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Europäische Idee XXVIII

Hello, Freunde der europäischen Idee XXVIII,

Das Phänomen Trump sezieren, heißt, das Abendland in seine Bestandteile zerlegen – Amerika als Neues Kanaan hat Europa zur Kenntlichkeit entlarvt.

Sie schildern den Nachkommen kerniger Pfälzer als ein in allen Farben schillerndes Regenbogen-Phänomen. Von Tag zu Tag wechselnde Aussagen, Widersprüche, Tabuverletzungen, rotzige Aggressionen, dreiste Zynismen, Schwanz-Zoten (wer hat den Längsten), isolationistische Machtphantasien, der amerikanische Traum, rundum verpackt in Mammon und Waffen, Fremdenfeindlichkeit, calvinistische Verklärungen des eigenen Reichtums: alles, was das Herz begehrt, um den eigenen Ruhm aller Welt zu verkünden. Seine Kernbotschaft: Ich brauche nur Mich – und genügend Amerikaner, die an Mich glauben. Der Rest der Welt soll zur Hölle fahren.

George Clooney hält ihn gar für einen Faschisten. Doch kein Grund zur Beunruhigung. Der amerikanische Weg mündet für alle im Himmelreich. Clooney über den Immobilienmakler:

„Er ist halt ein Opportunist. Gerade ist er Faschist, fremdenfeindlicher Faschist.“ Aber Clooney hält auch Trost parat – einen Spruch, der Churchill zugeschrieben wird: „Du kannst darauf zählen, dass die Amerikaner das Richtige tun, nachdem sie alle anderen Optionen ausprobiert haben.“ (SPIEGEL.de)

Mögen Amerikaner auch irren, am Ende werden alle klug, weise – und erfolgreich. Im Wilden Westen wurden die ungebärdigsten Mustangs zur Raison gebracht.

„Auf diese Weise entstand die weit verbreitete Vorstellung von Amerika als einem idylli-schen, unschuldigen und pastoralen Land, welche in starkem Kontrast zum dekadenten und verstädterten Europa stand. Die religiöse Tradition sah Amerika als ein neues Kanaan, in welchem Gottes auserwähltes Volk ein zweites Jerusalem errichten werde. Grundlage des Puritanismus ist die Vorstellung, die Heilige Schrift enthalte eine verbindliche gesellschaftliche Ordnung für das

Zusammenleben von Menschen. Aus diesem Grund lehnten die Puritaner alle Formen der Religionsausübung ab, die sie nicht durch die Bibel begründet fanden[, und forderten eine Rückkehr zum reinen Glauben.“ (grin.com)

Ist Trump ein typischer Amerikaner? Zum Teil. Er ist ein neocalvinistischer Machtmensch minus Demokratie. Von Anfang an kämpften zwei Gesichter um die Vorherrschaft im neuen Kontinent: aufgeklärte Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schlossen einen brüchigen, ewig wankenden Kompromiss mit biblischen Heilsweg-Phantasien.

„Die soziopolitische Version des amerikanischen Traums sah in Amerika die Möglichkeit, ein freies, demokratisches Land zu errichten, und die tyrannischen und despotischen Verhältnisse der alten Welt durch Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu ersetzen. Basierend auf der angelsächsischen Rechtstradition und dem Gedankengut der Aufklärung des 16. Jahrhunderts, fand diese Vorstellung ihren Höhepunkt in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776.“

Solange Wohlstand und Macht das riesige Land befriedeten, herrschte Demokratie; kamen Turbulenzen über Gottes Kontinent, wurde Demokratie zur hohlen Fassade degradiert. In einer solchen Phase befinden wir uns.

