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Europäische Idee XXXV

Hello, Freunde der europäischen Idee XXXV,

der Fall ist gewaltig. Von der engelgleichen Angela, die nur aus Liebe und Barmherzigkeit besteht, bis zur kaltschnäuzigen Gespielin des Beelzebub, die das Gegenteil dessen tut, was sie im Himmel predigte – und den Fall als „magischen Erfolg“ präsentieren kann. Die Deutschen applaudieren und sind stolz auf ihre allesbeherrschende Mutter Europas, die ihnen diese vorderasiatischen Flüchtlingshorden endlich vom Leibe hält.

Das Ende der caritativen Toleranz ist nahe herbeigekommen. Nun sollten einmal andere ran. Müsste Nächstenliebe zur Politik werden, sind deutsche Christen überfordert.

Wir leben in aufregenden Zeiten: vom Himmel durch die Hölle direkt zur Auferstehung. Deutschland gibt die Oberammergauer Festspiele in marianischer Variante. Wie in einem nationalen Labor werden die Mysterien des hiesigen Glaubens punktgenau reproduziert. Merkel ist dabei, in den Stand der unberührbaren Heiligkeit einzutreten. Wir schreiben das 21. Jahrhundert nach Christi Geburt.

„Durch die Schließung der Balkanroute und den EU-Pakt mit der Türkei kommen bald keine Flüchtlinge mehr nach Deutschland. Woher denn auch? Das Prinzip der Offenheit bleibt also vor allem deshalb erhalten, weil es keine Konsequenzen mehr hat. Gut zu sein, kostet nichts mehr. Rhetorisch ist Deutschland immer noch Margot Käßmann, aber faktisch längst Horst Seehofer. Das obergrenzenfreie Grundrecht auf Asyl wird zelebriert, weil es kein Schutzsuchender mehr in Anspruch nehmen kann.“ (ZEIT.de)

Worte und Sätze haben keine Bedeutung mehr. Wie sie ihre heilige Schrift in alle Windrichtungen deuten, so traktieren sie die deutsche Sprache. Taten werden nicht mehr an Worten gemessen, die als schillernde Seifenblasen herumflirren und bei

der kleinsten Berührung platzen.

Die pastorale Politikerin, die ihren Job als Transsubstantiation des irdisch Sinnlosen in das Heilige – und vice versa – versteht, ist oberhalb aller schnöden Parteienbildung angekommen. Mutter liebt all ihre Kinder und wird von allen Kindern geliebt. Wer sie nicht liebt, kann nicht deutsch sein und müsste ins Reich des osmanischen Emirs ausgeflogen werden. Wir schaffen dies oder das – wenn‘s sein muss auch das Gegenteil. Das Wort, sie sollen lassen stahn, hat die Lutheranerin ins Gegenteil verkehrt. Das präzise Wort ist eine philosophische Eitelkeit und muss eliminiert werden. Merkel empfängt täglich eine neue Himmelsbotschaft, da stören heidnische Eigenwilligkeiten.

„Grenzen, Zäune und Mauern lösen das Problem nicht, hieß es einst. Jetzt wird eine Armada aus Nato, Frontex und Polizisten an die türkisch-griechische Grenze geschickt, um sie strengstens zu überwachen. Europa schottet sich ab, damit bald alle 28 Mitgliedsländer vom globalen Flüchtlingsproblem unberührt sind. Eine europäische Lösung, die diesen Namen verdient, ist perdu. Weder geht’s um faire Quoten noch um feste Kontingente. Freiwillig sollen Flüchtlinge aufgenommen werden, was aller Erfahrung nach nicht funktioniert, weil jedes Land mit dem Zeigefinger aufs andere deuten wird.“

Sie beherrscht die magische Verwandlung von Wasser in Wein, von Trug in Wahrheit, von Unverträglichkeiten in geschmeidige Synthesen.

„Sie ist eine Meisterin der Diplomatie, eine Magierin der Politik. Sie kann Bälle verwürfeln und Kreise quadratisch machen. Das Publikum dankt es ihr mit hohen Zustimmungswerten. Drei Ziele verfolgte Angela Merkel beim jüngsten EU-Gipfel zur Flüchtlingskrise. Erstens sollen die deutschen Grenzen offen, das Grundrecht auf Asyl bestehen und Obergrenzen ausgeschlossen bleiben. Zweitens soll die Zahl der ankommenden Flüchtlinge drastisch reduziert werden. Drittens soll sich die Spaltung Europas nicht vertiefen. Alle drei Ziele hat die Kanzlerin erreicht. Ihre Geduld und Beharrlichkeit führten zum Erfolg. Doch der Preis dafür ist hoch. Er besteht aus Widersprüchen, Zynismen, Täuschungen und Inhumanitäten.“

Warum bemerkt niemand die Zynismen, attackiert die Täuschungen und kritisiert die Inhumanitäten? Auch der Artikel hält sich bedeckt und tarnt sich mit bloßem Beschreiben.

