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Europäische Idee XXXVIII

Hello, Freunde der europäischen Idee XXXVIII,

zehn Jahre Verfall und Niedergang, zehn Jahre Zerrüttung der europäischen Idee, zehn Jahre Verschärfung der kontinentalen Krise, während sie unaufhaltsam zur mächtigsten Frau Europas aufstieg – und alles prallt an ihr ab. Probleme türmen sich gen Himmel, nichts wird angesprochen, nichts erklärt und in Angriff genommen – und sie bleibt unberührt und schuldlos.

Der demokratische Geist lebendiger Debatten – wo ist er geblieben? Die Transparenz politischer Entscheidungen – wo ist sie hin? Die Alternativen – wer hat sie abgeschafft? Die Verbundenheit der Völker – wer hat sie demoliert? Das globale Denken – wer hat es ad absurdum geführt? Nationale Eigenmächtigkeiten und völkische Eitelkeiten sind zurückgekehrt – und niemand fragt warum. Sie, die Trösterin ihres Volkes, muss nur existent, nur vorhanden sein – und alles geht seinen beruhigenden und gewohnten Gang.  

Sie ist keine Politikerin, sie ist eine Machtvirtuosin aus Instinkt. Die Männer schirren ab und sie war im rechten Moment zur Stelle. Es war der Kairos ihres himmlischen Vaters, der sie zur rechten Zeit an die richtige Position führte. Europa, nach einem Schub kosmopolitischer Aufbruchsstimmung einer selbstkritischen Nachkriegsepoche, fällt zurück in religiöse Untergangsstimmung, getarnt als futuristische Hoffnung, technische Grenzenlosigkeit und berauschte Macht- und Vernichtungswut gegen die planetarische Heimat – zugunsten einer himmlischen, die alles zerstören muss, um das Neue zu bringen.

Der Glaube an das Neue, das alles von vorne beginnt, alles Vergangene vernichtet und die gesamte Lerngeschichte der Menschheit unter sich begräbt, wird alles

in prachtvoller Vollendung für ewige Zeiten etablieren. Für diese Fata Morgana, seit 2000 Jahren erhofft und immer wieder auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben, opfern sie alles, was sie sich mühsam mit vereinten Kräften erarbeitet haben. Das Menschliche und Wirkliche gilt nichts, das Göttliche und Phantastische hingegen alles.

Die Deutschen wiederholen die Zeit ihrer Aufklärung, die nach der Niederlage gegen Napoleon in sich zusammensank, zur religiösen Romantik verkam und sich an theokratischen Visionen berauschte, um ihr politisches Elend erträglich zu machen.

Der Mittelpunkt der gesamten Weltgeschichte ist Berlin, dekretierte ein schwäbischer Denker, obgleich die verspätete und zerstückelte Nation ein machtpolitisches Nichts war. Dichtend und denkend berauschten sie sich an ihrer unvergleichlichen Einmaligkeit und benötigten nur noch ein weiteres Jahrhundert, um ihr welterlösendes Charisma mit Feuer und Schwert in die Tat umzusetzen.

Religiöse Delirien hatten sie aus Zeiten der Not gerettet, warum sollte dies heute anders sein – wenn Millionen Flüchtlinge drohen, die Völker aufrüsten, das Klima unerträglich wird und ökonomische Ungerechtigkeiten zum Himmel schreien?

Vom kleinsten zum größten: kein einziges Problem wird angepackt, gemeinsam erörtert und von den Völkern beschlossen. Um nur die geringsten zu nennen: wer kann sich heute noch eine geräumige Wohnung, wer die steigenden Energiekosten leisten? Ein Zehntel aller Europäer sitzt im Kalten und Dunklen – die gestrige ARTE-Sendung wäre in den Öffentlich-Rechtlichen zur besten Unterhaltungszeit unmöglich gewesen. Alles wird privatisiert, alles den Geldgiganten in den Rachen geschoben. Niemand will die Zeitumstellung, sie bringt nichts und macht allen zu schaffen – doch kein Politiker nimmt diesen Begriff in den Mund. Die Nervenstränge der Gesellschaft kollidieren, Brücken und Straßen zerfallen – wer fühlt sich zuständig? Soziale Bindungen in Freundschaften und Familien gehen vor die Hunde, die Verfügbarkeit der Menschen im Dienste der Industrie ist zur bezahlten Sklaverei geworden: das ist der Preis, den wir für eine progressive Gesellschaft zu zahlen haben.