Wider CDU, Merkel und Böckenförde: Demokratie, Freiheit und Gleichheit sind griechische Produkte, völlig unbekannt der Bibel, die allen selbstherrlichen irdischen Regimes das Ende prophezeit. Gott ist alles in allem. Er erwählt, wen er will und verwirft, wen er will. „Oh Mensch, jawohl, wer bist du, dass du mit Gott rechten willst?“

Die englische Oberschicht, die die amerikanische Verfassung prägte, war in hohem Maße von altgriechischem Geist erfüllt – wenngleich mit christogenen Eierschalen wie etwa bei Locke. Andererseits waren die zahlreichen englischen Sekten von autonomen Vernunftgedanken durchzogen. „Das Epochenmachende der Sozinianer liegt in der hellen, scharfen und klaren Durchführung des Prinzips, dass das neue protestantische Christentum sich vor der humanistischen, erasmischen und moralischen Vernunft des großen Jahrhunderts rechtfertigen müsse.“ (W. Dilthey, Ges. Schriften III)

Noch ist die amerikanische Demokratie stark genug, um die verfassungsfeindlichen Elemente der Biblizisten und Creationisten immer wieder zurückzudrängen. Trump wird sich der legalen Fassade der Volksherrschaft bedienen müssen.

Der Hass der Frommen gegen Washington ist kein bloßer Hass gegen den dominanten Staat, sondern Hass gegen ein heidnisches Gebilde, in dessen Mittelpunkt die Würde des Menschen steht. Gleichwohl tritt Trump auf, als sei er die hässliche Ausgabe Obamas, der bereits den Messias spielte, wenn auch die sympathische Ausgabe desselben.

Yes, we can – Vorbild des Merkel‘schen „Wir schaffen das“ – ist ein Heilsversprechen. Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen. Jeder Kandidat, der gewählt werden will, muss ein Minimum an auratischer Strahlkraft um sein Haupt nachweisen, wenn er seine Chancen wahren will. Jeder amtierende Politiker muss damit rechnen, dass der Messias in seiner Regierungsperiode auf Erden erscheinen könnte. Wird er charismatisch genug sein, dem Herrn die Pforte zu öffnen, sich überflüssig zu machen und sein Land der Gnade des Erlösers zu übergeben?

Merkels lutherischer status confessionis lehnt sich an den amerikanischen Heilsweg an. Luther war das Gegenteil eines Demokraten. Er predigte – wider die aufrührerischen Bauern – einen totalitären Obrigkeitsstaat.

Selbst die deutsche Aufklärung, gar nicht zu reden von den graecomanen Weimaranern über die Romantiker, Nietzscheaner bis zum finalen Verhängnis, waren keine Anhänger der Demokratie, sondern der altgriechischen Mythen und Kunst. Für Sokrates und die Aufklärung hatten sie nichts übrig. (Im Gegensatz zu den jüdischen Aufklärern.)

Als der englische Historiker George Grote eine mehrbändige griechische Geschichte schrieb mit den sokratischen Schulen als Mittelpunkt der athenischen Demokratie, wurde er von seinen deutschen Kollegen als skurril betrachtet. Noch heute wird Sokrates von deutschen Althistorikern entweder ignoriert oder als Gegner der Demokratie diskriminiert.

Popper erst sorgte – im fernen Neuseeländer Exil, mit vielen Verweisen auf Grote – für die Ehrenrettung des Seelenfängers. Platon erst fand sich genötigt, die Menschen mit einer faschistischen Utopie zwangszubeglücken. Platon war jahrhundertelang das Nonplusultra deutscher Philosophen und Gelehrten.

Die Herrschaft der Weisen über den ungewaschenen Pöbel ist noch immer der geheime Traum hiesiger Intellektueller, mediale Edelschreiber nicht ausgeschlossen. Poppers penible Unterscheidung zwischen Lehrer und Schüler kam in Deutschland nie an.