Merkel, in ihrem Gefolge alle europäischen Herren, hat einen faustischen Pakt mit Mephisto geschlossen. Entsorgst du alle Flüchtlinge, Recep Erdogan, wirst du endlich ins Allerheiligste Europas vorgelassen. Ein gigantischer Ablasshandel: Milliarden Euros gegen flüchtlingsfreie Zonen.

Über Nacht ist die Flut gestoppt. Schon stehen die Hallen halb leer in Deutschland. Das christliche Abendland übergibt sein Kostbarstes – die Nächstenliebe – in die Hände eines Fremdgläubigen.

„Das Schlüsselland wiederum für das Funktionieren dieses Plans ist die Türkei. Europa legt sein Schicksal in Erdoğans Hand. Der aber tritt Menschenrechte und die Pressefreiheit mit Füßen, bombardiert die Kurden und hat lange Zeit IS-Kämpfer aus Europa über sein Land nach Syrien weiterreisen lassen.“

Idomeni ist zur Schädelstätte der Kanzlerin geworden. Eben noch agapös überschäumend, findet sie heute nicht mehr das kleinste Wort des Erbarmens für die leidenden Flüchtlingsmassen am griechisch-mazedonischen Stacheldrahtzaun. Deutschland applaudiert – und Europa stöhnt: wir sind unter Druck gesetzt worden.

Der Samariter hat sich lange genug mit seinem Hilfsobjekt abgegeben, es wird Zeit, das caritative Fass ohne Boden beim nächsten Wirt für einen Bakschisch loszuwerden. Schließlich hat man Besseres zu tun: dringende Geschäfte in der Welt rufen. Man hat sich wieder um Wirtschaft zu kümmern. War mal eine kleine Abwechslung, eine Event-Erfahrung: dieses Willkommens-Gedöns, dieses: seid umschlungen, Millionen. Doch nun huschhusch zurück an die Fleischtöpfe Ägyptens.

Lebten wir in einer Demokratie, müsste die auratische Dame schon gestern zurückgetreten sein. Eric Bonse in der TAZ:

„Merkel hat den Bock zum Gärtner gemacht – und die anderen 27 EU-Staaten auf ihre Seite gezogen. Allerdings war es eher eine Überrumpelung, ein neuer Alleingang, mit der sie Europa vor vollendete Tatsachen stellte. Die meisten EU-Staaten stimmten der „Erpressung“ (so der belgische Premier Charles Michel) nur zähneknirschend zu.“

Gottlob hat die Hexenmeisterin der multiplen Rede ihre Verteidiger. In der Not muss man mit dem Bösen paktieren, erklären einheimische Teufelsexperten. Gottlob übersteigt die Komplexität der Lage das Denkvermögen simpler Moralisten. Da hilft nur der großkoalitionäre Jesuitismus der deutschen Öffentlichkeit. Man spricht von Probabilismus. Wie meinen? Der Duden weiß es:

  • (Philosophie) Auffassung, dass es in Wissenschaft und Philosophie keine absoluten Wahrheiten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten gibt
  • (katholische Moraltheologie) Lehre, dass in Zweifelsfällen gegen das moralische Gesetz gehandelt werden kann, wenn glaubwürdige Gewissensgründe dafür sprechen.“

Da müsste der Zeitgeist doch jauchzen und jubilieren. Lautet das postmoderne Dogma nicht: absolute Wahrheiten gibt es nicht?

Gäbe es keine absoluten Wahrheiten, hätte die Physikerin als amtierende Kanzlerin das Recht, jeden Tag eine neue Wahrheit durchs Dorf zu jagen. (Gilt das auch für die Physik? Oder die mathematische Struktur der Physik?) Doch wie war das mit der obergrenzenlosen Barmherzigkeit der Kanzlerin? Wurde nicht jeder Kritiker dieser unfehlbaren Lehre von Merkel und ihren Fans zur reaktionären Minna gemacht, weil er es wagte, den pragmatischen Menschenverstand einzuschalten – der bislang als oberstes Gesetz der Politik galt?

Wie lange schon geht das Mantra: Politik ist Interessenpolitik, steckt euch eure Moral an den Hut?