Und also zahlen wir und zahlen – und wissen nicht mehr, wofür. Die Mängel des Menschen sollen durch Maschinen kompensiert werden: der Mensch arbeitet nicht mehr an sich, sondern an Chips und technischen Synapsen. Obgleich der Mensch nicht fähig ist, sich zu verändern, soll er fähig sein, Golems zu bauen, die alles können, wozu er selbst nicht in der Lage ist. Der Sohn Gottes soll seinen Vater, das Produkt seinen Erfinder übertreffen. Der Mensch ist etwas, was überwunden werden muss. Die besten Köpfe planen den Abschied der Gattung – und die Gattung applaudiert.

Die Entwicklung der Wirtschaft diente einst dem guten Leben der Menschen. Doch Zufriedenheit und ein angenehmes Leben sind längst zu Feinden allen Fortschritts geworden. Das Ziel aller menschlichen Betätigungen ist der Mensch – so dachte die Aufklärung. Das Ziel aller menschlichen Tätigkeiten – ist die Glorie der Maschinen und der Mächtigen. Der Mensch wurde zum Knecht der Geschichte, die zur ferngelenkten Heilsgeschichte mutierte.

Zu all dem gibt die Kanzlerin keine Erklärung ab. Das ist unter ihrer Auserwählten-Würde. Sie weiß als Lutheranerin: all unser Tun ist umsonst. Doch es muss getan werden, bis der Herr an die Türe pocht. Dann will sie nicht zu den schlafenden Jungfrauen gehören. Also gilt es zu tun, als ob man täte. Das kann sie mit Perfektion.

Mehr als die Hälfte aller Deutschen glaubt nicht mehr an die Demokratie, sie wollen von der Unsichtbaren Hand geleitet werden, die aussieht wie die Hand einer treusorgenden Mutter. Es hat sich eine affektive Symbiose gebildet: aus untergründigen Beruhigungsbedürfnissen verwaister Kinder und Heilsversprechungen einer Magd Gottes. Nichts illusionärer als die Selbstberuhigungen der Abhängigen: Mutter ist sich treu, sie ist standhaft geblieben, sie blieb gelassen, sie wankt und weicht keinen Millimeter. Solche Zeichen der Stärke wollen die verzagten Untertanen hören und sehen, damit sie nachts ruhig schlafen können.

Kann es einen schreienderen Skandal geben als die Verwandlung der Frau Merkel aus einer Madonna der Barmherzigkeit in eine eiskalte Machiavellistin, die sich aller Flüchtlinge entledigt und sie einem Despoten übergibt, der Meinungsfreiheit als Majestätsbeleidigung betrachtet und deutsche Grundrechte verhöhnt?

Der Sündenfall der Kanzlerin wird nicht mal zur Kenntnis genommen, der Satz des Widerspruchs ist außer Kraft gesetzt. Die dialektische Maischebildung ist zur Grundlagenlogik der Republik geworden. Man will nichts sehen und nichts hören, sonst müsste man reagieren und die Trösterin davonjagen. Quel Malheur für das Innenleben der Nation. Steinmeier, der Weißhaarige, kritisiert die Flüchtlingspolitik seiner Regierung, die er selber mit zu verantworten hat.

Logik und Sprache sind keine Kriterien der Wahrheit mehr. Begriffe werden besetzt, zerfleddert und entsorgt. Sprache ist dazu da, die Menschen an der Nase herumzuführen. Ein Gemeinwesen kollidiert, wenn es sich nicht mehr verständigen kann. Es kann sich nicht mehr verständigen, wenn seine Begriffe hohl geworden und beliebig zu füllen sind.

Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, Gott, was Gottes ist. Doch was ist des Kaisers, was ist Gottes? Jeder darf projizieren, was ihm gerade in den Sinn kommt. Mit solch hohlen Sätzen geht der führende Historiker der Merkel-Republik hausieren, um demokratische Gewaltenteilung aus der christlichen Theokratie abzuleiten.