Inzwischen ist Trump nicht nur zum Ärgernis der Linken, sondern auch der Milliardäre geworden. Die TAZ fand in seinen Wahlkampfparolen gar linke Parolen:

„Auch seine Vorschläge zur Wirtschafts- und Sozialpolitik sind nicht von jenem neoliberalen Furor begleitet, der die Republikaner sonst auszeichnet. Insofern Trump sich zu Inhalten äußert, steht er für eine höhere Besteuerung großer Einkommen und für die Verteidigung bestehender Sozialprogramme. Für das republikanische Establishment ist er, als Sinnbild eines gigantomanischen Turbo- und Spekulationskapitalismus, eigentlich ein veritabler Linker.“ (TAZ.de)

Der Verfasser des Artikels huldigt noch immer der Ansicht, christliche Werte vertrügen sich nicht mit Großkotzigkeit und ungezügelter Machtattitüde: „Zum Verteidiger christlicher Moralvorstellungen taugt er schon aus biografischen Gründen nicht.“

Im Gegensatz zur deutschen ecclesia patiens ist der amerikanische Glaube eine sichtbare ecclesia militans und triumphans. Diese Unterscheidung ist deutschen Christen völlig unbekannt. Auch den evangelischen Theologen Richard Rothe, eine „wichtige Person des liberalen Protestantismus“, haben sie völlig verdrängt. Dessen Position war eine Vorausnahme der nationalsozialistischen Eschatologie. Die Kirche sollte sich in einen christlichen Staat verwandeln, der eine „absolute Theokratie“ bilden sollte, aus der das vollendete Reich Gottes hervorginge. Im Geiste des romantischen Theologen Schleiermacher fühle Rothes Glaubenslehre sich an kein Dogma mehr gebunden. Kirche und Staat sollten zu einem absoluten Machtgebilde verschmelzen. Das Dritte Reich war die Erfüllung dieser romantisch-wilhelminischen Paradiesvision. (Wiki)

Merkel demonstriert die Demut einer Magd Gottes, um als Letzte Erste zu werden: Gott ist in den Schwachen mächtig – so ihre paradoxe Devise, unter dem Schein des Gegenteils an der Allmacht ihres himmlischen Vaters zu partizipieren. Das paradoxe Mittel des Leidens, um das triumphierende Ziel zu erreichen – der Zurückgebliebenheit und Ärmlichkeit der deutschen Geschichte geschuldet – hatten die Amerikaner nicht mehr nötig. Von Anfang an überkam sie das sichere Gefühl, im neuen Kontinent das Dritte Reich Joachim die Fiores oder das Paradies auf Erden erreicht zu haben. Im Neuen Kanaan gibt’s keine strategische Duckmäuserei. Das Kreuz ist überwunden, Tod und Teufel sind besiegt, das Goldene Jerusalem II liegt mit allen Reichtümern der Welt den Frommen zu Füßen. Vorhang zu und keine Fragen offen.

In Europa kämpfen zwei Mächte seit 2000 Jahren gegeneinander. Sei es in offener Feldschlacht, sei es in dialektischen Kompromissen, die so tun, als seien die Gegensätze nach langen Streitigkeiten überbrückbar. Sind sie nicht. Die Kirchen, solange sie geschwächt sind, geben sich anpassungsbereit und übernehmen jeden Zeitgeist als neue Deutung ihrer beliebig wandelbaren Botschaft. Kommen Nöte übers Land und die Menschen suchen seelische Stärkung bei den Priestern, fühlen sie sich wieder stark genug, um ihre alten Machtpositionen aus dem Keller zu holen und den Menschen mit Endgericht und Verdammung zu drohen.

Kurz vor seinem Rücktritt erinnerte der evangelische Bischof Schneider an das Jüngste Gericht. Die Hölle wurde die ganze Zeit verleugnet, inzwischen wird sie wieder salonfähig. Das Christentum kennt keine eindeutige Moral. Alles ist Gläubigen erlaubt, wenn sie die rechte Gesinnung vorweisen, alles den Ungläubigen verboten, wenn sie nicht im Stande der Erleuchtung sind (Antinomie).

Trump spielt die Figur eines antinomischen Christen, der alles darf, weil er ein rechter christlicher Amerikaner ist. Er verstößt gegen alle Normen, weil er keine Normen kennt – mit Ausnahme einer dünnen Schicht vernünftiger Demokratieregeln, die er aber kraft seines Glaubens unterlaufen darf.

