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Europäische Idee XXXII

Hello, Freunde der europäischen Idee XXXII,

Ingeborg Bachmann hat das gestrige Wahlergebnis voraus geahnt. Ihr Gedicht nannte sie „Reklame“, sie hätte es auch „ordinäre Politik“ benennen können:

Wohin aber gehen wir

ohne sorge sei ohne sorge

wenn es fremdenfeindlich wird

sei stresstolerant

aber

mit Mutter M.

was sollen wir tun

unpolitisch aber barmherzig

und uns wie Deutsche ängstigen

frömmelnd

angesichts des europäischen Endes

wie Vater Kretschmann

und wohin tragen wir

am zinsgünstigsten

unsre ökonomischen Gewissheiten aller Jahre

in die deutsche Wohlstandsträumerei, vernarrt in Risiko und Zukunft

was aber geschieht

am wirtschaftswachstumsförderlichsten

wenn die arabische Invasion

über uns kommt?  

Alles schrecklich, so die Kommentare – aber kein Grund zur Beunruhigung. Auf die deutsche Dialektik, ein ander Wort für faule Kompromisse, ist Verlass. „Nichts wird mehr sein, wie es war“, der Satz gilt als ultimative Kritik – obgleich die Hypermodernen sich täglich neu erfinden wollen. Müssten sie nicht

froh sein, dass kein Stein auf dem andern bleibt?

Alles schrecklich. Die arabische Invasion überrollt uns, sagte der Papst – doch Hauptsache, Mutter Merkel und Vater Kretschmann bleiben im Regiment und beten füreinander.

War die Wahl nicht ein Riesenerfolg? Die schreckliche vaterlose Epoche ist vorüber, wir haben wieder eine überzeugende Vaterfigur. Nach der Großen Koalition der Beter kommt demnächst die Ganz Große Koalition derer, die mit ihrem Gott im Reinen sind.

Auch die AfD hat hervorragende BeterInnen in ihren Reihen. Frauke Petry ist Ex-Pastorengattin, Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, ist die „wirksamste christlich-fundamentalistische Kraft“ in der AfD. Selbstredend ist sie Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, die den biblischen Erwählten-Darwinismus auf die Wirtschaft überträgt.

Die meisten AfD-Mitglieder sind geflohene Christdemokraten, allesamt bewährte Schafe des Herrn. Nicht zuletzt hassen sie Flüchtlinge, weil sie als Muslime wagen, die abendländischen Werte der Bergpredigt in Frage zu stellen. Das war schon immer der wichtigste Grund, die Türkei nicht in die EU einzulassen – sie ist zu harems- und hurigläubig! Selbst der linke Historiker Wehler mochte die Osmanen nicht leiden, weil sie nicht den rechten Glauben hatten.

Ein anderer Großhistoriker namens Winkler beschwört bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit die „gewaltenteilige“ Struktur der Frohen Botschaft, indem er ein einziges Sätzchen repetiert: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist. Mit dieser Leerformel erinnert die Heilige Schrift an die hündische Untertanenpflicht der Christen. Der Kaiser war Obrigkeit, Obrigkeiten ohne himmlische Absegnung aber kann es auf Erden nicht geben.

Der oft zitierte Satz: Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen, ist kein Widerspruch zum absoluten Gehorsam gegen den Kaiser. Denn durch den Kaiser spricht – Gott. Es gibt keinen Kaiser, der nicht von Gott wäre.

Wir sehen, die christogene Fremdenfeindlichkeit ist keine Erfindung gottloser Pegadisten. Sie gehört zum eisernen Bestandteil der Abendländer. Wie aber kommt es, dass Ossi-Atheisten – ohne es zu bemerken – dem Wessi-Gott gehorchen? Rätsel für Tiefdenker.

Nur nebenbei, der Satz ist ein verfälschtes Plagiat von Sokrates. „Ich werde dem Gott mehr gehorchen als euch“, mit diesen Worten, die Sokrates seinen Anklägern entgegen schleuderte, meinte der streitbare Demokrat keine Unterwerfung unter eine unfehlbare Offenbarung. Sein „Gott“ war die Vernunft des Menschen, die er im mäeutischen Disput auf dem Marktplatz überprüfte.

