufel als Bote Gottes auftreten. Die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, wird zum Bösen, das sich als Gutes präsentiert. Das war die selbstgestellte Falle der Deutschen, in die sie blind hineintappten und schreckliches Unheil über die Welt brachten.

Doch die Weltgeschichte ist noch nicht zu Ende. Die theologischen Ursachen ihrer Völkerverbrechen haben sie bis heute nicht verstanden. So wenig wie die anderen christlichen Staaten, die inzwischen die Welt vor sich herjagen, um sie zu zerstören, weil sie glauben, ihr Messias werde kommen, um die Welt zu richten.

Die Deutschen wähnen, sie hätten ihren Glauben mit einer Prise Aufklärung zur Raison gebracht. Vernunft und Religion seien problemlos vereinbar. Der „Humanismus“ der deutschen Klassiker, der Jesus und Sokrates, Golgatha und Olymp, irdische und überirdische Polis fugenlos harmonisierte, ist die Basis der religiösen Ignoranz der Gegenwart. Goethes kompromisslerische Feigheit ist beispielhaft. Einerseits bekannte er sich als dezidierten Nichtchristen. Andererseits ging er jedem Clinch mit dem Himmel und seinen Stellvertretern aus dem Weg:

„Mag die geistige Kultur nur immer fortschreiten, der menschliche Geist sich erweitern wie er will; über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen.“

Wir müssen nicht nur über das Christentum, wir müssen sogar über Goethe hinauskommen.

 

Fortsetzung folgt.