Die Aufklärung hatte es geschafft, das christliche Abendland so weit zu zähmen, dass die Völker einen demokratischen Firnis über ihren Glauben zogen, um diesem den Schein klarer Normen zu verleihen. Kommt Not übers Land und die Kirchen erstarken, wird der Firnis abgetragen. Hinter der Fassade menschenrechtlicher Humanität erscheinen die alten Gespenster der theokratischen Willkür. Alle Über-Ich-Normen der Vernunft werden geschleift, das fromme Es emittiert seine bis dahin leidlich gebändigten Furcht- und Schreckengespenster.

Trump verletze alle Tabus der westlichen Moderne, hieß es. Welches Tabu? Das Tabu der christlichen Moral, die keine ist. Was ist sie? Ein Koffer beliebiger Instrumente zur bedenkenlosen Erringung der Macht. Einmal in Leiden, Demut und Unterwürfigkeit – sofern die Macht nicht in christlichen Händen liegt –, ein ander Mal in hemmungsloser Amoral. Nietzsches Immoralismus ist nicht, wie der Pastorensohn dachte, eine Umwertung aller christlichen Werte, sondern die Erfüllung der christlichen Amoral.

Warum ist Trump so erfolgreich? Weil er den Gläubigen das Gefühl vermittelt, die Zeit ihrer erzwungenen Demokratie-Unterwerfung sei vorüber. Endlich dürfen sie der Welt zeigen, wo der fromme John den Most holt. Endlich können sie die ungeliebten Masken der heidnischen Demokratie abwerfen und der Welt zeigen, was sie wirklich von ihr halten: nichts. Die Überwinder der sündigen Welt fühlen sich schon hienieden im Reiche Gottes.

Die griechische Moral besteht aus zwei Teilen, dem Naturrecht der Starken und dem Naturrecht der Schwachen, aus dessen Geist die Demokratie erwuchs. Die Macht der Starken, Reichen, Vornehmen und Wenigen wurde eingeschränkt zugunsten der Macht des Volkes, das sich in der Vollversammlung der Gleichen beriet und über das Schicksal der Polis entschied.

Die homerische Religion war eine Moral der Vornehmen und Starken mit Hilfe eines Glaubens an die Götter, die alles durften und denen nichts verboten war. Die Aufklärung der Griechen begann mit der Kritik am Immoralismus der Götterburlesken. Das Ergebnis der Götterkritik war die Existenz zweier Moralsysteme: der Moral der Starken, die sich nichts verbieten lassen wollten und dem Nomos der Gleichen und Freien.

Der Antinomie der Götter – eine Parallele zur biblischen Antinomie – stellte sich der Nomos der Vernunft entgegen. Nicht das Vorbild der Götter, nicht die Macht der Reichen entschieden über Moral, sondern die allgemeine Vernunft der Menschen, die im dialogischen Streit sich ihre Wahrheit suchten.

Was sich widerspricht, kann weder wahr noch moralisch sein. Die neue Kompetenz der Logik und der politischen Erfahrung des Volkes unterschied präzise zwischen amoralischem und moralischem Verhalten.

In den Uranfängen des Mythos hatten die Griechen denselben Amoralismus wie die Verfasser der Bibel. Die Allmacht der Götter duldete keine Fessel. Erst, als die Griechen daran gingen, den antinomischen Mythos im Namen der Vernunft zu kritisieren, das Willkür-Getue der Götter zu entlarven, trennten sich die Wege.

Die Propheten in Israel spürten auch die Doppelbödigkeit der göttlich verordneten Moral. Doch anstatt Gott zu kritisieren, sprachen sie die Gläubigen schuldig. In Hiob wurde alle direkte Kritik an Jahwe für immer unterbunden. Nicht Gott war zwiespältig und beliebig, sondern die Kinder Israels. Gott wurde nicht dekonstruiert. Im Gegenteil, er wurde befördert. Ein begrenzter Stammesgott expandierte zum Herrn über alle Völker.