Es bleibt dabei: die „Ethik des Sokrates ruht auf den beiden Pfeilern der Autonomie und Autarkie.“ Sollte es eine Welt nach dem Tode geben, so der angeklagte Menschenfänger, werde er die Götter ebenso unter die Lupe nehmen wie seine Zeitgenossen in der Polis.

Alle Götter des sichtbaren und unsichtbaren Universums sollen in der Demokratie willkommen sein, wenn sie nachweisen können, dass sie keine wirtschaftlichen Motive haben, aus einem unsicheren Drittland kommen, wegen ihrer Gottheit verfolgt werden, einen gültigen Pass besitzen, die demokratische Leitkultur akzeptieren und – die Hölle als Bestrafungsort für alle Ungläubigen endgültig schließen. Sonst kommt die Polizei, die schnelle und ist sogleich zur Stelle.

Ist es nicht merkwürdig, dass körper-grapschende Maghrebinier den Zorn aufrechter Deutscher entfachen, seelen-grapschende Götter aber, die sich anmaßen, Menschen als rechtloses Eigentum bis in alle Ewigkeit zu traktieren, hierzulande angebetet werden?

Folgen wir den heutigen Kommentatoren, müssen wir der AfD zu tiefem Dank verpflichtet sein. Dank ihrer hervorragend gespielten Rolle als advocatus diaboli ist Leben in die Bude gekommen, die Zahl der Wähler hat sich erhöht, die schönen Talk-Showdamen haben viele Kandidaten an der Hand, die die Rolle frecher agents provocateurs spielen, um den Etablierten ins Wort zu fallen – was die Etablierten nie im Leben tun würden.

Beginnen wir mit einem schönen Philosophen aus Frankreich. (Alle französischen Philosophen sind schöner als die deutschen.) Bernard-Henry Lévy kennt die Gründe der westlichen Verrohung. Sie heißen Trump, Berlusconi, Putin, die Le Pens – deutsche Rohlinge sind ihm noch nicht aufgefallen. Das kommt davon, wenn selbst das deutsche Böse banal ist, wie Hannah Arendt enttäuscht zu Protokoll gab! Sie verwechselte lutherische Brandstiftermentalität mit der Maske von Biedermännern. Da kannte Max Frisch seine Nachbarn besser. (WELT.de)

Was ist die nützlichste Erfindung der Weltgeschichte? Die Erfindung des Bösen. Alle Guten können auf den Teufel in Menschengestalt zeigen und rufen: haltet den Dieb. Damit sind sie aus dem Schneider und können sich ihrer weißen Weste rühmen. Wer als Erster den Teufel erkennt, ist der Beste unter den Guten.

Viele Völker reinigen sich von ihren Sünden, indem sie ihr kollektives Böses auf Fremde projizieren. Die müssen nicht schuldig sein. Die besten Sündenböcke sind die schuldlosen. Kinder etwa oder Söhne Gottes, die ohne Erbsünde ins Leben gingen und alle Schuld der Welt auf ihre zarten Schultern luden.

Es müssen auch keine Menschen sein. Im Alten Testament werden schuldlose Tiere geopfert. Seitdem schlachten die westlichen Welteroberer alle Tiere, die ihren Weg kreuzen, damit sie schuldlos vor ihren himmlischen Richter treten können. Betrachtet man die unendliche Zahl der Tiere, die dran glauben mussten, muss die Zahl der Sünden grenzenlos sein.

Gott erfand das Böse, um von seinen eigenen Charakterschwächen und Unfähigkeiten abzulenken. Mit bestem Erfolg. Seitdem wird die Welt von seinen Knechten in ein winziges Areal der Guten und ein riesiges der Bösen gespalten. Es wäre trefflicher, hier von einem Teufelskult zu sprechen als von einem Gottesglauben.

Betrachtet man das Phänomen aus menschlicher Perspektive, ist das Böse der verleugnete Fehler-Ausstoß aller Guten, die so gut nicht sind, wie sie zu sein vorgeben. Es gibt kein Böses in metaphysischem Sinn. Es gibt nur akkumulierte Irrtümer und Fehleinschätzungen, die das Ausmaß des Schreckenerregenden im Verlauf sich ungeheuer überbietender Verschärfungen überschreiten können.