Die Rechten kennen nur private Moral, Politik ist für sie Erhaltung der Macht um jeden Preis. Die Linken kennen überhaupt keine Moral, außer der, die am Sankt Nimmerleinstag im Reich der Freiheit ausbrechen wird. Doch auf dem langen Weg dorthin gilt: erlaubt ist jede List und Gewalt, die die kapitalistischen Ketten bricht. Im falschen Leben gibt es kein richtiges – oder? Moral aber wäre das Richtige, um dem Falschen Schritt für Schritt zu entgehen.

Die neue Merkelsekte besteht aus ehemaligen Hardcore-Relativisten: jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit. Über Nacht konvertierten die Dogmatiker der Beliebigkeit zu Anbetern ihrer eigenen Unfehlbarkeit. Dass beide Positionen unverträglich sind, interessiert keinen deutschen Dialektiker, der alles in Harmonie synthetitisiert, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Die Medien widersprechen sich nie. Längst haben sie vergessen, was sie gestern sagten. Also müssen sie sich auch nie korrigieren. Wer sich täglich neu kreiert, für den ist das Alte Schrott von gestern. Kann es in diesem Tohuwabohu Erkenntnisfortschritte geben? Haha, solchen Tand brauchen sie nicht. Behaupteten sie nicht schon immer, der Mensch sei ein lernunfähiges Augenblicks-Wesen? Würde gemeinsames Lernen nicht die Überwindung subjektiver Beliebigkeit bedeuten?

Der Probabilismus ist nicht nur die Leugnung absoluter Wahrheiten – mit Ausnahme der himmlischen –, sondern auch die Erlaubnis, in Zweifelsfällen gegen das moralische Gesetz zu verstoßen, wenn glaubwürdige Gewissensgründe dafür sprechen. Hier hilft das inflationäre Geschwätz von der Reduktion der Komplexität.

Warum gibt es keine Volksparteien mehr? Weil sie nicht mehr in der Lage sind, alle komplexen Wahrheiten so zu reduzieren oder zu versimplifizieren, dass auch Herr Mustermann & Frau sie noch verstehen. Was voraussetzt, dass die Eliten das Überkomplexe verstehen würden. Was sie selbstverständlich nicht tun. Sonst hätten sie keine Probleme, sie zu lösen. Sie selbst sind die Zauberlehrlinge, denen der Besen über den Kopf gewachsen ist.

(Wenn links und rechts Idiotenbegriffe sind, so sind Links- und Rechtspopulismus noch idiotischere Begriffe. Wer in einer Demokratie nicht die Meinungen und Interessen des Volkes vertritt, sollte zu Orban auswandern. Mit Verlaub: links ist Suche nach Gerechtigkeit, rechts die Suche nach Macht und Machterhalt.)

Die Parteien sollten nicht das Überkomplexe reduzieren (das es nicht gibt), sondern ihre eigene Doppelmoral.

Dass man unter Frommen aus Gewissensgründen gegen Moral verstoßen darf, kann nur den verwundern, der noch immer nicht verstanden hat, dass christliche Moral antinomisch ist. Wie Gott über seinen Natur- und Moralgesetzen steht, so schweben seine gottähnlichen Gläubigen über allen Normen und Gesetzen der Menschen. Sündige tapfer, nur glaube, predigte Merkels Vorbild Luther.

Gewissensgründe, die moralische Taten negieren, können nur im Namen Gottes rechtfertigt werden. Nicht Taten entscheiden, sondern die im Glauben gegründete Gesinnung. Da die Gläubigen ihr Gewissen als höriges Instrument Gottes betrachten, steht Gottes Antinomie über jeder autonomen Moral des Menschen.

Wenn Gewissen nicht Stimme der Vernunft, sondern die des Gottes ist, degradiert sie den Menschen zur Marionette des Schöpfers. Merkels Gewissen ist ein feinfühliger Seismograph für den Willen ihres himmlischen Vaters. „Deine Gedanken sind höher als meine“, betet die Kanzlerin, „sprich, was ich tun soll.“

Merkels von Gehorsam triefender Samaritersatz: wir schaffen das, ist das genaue Gegenteil ihrer hartherzigen Idomeni-Verweigerung. Die europäische Grenze ist geschlossen, die inneren Grenzen können wieder geöffnet werden, um die Wirtschaft nicht weiter zu blockieren.

Der Strom der Flüchtlinge kommt fast zum Erliegen. Griechenland, der ärmste Staat der EU, hat die größte Last zu tragen. Ein türkischer Diktator kann – mit Hilfe der Flüchtlinge als Geiseln – seine eigene Bevölkerung nach Belieben kujonieren. Die absolute Not der Hilfesuchenden wird gegen die demokratische Not der türkischen Bevölkerung ausgespielt.