Während in Jonien, danach in Athen, die Zeit der Toleranz und Religionskritik begann, verschärfte sich das unduldsame Klima in Israel zu einem Gottesglauben, der keine anderen Götter neben sich duldete. Auch der innerjüdische Reformator namens Jesus wagte keine Kritik an Gott, den er Vater nannte. Stattdessen verfluchte er die Pharisäer und Schriftgelehrten als Heuchler in die Hölle. Erneut waren die Menschen schuldig, der allmächtige Gott wusch seine Hände in Unschuld.

Hie die philosophischen Aufklärer in Griechenland, die in mühsamen Auseinandersetzungen sich zur Moral der Menschenrechte durchkämpften. Dort die noch immer intakte Moral der Starken, die sich damit brüsteten, die Schwachen zu verachten und mit allen Mitteln zu diskriminieren.

Einer von ihnen war Menon aus Thessalien, derselbe, dem Platon einen Dialog widmete. Er trachtete nach Ehre und Herrschaft, noch mehr nach Geld zur Befriedigung seiner Begierden. In der Wahl seiner Mittel war er skrupellos. Geradheit und Wahrhaftigkeit waren ihm gleichbedeutend mit Torheit. Lüge, Täuschung und Meineid galten ihm als der kürzeste Weg zur Erreichung seiner Zwecke. Wer an der Moral festhielt, war in seinen Augen ein Schwächling und Dummkopf. (Heute spräche man von Träumern, Weicheiern und Gutmenschen.) Gorgias, der Lehrer Menons, hatte das Machtstreben der Starken als legitim anerkannt. Daraus zog Menon die äußersten Konsequenzen und huldigte einem Immoralismus, der alle sittlichen Schranken niederriss.

Gegen die neuen Gesetze der Demokratie beriefen sich die Machtmenschen auf das Recht der egoistischen Natur. Der Natur nach sei Unrechtleiden schimpflich und schlecht, doch dem Gesetz nach war Unrechttun das Verwerfliche. Unrechtleiden sei eines rechten Mannes nicht würdig, es charakterisiere einen Sklaven, für den der Tod besser wäre als das Leben. Nur schwache Menschen hätten den Ehrgeiz, Gesetze zu erfinden, die die Starken schwächen und die Zukurzgekommenen stärken.

Als im ausgehenden Mittelalter griechisches Denken in Europa eine Wiedergeburt erlebte, warfen die Kraftnaturen der Renaissance die Vorschriften des Klerus beiseite und beriefen sich auf den Immoralismus des griechischen Naturrechts der Starken. Machiavelli wurde zum bewunderten Vordenker der neu entdeckten Antinomie.

Die vor Kraft und Begabung strotzenden Conquistadoren, Fürsten und Universalmenschen hätten sich mit gleicher Berechtigung auf die verleugnete Antinomie des Christentums berufen können. Doch es schien ihnen einfacher, sich auf heidnische Gewährsleute zu berufen als sich ständig mit bigotten Priestern herumzuschlagen. Ohnehin war der Geist anarchischer Zügellosigkeit auch im hohen Klerus die Normalität.

In seinem Buch „Die Kultur der Renaissance“ schilderte Jakob Burckhardt anschaulich das Klima der Enthemmung – ein ähnlicher Vorgang wie der gegenwärtige Verfall der demokratischen Kultur:

„Mit Ausgang des XIII. Jahrhunderts aber beginnt Italien plötzlich von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen; schrankenlos specialisiren sich tausend einzelne Gesichter. Dante’s große Dichtung wäre in jedem andern Lande schon deßhalb unmöglich gewesen, weil das übrige Europa noch unter jenem Banne der Race lag; für Italien ist der hehre Dichter schon durch die Fülle des Individuellen der nationalste Herold seiner Zeit geworden. Doch die Darstellung des Menschenreichthums in Literatur und Kunst, die vielartig schildernde Characteristik wird in besondern Abschnitten zu besprechen sein; hier handelt es sich nur um die psychologische Thatsache selbst. Mit voller Ganzheit und Entschiedenheit tritt sie in die Geschichte ein; Italien weiß im XIV. Jahrhundert wenig von falscher Bescheidenheit und von Heuchelei überhaupt; kein Mensch scheut sich davor, aufzufallen, anders zu sein und zu scheinen 1) als die andern.“

Auch Trump kennt keine Bescheidenheit und verabscheut alle Heuchelei aus falschem Respekt vor Gesetzen und demokratischer Korrektheit. In der deutschen Romantik waren ähnliche Prozesse der Auflösung zu bemerken. Je katholischer die Dichter und Denker wurden, je zynischer und ironischer wurden sie. Hegel hasste die romantische Ironie – die das Gegenteil der sokratischen ist. In der sokratischen Ironie zeige sich „das Große, das darauf geführt wird, die abstrakten Vorstellungen konkret zu machen“. Die romantische Ironie hingegen würde alles, was sich als „schön, edel anlässt“, sich hinterher selbst zerstören und aufs Gegenteil ausgehen.

Der aus Wien stammende Naturwissenschaftler Paul Feyerabend war ursprünglich ein Anhänger der Popper‘schen Vernunftphilosophie. Dessen Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ hatte er ins Deutsche übertragen. Allmählich aber entwickelte er sich zum entschiedensten Gegner Poppers. Das Reden von der Wahrheit und Vernunft begann er, als Tyrannei von Rechthabern zu empfinden. Wie die französische Postmoderne plädierte er für viele Wahrheiten. Die Wissenschaft habe zu Unrecht den Ruf einer exemplarischen Wahrheitssuche. Anything goes: wahr ist, was gefällt und nützt. Quacksalbereien, Mythen und Magie seien genau so viel wert wie autoritäre Wissenschaften, die sich theologischer gäben als die Theologie, die sie kritisierten. „Ich sage, dass es selbst innerhalb der Wissenschaften keine umfassende Rationalität gibt. Das Scherzen, die Unterhaltung, die Illusion, nicht die Wahrheit macht uns frei.“ (Erkenntnis für freie Menschen)

Der Beliebigkeit im Wissenschaftlichen entsprach die Beliebigkeit im Moralischen. Eindeutige, für alle Menschen verbindliche Gesetze könne es nicht geben. Der freie Mensch müsse sich von allen Normen verabschieden, die seinen Launen und Einfällen nicht entsprächen. Wie der neoliberale Hayek die letzten moralischen Reste aus der Ökonomie strich, entfernte sein Landsmann Feyerabend die letzten gemeinsamen Normen aus dem System der westlichen Moral.

Nach einem Dreivierteljahrhundert moralisch-demokratischer Erneuerung der Menschheit wiederholt sich erneut die Schwächung einer humanen Moral zugunsten zynischer und brutaler „Ehrlichkeit“. Sie fühlen sich unehrlich, wenn sie solidarisch und einfühlsam handeln.

Trump ist das Symbol ständiger Zersetzung einer fragilen Vernunftmoral durch den verdrängten und in Notzeiten wiederkehrenden Immoralismus männlicher Erlöserreligionen.

Eine Epoche scheint zu Ende zu gehen, die Epoche der falschen Synthese aus gesetzloser Religion und eindeutiger Humanität. Während Trump offen und hemmungslos die vernünftige Moral verhöhnt, verlässt Merkel still und heimlich die gemeinsamen Grundlagen der Demokratie – um sich ins Reich des Glaubens abzusetzen.

Unbemerkt soll Deutschland im Lichte der Öffentlichkeit in eine neoromantische Theokratie verwandelt werden. Den Deutschen, die Moral und Glaube für verwechselbar halten, scheint dies ein seelisches Bedürfnis zu sein.

 

Fortsetzung folgt.