Das Böse ist nicht schrecklich, weil es teuflisch, sondern weil es menschlich ist. Nur die ungeliebte Moral wäre fähig, unsere Anlagen zum Bösen zu durchschauen. Verbleibt das Gute auf der Ebene fremdbestimmter Pflichten, ist jeder Pflichtbewusste in der Gefahr, seine persönlichen Anteile am Bösen zu verheimlichen und auf andere zu übertragen.

Nur wenn wir der Devise folgen: erkenne dich selbst im Spiegel deiner Taten und Gefühle, könnten wir der Produktion des Bösen entgehen. Das ist der Grund, warum fürsorgliche Fremdkritik und rückhaltlose Selbstkritik zur Erhaltung einer humanen Gesellschaft not-wendig sind.

Kein Zufall, dass Demokratie in der Stadt Athen entstanden ist, in der Sokrates seine Devise lebte: Ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert. Heute gibt es keine solidarische Fremdkritik, nicht mal unter befreundeten Staaten. Kritik ist Hass. Wer sich der Position befreundeter Staaten nicht unterwirft, muss Antiamerikaner oder Antisemit sein. Das gilt auch umgekehrt. Wer russische Politik versteht, ohne sie zu billigen, kann nur eine Marionette Putins sein.

Selbstkritik existiert in den meisten abendländischen Staaten nicht mal der Theorie nach. Es gibt Sünden im Namen göttlicher Gebote oder Vergebung der Sünden im Namen des Himmels, in beiden Fällen von Stellvertretern Gottes verkündet und exekutiert. Wer einem Erlöser-Teufelskult anhängt, kann alles Böse dem Teufel und alles Gute dem Erlöser zuschreiben. Eigenständige Persönlichkeiten in biblischen Nationen sind Mangelware. Die Qualität der Demokratien aber hängt ab von der Zahl eigenständiger Persönlichkeiten.

Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gesteh’n, zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.

Welche Persönlichkeit Goethe hatte, der Verfasser der Verse, zeigt seine Behandlung des Kreuzeszeichens. Das Gedicht „Süßes Kind, die Perlenreihen“, in dem er sich kritisch über das Kreuz geäußert hatte, strich er aus dem West-östlichen Divan – auf den Rat seines katholischen Freundes Boisseree. Safranski beschreibt die Duckmäuserei, ohne eine einzige Zeile daran zu verschwenden, das Denkmal des Dichterfürsten mit Kritik zu beschmutzen. Es ziemt sich nicht, deutsche Bildungshelden als Fürstenknechte zu behelligen.

Auch den hitzigen Jung-Denker Fichte ließ der Olympier im Stich, als jener wegen Atheismus angeklagt und verfolgt wurde. Das also ist unser aller Vorbild, dessen Persönlichkeit wir in der Schule gefälligst zu bewundern hatten. Im Allerheiligsten des deutschen Bildungspantheons waltet das Gute, welches das Böse auf andere schiebt und das wirklich Gute im Stich lässt.

Das kollektive Böse ist das gemeinsame Produkt der Gesellschaft. Jeder hat vor der eigenen Türe zu kehren. Nicht im Stil eines selbst erniedrigenden Bußaktes, sondern als selbstbewusster Erkenntnisakt. Die Aufforderung zur Selbstkritik darf – was Edelschreiber gern zu tun pflegen – nicht dazu benutzt werden, um notwendige Fremdkritik an den Regierenden zu unterbinden. Beide Elemente gehören zusammen wie Süd- und Nordpol, wenngleich die Sünden der Mächtigen weitreichender und verheerender sind als diejenigen machtloser Untertanen.

Trostlos, wie die etablierten Parteien mit der AfD umgingen. Unisono stürzten sie sich mit rhetorischen Schaumbildungen auf die Protestler aus der Mitte des christlichen Bauches. Was sie selber wollten, was sie voneinander unterschied, wurde unter den Teppich gekehrt. Viel Feind, viel Ehr: so machten sie, in inniger Konkordanz mit den Medien, die Partei zum Ereignis.

Only bad persons are good news. Das absurde Gesetz der Vermittler, die die Realität eins zu eins abbilden wollen, verzerrt die Realität zu einer immer dämonischeren Fratze. Wer die Wirklichkeit nur aus Medien kennt, sollte sich ins Messer stürzen.