Hat Gewalt und Terror mit Religion zu tun? Das wäre Missbrauch des Heiligen zu unheiligen Zwecken. Religionen sind komplette Weltdeutungen. Es gibt nichts, was sie nicht mit ihren Begriffen besetzten und dingfest machten. Wie kann etwas dauernd mit Religion zu tun haben, ohne mit Religion zu tun zu haben? Jeder Kriminalkommissar weiß, dass spätestens beim dritten Zufall an eine überzufällige Reihenbildung zu denken ist.

Religion hat nichts mit Gewalt und Macht zu tun? Religion ist nichts anderes als die Definition aller Macht und Gewalt als göttliche Manifestation. Gott ist Liebe, also kann sie keine Macht sein? Ich bete an die Macht der Liebe. Gottes Liebe ist Macht, Gottes Macht ist Liebe, das bestimmt er und also ist es. Wie kann ein Gott allmächtig sein ohne Macht zu haben?

Aller Terror ist Missbrauch der Religion, predigen sie von allen Kanzeln. Dann müssten wir von Religiophilie sprechen, wie wir von Pädophilie, dem Missbrauch von Kindern sprechen. Philia aber ist Liebe. Müsste dann Philo-Sophie, die Liebe zur Weisheit, nicht Schändung der Weisheit sein? Xenophobie ist Angst vor Fremden. Angst aber ist nicht identisch mit Hass. Links, rechts, Mitte, konservativ, Fortschritt, am rechten Rand fischen, Haltung, Populismus, Eigeninitiative, Wettbewerb, Deregulierung – alles leere und hohle Begriffe, die verschleiern sollen, wie Wenige Viele beherrschen können.

Woher kommt die abgrundtiefe Dummheit der Deutschen in religiösen Dingen? Seit undenklichen Zeiten haben sie zu glauben – und Glauben bedeutet: Abschied nehmen von Wissen, Erkennen und logischem Beurteilen. Nicht viele Weise und Verständige waren unter den Schafen des Herrn. Ich glaube, weil es absurd ist. Gott macht die Weisheit der Weisen zuschanden.

Sehet zu, ob euch etwa jemand des Glaubens berauben will durch Philosophie und leere Täuschung.

Offenbarung und Vernunft sind wie Feuer und Wasser. Entweder – Oder. Aber nicht für Deutsche. Deutsche akzeptieren kein Entweder – Oder. Es sei, sie sind zufälligerweise Rassisten oder Flüchtlingsfeinde. Dann aber gilt: Die – oder Wir. Was aber Petitessen wie Gott und die Welt betrifft, sind wir alles geborene Dialektiker: Widersprüche verspeisen wir am liebsten zum Frühstück und benutzen sie als Motor zum Fortschritt aller Dinge. Das wäre doch gelacht, wenn wir die Gegensätze der Welt nicht klein kriegen würden. Gebt mir alle Widersprüche dieser Welt, sprach Hegel und ich zermahle sie zum Einheitsbrei Gottes.

Das deutsche Denken hat keine Angst vor metaphysischen Rätseln und Unlösbarkeiten. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Ja, selbst ihren Herrn werden sie übertreffen, das war die Grundlage des christlichen Übermenschen. Wer an mich glaubt, der wird die Werke, die ich tue, auch tun und wird größere als diese tun.

Das ist der Widerspruch aller Widersprüche, unter dessen anonymer Gewalt die Deutschen stehen. Einerseits sollen sie die sündige und heidnische Welt nicht verstehen, andererseits Gottes Weisheit als Nonplusultra des Heils anbeten.

Das hat politische Folgen bis heute. Die Eliten werden nicht müde, dem Pöbel einzubläuen, dass er keinen Draht habe für das Überkomplexe und ergo das Denken anderen überlassen solle. Andererseits wollen sie mit ihrem Glauben allem natürlichen Wissen haushoch überlegen sein. Zu seinem Amtsantritt hielt Sarko es für richtig, in Afrika den Afrikanern aus hoher Warte mitzuteilen: ihr Afrikaner seid noch im Banne der Natur, in die Geschichte der Weißen seid ihr noch nicht eingetreten. Mit anderen Worten: ihr habt noch nicht mitzureden.

Wen wundert es, dass Europa auf jene Naturmagier aus dem dunklen Afrika verzichten kann, wenn sie als Flüchtlinge Einlass begehren? Da schwören wir doch lieber auf die Magie unsres welterobernden Glaubens. Naturmagier lassen die Natur, wie sie ist. Das ist langweilig. Erlösungsmagier traktieren Natur wie logische Widersprüche: sie machen sie zu Mus. Die rätselhafte Natur darf nicht über die Krone der Schöpfung triumphieren.