Wenn Merkels Barmherzigkeitsepoche richtig war, müsste ihre jetzige Totalverweigerung falsch sein. Doch es gibt kein absolut Richtiges oder Falsches in der neutestamentlichen Ethik. Richtiges und Falsches wie Kraut und Rüben durcheinander: das ist Merkels ethisches Potpourri.

Die normale Logik müsste sagen: wenn Merkels grenzenlose Barmherzigkeit richtig war, müsste ihr Ablasshandel falsch sein. Der Nomos der Frommen aber ist kein Entweder-Oder. Merkels schwankende und widersprüchliche Politik hat immer Recht. Vorausgesetzt, ihr gläubiges Gewissen gibt ihr Recht. Ist ihre Gesinnung fromm und hörig, kann sie nichts mehr falsch machen (non posse peccare). Rechte Gesinnung macht unfehlbar – die Taten mögen sein, wie sie wollen.

„Der ich das Licht bilde und die Finsternis schaffe, der ich Heil wirke und Unheil schaffe, ich bins, der Herr, der alles wirkt.“

Der Teufel ist nicht der Gegenspieler Gottes, sondern sein Knecht. Für Luther ist der liebende und offenbare Gott identisch mit dem verborgenen Teufel. Die Frage: warum ließ Gott das Böse zu, existierte noch nicht. Sie kam erst auf, als das Böse unvereinbar mit einem liebenden Gott geworden war.

„Geschieht ein Unglück in einer Stadt, und der Herr hätte es nicht gewirkt?“

„Kommt nicht vom Munde des Höchsten so Glück wie Unglück? Worüber soll klagen der Mensch, der da lebt? Ein jeder über seine Sünde.“

„Der Herr tötet und macht lebendig, er stößt in die Hölle und führt herauf. Der Herr macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht.“

Es gäbe keine Armen und Reichen, wenn der Herr es nicht so angeordnet hätte. Wenn Goldman & Sachs-Manager ihr menschenfeindliches Tun rechtfertigen, sie betrieben das Werk des Herrn, haben sie Recht. Es gäbe weder Oberklassen noch Abgehängte, wenn der Herr es nicht wollen würde. Wenn alles Geschehen auf Erden nicht möglich wäre ohne Willen des Herrn, müsste alles Tun dem Himmel konform sein.

Merkels wankelmütig scheinender, in Wirklichkeit konsequenter Glaubensgehorsam könnte sich auch auf Luther berufen:

„Gott kann nicht Gott sein, er muss zuerst Teufel werden.“

„Man kann die Welt nicht mit dem Evangelium regieren, denn das hieße, die wilden Tiere losbinden.“

Was ist christliche Politik? Eine, die nichts ausschließt und der alles möglich ist – wenn sie in rechter Gesinnung erfolgt. Es genügt, seinen eigenen Willen in mystischer Überidentifikation als göttlichen auszugeben, und schon befindet man sich auf der rechten Seite der Heilsgeschichte.

In der Bibel gibt es noch keine personenunabhängig, nur der Menschenvernunft verpflichtete Moral. In der männlichen Erlöserreligion ist Moral abhängig von „wahren“ und „falschen“ Personen. Wer den rechten Glauben hat, kann nie fehl gehen. Wer ihn nicht hat, kann nie moralisch sein.

In der Vernunftmoral ist die moralische Qualität des Einzelnen abhängig von seinen überprüfbaren Taten. Wie du handelst, so bist du.

In der Religion des Gottes, der alle Menschen auswählt und verwirft, ist es umgekehrt: wie und wer du bist, so handelst du. Gottgetriebene sind immer in der Wahrheit, vom Teufel Getrieben sind stets in der Lüge.

Merkel ist nicht an eine bestimmte Position gebunden. Als Erwählte steht sie über allen irdischen Normen. Das erklärt ihre erstaunliche Unaufgeregtheit und Distanziertheit mitten im größten Trubel. Sie ist nicht von dieser Welt.