Als die Gesellschaften noch stabil waren und das Gute sich von selbst verstand, war nachvollziehbar, dass die Jüngelchen mit den Bleistiften sich wichtig machen wollten. Vermutlich hatten sie die ehrliche Absicht, die Gesellschaft vor drohenden Gefahren zu warnen. Doch wer das Leben permanent als passiver Beobachter betrachtet, muss seine Minderwertigkeit durch hinausposaunte Dauerskandale aufzubessern suchen. Wer sich nicht gemein machen will mit dem Guten, macht sich gemein mit dem – Gemeinen. Ein Drittes gibt es selten.

Wie konnte es zur Bildung einer neuen Partei kommen, die das Leben der Nation derart in Wallung bringt? Die Parteien haben, so Sebastian Fischer im SPIEGEL, ihr kämpferisches Profil verloren:

„Die demokratischen Kräfte müssen wieder unterscheidbarer werden. Demokratie lebt ja nicht nur vom guten, pragmatischen, kompromissbereiten Regieren. Sondern doch auch vom Wettbewerb der Angebote, von politischen Erzählungen und Träumen, von harten Debatten. Es muss einen spürbaren Unterschied machen. Schleunigst benötigt die SPD wieder ein eigenes Profil, das sie in der Großen Koalition nicht gewinnen kann. Insgesamt 15 Jahre in der Bundesregierung seit 1998, davon sieben Jahre Große Koalition – die Partei hat sich verschlissen im ständigen Kompromisseschmieden. Es braucht wieder mehr klare Kante. Wofür steht die SPD eigentlich? Was ist ihre Botschaft? Da muss mehr kommen als der Mindestlohn. Viel mehr. Um den Rechtspopulisten zu begegnen, braucht Deutschlands Demokratie letztlich wieder mehr – ja: Lagerdenken. Wieder mehr Union gegen SPD, mehr links gegen rechts, vielleicht auch eine Bürgerkoalition Schwarz/Grün oder Grün/Schwarz gegen eine neue progressive Linke um die SPD. Das würde ohne Frage mehr Leidenschaft in die deutsche Politik bringen.“

Haben die Medien jahrzehntelang nicht gegen alles Rechthaben gekämpft? Haben sie nicht Kompromisslerei und standpunktlose Profillosigkeit gepredigt? Beteuerten sie nicht, es gäbe keine „ideologischen“ Positionen mehr, von links und rechts könne man nicht mehr reden? War nicht jeder klare Satz, der nicht von „vielleicht, ein bisschen, möglicherweise“ überschwemmt wurde, bereits ein intoleranter, ja totalitärer? Übertrafen sie sich nicht alle in hemmungslosem Pragmatismus, der technischen Religion des Erfolgs?

Es gibt auch einen Pragmatismus der nüchternen Umsetzung einer Idee in konkrete Politik. Dieser Pragmatismus ist hierzulande unbekannt. Gedanken waren nur dazu da, dass sie über Bord geworfen wurden. Das dogmatische Ziel aller Parteien war die Machtteilhabe. Wer Kompromisse ablehnte, war ein Träumer oder Fundi. Für harte und geschmeidige Verhandlungen war er nicht geeignet.

Das grundlegende Problem des Kompromissebildens übergeht der SPIEGEL-Artikel. Auf den ersten Blick schließen sich Gesinnungstreue und kompromissfähige Wendigkeit aus. Wer sein Profil im Kampf der Meinungen bis zur Unkenntlichkeit abschleifen lässt, läuft Gefahr, sein ursprüngliches Programm nicht mehr wiederzuerkennen.

Hier hülfe nur, während der Regierungszeit zwar den versprochenen Kompromiss in die Tat umzusetzen – aber dennoch immer wieder darauf hinzuweisen, dass die bessere Lösung noch der Realisierung harrt. Die WählerInnen müssen jederzeit in die Lage versetzt werden, notwendige Kompromisse von „idealen“ Nichtkompromissen zu unterscheiden. Gelangen sie zur Einsicht, dass Kompromisse à la longue nichts taugen, müssen sie bei der nächsten Wahl das Ideal und nicht mehr den Kompromiss wählen.

Das aber würde bedeuten: alle Macht den langfristigen Idealen – oder der konkreten Utopie. Die Parteien haben es sträflich versäumt, ihre Utopien so zu entwickeln, dass die Wähler überhaupt beurteilen können, ob die getätigten Kompromisse faule oder sinnvolle sind.