Die Überlegenheit der Eliten ist das Erbe der priesterlichen Überlegenheit über das gläubige Fußvolk. Zwar wissen sie auch nicht mehr. Da sie aber ihr Nichtwissen im Glaubensgehorsam akzeptieren, sind sie weise – im Herrn.

Wer die Ökonomen betrachtet, wird nicht umhin können, sie als wissenschaftliche Creationisten oder als Nachfahren lateinisch sprechender Priester des Mittelalters zu betrachten. Jene sprachen eine Herrensprache, um dem Volk Überlegenheit vorzugaukeln, diese rechnen mit Herrenmathematik, um dem Volk nicht zu zeigen, dass sie von realer Wirtschaft keine Ahnung haben. Unglaublich, aber wahr: weder werden in den wirtschaftlichen Fakultäten die Werke der Hayeks gelesen, auf denen ihr Glaube beruht, noch unternehmen sie den geringsten Versuch, das pralle Leben der Geldkreisläufe mit ihren Theorien abzubilden. Sie verstehen fast nichts – aber im Modus der Allwissenheit. Die unübersteigbare Kluft zwischen Brahmanen und Volk, Priestern und Volk, digitalisierenden Genies und Volk, ist die Basis aller männlichen Hierarchien und Hochkulturen.

Übersetzen wir zum Spaß einige Sentenzen der Kirchenväter in den Slang heutiger Neoliberaler.

Tertullian: „Ich glaube an die Auferstehung Christi, weil sie unmöglich ist.

Neoliberaler: „Ich glaube an die Allwissenheit des Marktes, weil sie unmöglich ist.“

Tertullian: „Wir brauchen nach Jesus Christus keine Wissbegierde mehr noch eine Forschung nach dem Evangelium.“

Neoliberaler: „Wir brauchen nach Hayek keine neunmalklugen Ökonomiestudenten, die Fragen nach der Realität und Stimmigkeit der alleinseligmachenden Lehre stellen, auch keine anödende Lektüre von Texten mit sogenannten Buchstaben, die jeder deuten kann, wie er will. Wir brauchen Formeln und Zahlen – und sonst nichts.“

Ein Kirchenvater: „Was nützen mir Philosophie, Rhetorik und die Erfindungen der Dichter? Sie tragen nichts bei zu meinem Seelenheil, nichts zur Wahrheit, die nur in Christus lebendig ist.“

Neoliberaler: “Was nützen uns Schwätzerwissenschaften (talking sciences) und subjektive Kultur-Schmankerl, wenn wir objektiv rechnen können? Selbst wenn unsere Rechnungen nicht mit den Tatsachen übereinstimmen sollten: umso schlimmer für die Tatsachen.“ Womit bewiesen, dass die rechnenden Ökonomen schon das Niveau Hegels erreicht haben – ohne seinen schwäbischen Tiefsinn natürlich.

Zu Zeiten Einsteins und Heisenbergs waren Naturwissenschaftler tiefsinnige Philosophen, die ihre neuen Erkenntnisse ohne Auseinandersetzung mit dem vergangenen Denken nie gewonnen hätten. Heute sind Physiker Fachidioten, von ihren algorithmischen Kollegen ganz zu schweigen. Wenn man die Meister der KI (Künstliche Intelligenz) reden hört, hat das die Qualität von Klippschülern – ohne deren bezaubernde Naivität und Wissensbegierde. Gefahr für die Menschheit durch Roboter? Man solle nicht übertreiben, sprach Mark Zuckerberg.

Von Wissenschaftsgeschichte haben sie keine Ahnung – und glauben, sich solche Ignoranz leisten zu können. Kritik an ihrem Tun ist für sie Bedenkenträgerei aus dem dunkelsten Europa. Zukunftsforscher schauen hingegen gläubig in die Zukunft. Der kleinste Blick zurück – und sie würden zur Salzsäule erstarren.

Deutsche Edelschreiber lieben moralfreie Zonen. Wir brauchen keine Moral, wir brauchen Mehrheitsentscheidungen, schrieb erbost Peter Unfried in der TAZ. Wir brauchen nicht nur Moral, schrieb Bernd Ulrich in der ZEIT. Wir brauchen auch Waffen und Abschreckungsinstrumente, um nicht alle außenpolitische Verantwortung den Amerikanern zu überlassen.