„Denn ich habe gelernt, worin ich bin, mir genügen zu lassen. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides, satt sein und hungern, beides, übrighaben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“

Ist der Christ an keine klare Haltung gebunden, kann er tun als ob. Er kann die verschiedensten Rollen annehmen ohne sich zu widersprechen. Er spielt nur die Rollen. Sein Tun geschieht im Modus des heiligen Als-Ob:

„Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Weiter ist das die Meinung: Die da Weiber haben, daß sie seien, als hätten sie keine; und die da weinten, als weinten sie nicht und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die da kaufen, als besäßen sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, daß sie dieselbe nicht mißbrauchen. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“

Auch die einzelnen Direktiven innerhalb des Neuen Testaments sind alles andere als logisch kompatibel. Das Gebot der Nächstenliebe ist die Goldene Regel, die fast alle Kulturen kennen. Eigen- und Fremdinteresse müssen einander die Waage halten. Geht es mir gut, geht es auch den anderen gut – und umgekehrt. Diese Goldene Regel war auch das „wohlverstandene Eigeninteresse“ der Aufklärer. Bei Adam Smith sorgte der am besten für das Gemeinwohl, der am besten für sich sorgte – allerdings nur mit tätiger Nachhilfe der unsichtbaren Hand Gottes. Wie aber können sie den anderen lieben wie sich selbst, wenn sie sich selbst gar nicht lieben dürfen?

Die klerikalen Propagandisten prahlen gern mit der Uneigennützigkeit gläubigen Tuns. Das ist ein schlechter Scherz. Denn alles, was sie tun, tun sie, um selig zu werden. Christliches Tun und Lassen ist der größtmögliche Egoismus, den eine Ethik verordnen kann. Unterstützt man einen Hilfsbedürftigen, so tut man dies nicht um seinetwillen, sondern um des Herrn willen: Alles aber, was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mit getan.

Menschen sind unwichtig. Sie bleiben Mittel zum Zweck: Hilfsobjekte, die benutzt werden, um dem Herrn zu dienen – und selbst selig zu werden. Meine Liebestaten haben keinerlei Einfluss auf das Schicksal dessen, dem ich scheinbar helfe. In Wirklichkeit helfe ich nur mir, indem all mein Tun auf Jesus zielt.

Nun gibt es Stellen, die einen eigenschädigenden Altruismus vermuten lassen. Ein reicher Jüngling wollte selig werden und fragt den Herrn, was er tun soll. Jesus: tu, was die Gebote sagen. Jüngling: All dies mache ich bereits mein Leben lang. Das kann der Herr nicht auf sich sitzen lassen, dass ein Mensch vor Gott aus eigener Kraft gerecht sei. Er muss ihm seine Nichtswürdigkeit nachweisen, indem er die Anforderungen ins Obergrenzenlose ausdehnt:

„Und Jesus sah ihn an und liebte ihn und sprach zu ihm: Eines fehlt dir. Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, folge mir nach und nimm das Kreuz auf dich. Er aber ward unmutig über die Rede und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.“

Diese Forderung ist nicht uneigennützig. Wer das Unmögliche versucht, wird mit ewiger Seligkeit belohnt. Die Apostelgeschichte gilt als Erfinderin des Liebeskommunismus.

„Alle aber, die gläubig waren geworden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war. Und sie waren täglich und stets beieinander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in Häusern, nahmen die Speise und lobten Gott mit Freuden und einfältigem Herzen und hatten Gnade beim ganzen Volk.“

Was wäre, wenn diese Stellen tatsächlich den Liebeskommunismus predigten? Dann müssten Merkel & Fans den gegenwärtigen Neoliberalismus bis auf die Grundmauern abtragen.

Die Deutschen könnten alle Flüchtlinge der Welt mühelos aufnehmen, wenn sie das private Eigentum auflösten. Doch wäre eine konkurrierende Wirtschaft ohne private Besitzverhältnisse in der Lage, Millionen von Menschen zu ernähren?

Der neutestamentarische Schreiber hatte aber keine politischen Absichten mit seiner Geschichte. Er wollte keinen Kommunismus auf Erden etablieren. Die Urchristen warteten brünstig auf die Wiederkehr des Herrn und wollten gerüstet sein, wenn er an die Pforte klopfte. Deshalb befreiten sie sich von allem irdischen Ballast.

Der Text war inspiriert von Platons idealem Staat, der tatsächlich eine gerechte Gesellschaft auf Erden wollte. Für immer. Die Urchristen hingegen waren überzeugt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Merkel betreibt einen faustischen Pakt. Sie kooperiert mit einem „Bösen“, den sie mit Geld besticht, damit er jene Liebestaten durchführt, die Merkel und Europäer nicht mehr ausführen wollen.

Auf den ersten Blick wirkt sie Böses und lädt Schuld auf sich. Und nun geschieht das Wunder. Theologen sprechen von felix culpa, von glücklicher Schuld. Indem der Fromme Böses tut, vollbringt er das Werk des Herrn. Darüber mehr.

 

Fortsetzung folgt.