Seit der Niederlage der sozialen Marktwirtschaft gegen den „deregulierten Wahnsinn“ befinden sich die deutschen Parteien auf dem abschüssigen Weg in den national-egoistischen Kompromiss. Die SPD ist nicht mehr links, stopp, sie hat den Gedanken der Gerechtigkeit verraten. Links und rechts sind Idiotenbegriffe. Die CDU wusste noch nie, was sie wollte, außer – ihre Macht zu erhalten. Das christliche Dogma benutzte sie als prahlerischen Moralüberschuss, den sie im täglichen Politeinerlei systematisch verleugnete: ein antinomischer Immoralismus verwandelt sich in eine Politik abenteuerlicher Willkür. Du sollst nicht töten – wie verhält sich das Gebot zu Krieg und Kriegseinsatz? Bedenken naiver Gemeindemitglieder pflegte Schäuble mit einer Handbewegung wegzuwischen. Ohnehin ist die christliche Lehre keine Moral klar definierbarer Taten, sondern eine Symbiose widersprüchlicher Devisen, die man nach Belieben predigen – oder dementieren darf.

Die FDP verlor vor lauter Hayek-Verehrung ihr linksliberales Profil, wie Baum & Hirsch es einst in Freiburg entwarfen. Die Linke weiß noch immer nicht, was sie von Marx unterscheidet. Die moralische Autonomiefeindschaft des gewaltigen Revolutionärs, der alles Tun einer automatischen Heilsgeschichte unterwarf, war für die gesamte Linke ein Verhängnis. Der Mensch macht seine Geschichte selber? Da lachen alle Leninisten.

In einem TV-Gespräch behauptete Axel Honneth, der schüchterne Nachfolger Adornos, die totalitären Verheerungen des Sozialismus gründeten nicht in den Anfängen des Marxismus. Das Gegenteil ist der Fall. Marx blieb sein Leben lang ein treuer, wenn auch auf den Kopf gestellter Hegelianer. Der Objektive Weltgeist, bei Hegel der lutherische Gott, bei Marx die materiellen Verhältnisse, blieben das Gesetz der Entwicklung, dem die Menschen sich unterwerfen mussten. Der junge Marx war noch ein Propagandist der Liebe. Der Ökonom Marx wollte von Liebe und Moral nichts mehr wissen. Was war geschehen? Keine Antwort von dem führenden Sozialisten. Poppers Kritik an Marx scheint Honneth nicht mal zu kennen.

Auch die feministische Frage wurde im Sozialismus durch naturfeindliche Arbeit in eine Sackgasse geführt. Engels und Bebel schrieben große Bücher über die Emanzipation der Frau. Was verstanden sie darunter? Dasselbe wie heutige Neoliberale: die doppelte Belastung der Frau zu Hause und im Betrieb. Das Weibliche und Mütterliche wurde zum Rückständigen und Reaktionären, wenn die Frau nicht zur Assistentin des Mannes im Kampf gegen die Natur werden wollte.

Von all diesen Widersprüchen und Denkverboten hört man bei den Linken nichts. Ihre sterilen Botschaften reduzieren sich auf ein Mantra aus Mindestlohn und höherer Rente. Die Grünen endlich hatten von Anfang an keine überzeugende Naturphilosophie als Leitlinie ihrer konkreten Ökopolitik. Ersatzweise begaben sie sich in die babylonische Gefangenschaft frommer Schöpfungsbewahrer, die bis heute nicht wahrhaben wollen, dass der Schöpfer seine teuflische Natur vollständig vernichten wird.

Alle Parteien durchmischten sich zu einer ununterscheidbaren Melange aus dominanter Ökonomie und verdrängten Gerechtigkeitsforderungen. Das weltpolitische Ziel des Friedens aller Völker durch gleichberechtigte Wirtschaft und humane Lebensbedingungen für alle: darüber höhnen sie nur.

Merkel betreibt keine Politik, sondern Verwaltung des globalen Elends unter der Dominanz deutscher Wohlstandsbedingungen. Ihre wetterwendische Art ist situativer Glaubensgehorsam. Was Gott ihr vor die Füße wirft, ernennt sie zum heutigen Kern ihrer Politik – bis übermorgen, wo der Herr ihr eine neue Aufgabe ins Ohr flüstert. Ihre Füße reichten bis an die ungarische Grenze, weshalb sie zur heroischen Barmherzigkeit aufrief. Die Füße reichen nicht mehr bis nach Idomeni, wo die Flüchtlinge im Schlamm versinken.