Hallo: sind Mehrheitsentscheidungen keine hochmoralischen Erfindungen der Athener Demokratie, um das Problem der Wahrheitsfindung mit jenem der Gleichheit aller Menschen auszutarieren? Hallo, sind Waffen kein moralisches Problem? Obama durfte nach Belieben mit ferngelenkten Drohnen Menschen durchsieben lassen – ohne Rücksicht auf internationale Gesetze? Truman durfte zwei japanische Städte mit Atombomben in Staub und Asche verwandeln, obgleich der Krieg entschieden war?

Ist Merkels Barmherzigkeitsshow problemlos verträglich mit ihrem Idomeni-Machiavellismus, mit dem sie die Hilfesuchenden der Willkür eines demokratiefeindlichen Despoten ausliefert? Welch ein bürokratischer Hohn. Flüchtlinge werden unterteilt in legale und illegale, ihre Not und Hilfsbedürftigkeit spielen keine Rolle. Besitzen sie die richtigen Papiere, werden sie aufgenommen. Begingen sie den Fehler, in der Hektik des Bombenhagels ihre Pässe zu vergessen, haben sie Pech gehabt. Merkel schiebt alle Verantwortung an überforderte Griechen oder autoritäre Türken ab.

Die Deutschen, überfordert und erschöpft durch ihre überschwängliche Hilfsbereitschaft, sind der Kanzlerin dankbar, dass sie die Flut gestoppt hat, wenn auch mit verdrängten Schuldgefühlen. Dass Merkel die heilige Schuld auf sich nahm, um ihre Bevölkerung zu entlasten, macht die Deutschen unendlich dankbar. Mutter half ihnen aus der Patsche, obgleich sie nicht den Mut hatten, sie um Hilfe zu bitten.

Das ist wahre Mutterliebe, wenn Merkel sich pro nobis schuldig macht. Nicht anders als der Gekreuzigte, der alle Schuld der Welt auf sich nahm, auf dass wir selig würden. Oh Mater dolorosa, du hast in unseren Augen gelesen, dass wir uns caritativ übernommen hatten. Stillschweigend hast du das Problem gelöst, indem du den bösen Schein auf dich nahmst. Du bist nicht nur Jesus, sondern auch Judas, der die Schurkenrolle auf sich nahm, weil der himmlische Vater sie für heilsnotwendig hielt.

Was ist der Unterschied zwischen Religion und allgemeiner Moral?

Der Fromme hat auf die Direktiven Gottes zu hören, die sich von Augenblick zu Augenblick ändern können. In diesem Augenblick sagt Gott dies, im nächsten Moment sagt er das. Dies und das können absolute Widersprüche sein.

Eine autonome Vernunftmoral darf sich nicht widersprechen. Unabhängig von Zeit und Raum hat sie Gleiches gleich zu behandeln.

Jetzt das Kernproblem. Kann man mit einer kategorischen Moral: Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun, auch außenpolitische Probleme lösen? Wäre ein Staat, der sich an diese rigide Moral hielt, nicht zum Untergang verurteilt? Hatte Merkel nicht das Recht, zuerst die Barmherzigkeitskarte zu ziehen? Erst, als sie die Unmöglichkeit sah, ihre gottesfürchtige Ethik außenpolitisch zu erweitern, sah sie sich zu einem harten Machiavellismus gezwungen. Inwieweit ist das Naturrecht der Schwachen – gleiche Rechte für alle – kompatibel mit dem Naturrecht der Starken: wer Macht hat, hat Recht, der Starke kann mit dem Schwachen verfahren, wie er lustig ist?

Staatsräson und private Moral, wie passen sie zusammen? Eine berechtigte und nicht leicht zu beantwortende Frage. Ist es auch die Frage Merkels? Solche skrupulösen Fisimatenten wischt die Magd Gottes vom Tisch. Philosophisch ist sie eine bekennende Vollignorantin. Als grobschlächtige Lutheranerin hat sie weltliche Subtilitäten nicht nötig. Sie kennt nur zwei Bereiche: den irdisch-sündigen Staat, in dem alles falsch ist, was geschieht – und das Reich Gottes, in dem alles richtig ist durch wahren Glauben. Den Dienst im teuflischen Staat muss sie tun im Auftrag Gottes. Im falschen Leben kann man nur Falsches tun. Doch keine Sorge, Gott vergibt alle Schuld, wenn sie im rechten Glauben geschieht. Sündige tapfer, wenn du nur glaubst.

Merkel treibt keine rationale Politik, die sie mit Argumenten erklären und rechtfertigen würde. Sie vernimmt nur die wechselnden Augenblickssignale des Himmels, die sie demütig in die Tat umsetzen muss. Merkels theokratische Symbiose mit ihrem trostsuchenden Volk hat das Maß der Übereinstimmung zwischen sozialistischen Parteiführern und proletarischen Massen bei weitem übertroffen. In Deutschland herrscht eine Stimmung der prästabilierten Harmonie zwischen Kanzlerin und ihrem unsicher-irrenden Volk. Merkel hat von der Bevölkerung einen unbegrenzten Scheck erhalten. Sie kann tun und lassen, was sie will, wenn sie nur anwesend ist und ihre segnenden Hände über das Volk hält. Ihr Programm ist ihre pure Anwesenheit.

„Und wenn Mose seine Hand emporhielt, siegte Israel; wenn er aber seine Hand niederließ, siegte Amalek. Aber die Hände Mose’s wurden schwer; darum nahmen sie einen Stein und legten ihn unter ihn, daß er sich daraufsetzte. Aaron aber und Hur stützten ihm seine Hände, auf jeglicher Seite einer. Also blieben seine Hände fest, bis die Sonne unterging.“

Die stützenden Rollen von Aaron und Hur haben heute die Medien übernommen. Besonders die neue Merkelsekte, die nicht müde ward, ihre grenzenlos barmherzige Herzensdame in den Himmel zu heben. Inzwischen hört man nichts mehr von den Neukonvertiten. Haben sie ihre Meisterin fallen lassen? Bereuen sie etwa, sie vor aller Öffentlichkeit heilig gesprochen zu haben? Wir wissen es nicht und werden es nie wissen. Edelschreiber können nicht irren, sie können sich immer nur neu erfinden. Welchen Stuss sie auch gestern redeten – sie verdrängen, was dahinten ist und strecken sich aus nach dem, was vor ihnen liegt.

Wollte man Merkel nach ihrer eigenen Überzeugung beurteilen, müsste man ihr den Status einer frommen Magd Gottes bescheinigen. Wollte man sie nach demokratischen Kriterien beurteilen, müsste man sagen: eine komplette Mogelpackung. Von Autonomie hält sie nichts, instrumentellen Verstand verwechselt sie mit Vernunft, debattieren auf der Agora kann sie nicht, Probleme lösen will sie nicht, das Menschengeschlecht gibt sie verloren. Nur Beten hilft, das ist der Kern ihres Glaubens. Sollten die Deutschen nicht rechtzeitig eine nationale Konversion oder neulutherische Volksbewegung zustande bringen, werden sie keine Chancen haben, eine führende Rolle in der Welt zu spielen. Davon ist sie überzeugt.

Wenn jemand ein Amt übernimmt, obgleich er dessen Ansprüchen nicht genügt, vielleicht gar nicht genügen will, ist er entweder ein Hochstapler oder ein Scharlatan. Nach Pierers Universallexikon von 1857 ist ein Scharlatan jemand, der

„es versteht, sich den Schein von Gelehrsamkeit und Weisheit zu geben und durch niedere Mittel die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen sucht, besonders wird darunter ein Quacksalber verstanden, welcher sich durch Marktschreierei ankündigt. Ein literarischer Scharlatan ist ein Schriftsteller, der ohne gründliche Studien die Arbeiten Anderer zu Plagiaten benutzt und die Meinung des Publikums über seine Leistungen zu täuschen weiß.“

Nicht nur Merkels Kabinettsmitglieder Schavan, von der Leyen, von und zu Guttenberg täuschten die Welt mit Fähigkeiten, sie sie nicht hatten. Nicht nur die Kanzlerin gehört in die Riege der Scharlatane, sondern die gesamte Klasse der Mächtigen. Die Hauptschuldigen aber sind wir, das Volk, die wir mit religiösen Sirenentönen betrogen werden wollen und hartnäckig verdrängen, dass wir alle zum Teufel jagen müssten, die den Willen der Völker ignorieren.

 

Fortsetzung folgt.