Aus Protest gegen die europäische Flüchtlingspolitik übernachtete der alte Herz-Jesu-Marxist Blüm in einem Zelt an der griechischen Grenze. Kritik an seiner frommen Parteischwester war nicht zu hören.

Die gestrigen Wahlen hätte Merkel verlieren müssen. Doch längst ist sie unbesiegbar und unersetzbar geworden. Durch den symbiotischen Politbrei aller Parteien hat sie treue Unterstützer in allen Lagern gewonnen. Wie Kaiser Willem kann sie sagen: ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Gefolgsleute.

Was sie alternativlos auszeichnet: für die Deutschen ist sie keine nervöse Aktivistin, sondern ein religiöses Palliativ. Die Deutschen benötigen eine segnende und Ruhe ausstrahlende Mutter, die Mutter braucht die Deutschen nicht. Diesen Eindruck erweckt sie durch Sätze, die nach Erpressung klingen: … dann ist das nicht mein Land.

Die Pastorentochter aus dem Osten hat es fertig gebracht, Kapitalismus und christlichen Sozialismus mit spirituellen Honeckermethoden zu einer Merkel-Theokratie zu synthetisieren. Sie wird es noch schaffen, die heidnische Demokratie in die Knie zu zwingen und den irdischen Staat zur paulinischen Obrigkeit zu verklären.

Was Merkel in mütterlichem Herzensbrei, ist Kretschmann in väterlicher Jovialität. Der grüne Landesvater plagiiert sein Berliner Vorbild aufs I-Tüpfelchen. Prantls Kommentar ist eine überschwängliche Huldigung an eine Persönlichkeit mit Ausstrahlungskraft:

„Der Drei-Wahlen-Sonntag zeigt aber auch, wie man den Gefahren begegnet: mit entschlossener Gelassenheit, wie sie das Kennzeichen Winfried Kretschmanns ist. Sein fantastischer Erfolg in Baden-Württemberg lehrt, wie wichtig die Glaubwürdigkeit und Integrität von Spitzenkandidaten heute sind. Die Strahlkraft einer so populären Persönlichkeit kann größer sein als die Anziehungskraft einer noch so populistischen Partei.“

In Prantls Kommentar ist kein einziger analytischer Satz zu finden. Stattdessen eine blinde Verehrung charismatischer Persönlichkeiten. Charisma ist eine Gnadengabe Gottes. Wie Obama den Eindruck eines himmlischen Boten erweckte, so suggeriert Prantl, ein wahrer Demokrat müsse ein christlicher Herold sein. Dass Kretschmann ein undefinierbares, in allen Farben schillerndes Polit-Potpourri auf zwei Beinen ist, allen wohl und niemand weh, scheint den SZ-Kommentator kalt zu lassen.

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, das war das Motto eines theatralischen Illusionisten. Für Merkel, Kretschmann & Co gilt, was Goethe über den Quark sagte: getretener Quark wird breit, nicht stark. Prantl betet den puren Erfolg christlicher Opportunisten an. Max Webers charismatische Führerfigur ist zur Leitfigur eines frommen Demokraten geworden. Nicht der rationale Politiker mit Argumenten ist sein Vorbild, sondern der profillose Knecht, die wendige Magd Gottes, die alles tun, was der Himmel ihnen von Augenblick zu Augenblick aufträgt:

„Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken.“

Wie konnte es geschehen, dass eine völkische Partei wie die AfD derart erfolgreich wurde? Wie konnte es nicht geschehen?

Die Partei entlarvt, was die Gesellschaft seit Jahrzehnten vor sich selbst verbirgt. Die AfD ist die unvermeidliche Wiederkehr des Verdrängten. Seit dem Tode Willy Brandts haben die Deutschen sich kosmopolitisch und friedenstiftend nicht mehr weiterentwickelt. Also mussten sie in den Sumpf ihrer nationalen Überheblichkeit zurückfallen.

Der Selbstverrat dringt den Deutschen aus allen Poren. Das könnte auch eine Chance sein.

 

Fortsetzung folgt.