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Europäische Idee XXV

Hello, Freunde der europäischen Idee XXV,

„Alles Leben ist Problemlösen“. Mit dieser Devise rechtfertigte Popper sein philosophisches Leben. Philosophieren ohne den Versuch, die menschlichen Probleme zu lösen, sei tiefgründelnder Tand und possenhaftes Geschwätz. Sollte Popper Recht haben – er hat –, müssten 99% aller philosophischen Lehrstühle wegen Scharlatanerie auf Kosten der Steuerzahler geschlossen werden. Und tschüss!

Politisches Handeln ist praktisches Philosophieren, die Gestaltung der Wirklichkeit nach durchdachten Prinzipien. Die meisten Menschen handeln nach Gefühl und Intuition, bewusstseinslosen Ausgaben ihrer Gedanken und Ideen. Wer klare und bewusste Politik treiben will, muss seine Instinkte erforschen und ihre verborgenen Wurzeln freilegen, um sie bei Tageslicht wahrzunehmen und zu durchdenken.

Wer die Ursachen seines Tuns nicht kennt, kann keine Rechenschaft über seine Politik ablegen. Gegen Andersdenkende kann er sie nicht verteidigen. Weder ist er fähig, vertretbare Kompromisse zu schließen, noch seine Überzeugungen zu überprüfen und in Versuch und Irrtum zu korrigieren. Er bleibt Sklave seiner Herkunft und Tradition. Konflikte können in dialogischer Verständigung nicht aus dem Weg geräumt, kollektive Probleme im Geiste sachgemäßer Debatten nicht gelöst werden.

Demokratische Politik erfordert bewusste Geister, die miteinander streiten, sich in ihrer Andersartigkeit verstehen und ohne Gesichtsverlust miteinander verständigen können. Wer seine Biografie nicht kennt, dem müssen die Beweggründe seines privaten Tuns verborgen bleiben. Selbst Goethe, der Unpolitische und

Demokratieallergische, hat die Dringlichkeit bewussten Tuns anerkannt:

„Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.“

Demokraten, die die Vergangenheit der Menschheit ignorieren, werden weder ihre Gegenwart verstehen noch eine verantwortliche Zukunft vorbereiten können.

Die Moderne hat die Vergangenheit gelöscht. Mit ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Tun habe sie nichts zu tun. Jeden Tag beginne sie am Punkte Null und erfinde sich gänzlich neu. Das ist die Übersetzung der Taufe in die Fähigkeit, sich unbelastet von aller Tradition neu zu entwerfen. In der Taufe wird die sündige Geburt durch die Frau gelöscht, der Mensch erlebt eine Neugeburt durch Wasser und Geist des göttlichen Mannes. Luther beschreibt den Sinn des Taufens:

„Es bedeutet, dass der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten, und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.“

Das Abendland kennt die rituelle Taufe. Doch erst in Amerika verwandeln die Wiedergeborenen das göttliche Geschehen in die Fähigkeit, sich privat und kollektiv neu zu erfinden.

In deutschen Schulen ist Geschichte ein anerkanntes Lehrfach. Das Erlernen der Geschichte aber ist vergeblich, wenn Lehren aus der Geschichte nicht gezogen werden dürfen. Der Historismus – die Lehre von der Vergangenheit, die uns nichts mehr anginge – hat Geschichte zur quantitativen Aufreihung unverbundener Fakten degradiert. Sie nennen es Bildung.

Die von der Schule vermittelte Bildung sorgt dafür, dass die Kenntnis der Vergangenheit keine Rolle im Leben der Jugendlichen – und aller politisch Tätigen – spielt.

Die Medien sind durch und durch prophetisiert. Wer als Erster das Zukünftige vorherzusagen weiß, ist der Größte unter ihnen. Lieblingsfragen der Interviewer an Experten: Was erwartet uns, was kommt auf uns zu? Was ist das Unvermeidliche, auf das wir uns einzustellen haben?

Wer das Kommende sieht, sich prophetisch dem Unvermeidlichen als Schnellster unterwirft, der hat die Chance, als Erster im Goldenen Jerusalem anzukommen. Der gedankliche Kern des neoliberalen Wettbewerbs ist das heilige Gebot, die Zukunft zu gewinnen, um alle Konkurrenten niederzuringen. Wem die Zukunft gehört, dem gehört die Welt.

Amerika ist das messianische Land der Zukunftsgewinner, Europa der verlorene Kontinent der Vergangenheit. Äußerlich sind Amerika und Europa Verbündete, in Wirklichkeit konkurrieren sie erbittert um Vorherrschaft über die Zukunft. Die Amerikaner haben die besseren Karten, denn sie bekennen sich zum eschatologischen Wettlauf zur Eroberung der Welt. Europa ist überzeugt, seine christlichen Mythen in säkulare Rationalität verwandelt zu haben. So kann man sich täuschen.

Kurz nach Kriegsende waren die amerikanischen Befreier das leuchtende Vorbild Europas. Nach dem Vietnamkrieg begann der Niedergang Amerikas, Lehrling Europa schien den Meister durch solidarische Vernunft ehedem verfeindeter Nationen zu überholen. Inzwischen konkurrieren beide Blöcke in der selbstzerstörerischen Disziplin, wer sich am schnellsten in seine Bestandteile zerlegen kann. Das westliche Schiff, das sich Gemeinde nennt, beginnt in den Fluten zu versinken.

Das Zeichen der Schwäche war für die Darbenden der Verlierervölker das Signal, sich auf den Weg nach Europa zu wagen, um, nach vielen Jahrhunderten der Demütigung, ihre Menschenrechte einzufordern.

Der christliche Wettlauf um die Zukunft ist ein Kampf der Einzelnen. Sie sprechen von Individualismus, dem Gegeneinander der Unvergleichlichen. Die Unvergleichlichen, vor allem weiße Männer, müssen sich aller familiärer Lasten entledigen, um ihre Gewinnchancen nicht zu gefährden.

„Die Pforte ist eng, die zum Leben führet und ihrer sind wenige, die sie finden.“ Also heißt es, sich von den Mitgliedern der eigenen Familie los zu reißen. Im individuellen Wettbewerb aller gegen alle sind die Liebsten die Lästigsten, die man unerbittlich abschütteln muss.

Der Kapitalismus zerstört die Familie der Schwachen, damit die Loser noch hilfloser werden. Nur die Familien der Reichen dürfen Trutzburgen des Erfolgs werden. Kein politischer Kandidat in Amerika, der sich ohne Familie der Öffentlichkeit präsentieren dürfte.

„So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder Brüder und Schwestern, auch dazu sein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“

Die gefährlichsten Feinde des individuellen Einzelkämpfers sind Weib und Kinder. In John Bunyans „Pilgerreise zur ewigen Seligkeit“ spricht der Christ: „Ach, mein Weib fürchtete sich, diese Welt daran zu geben, und meine Kinder hatten sich den törichten Ergötzlichkeiten der Jugend hingegeben.“

Frauen und Kinder: aus solchem Stoff werden keine Sieger gemacht. Wer den Himmel gewinnen will, darf kein Gutmensch oder humanistisches Weichei sein. Mitleidlos muss er sich von seinen „Liebsten“ trennen, die in ihrer irdischen Klebrigkeit und Anhänglichkeit zur größten Versuchung für den männlichen Solisten werden, beim Versuch zu erlahmen, sich seinen Weg zum himmlischen Ziel zu bahnen.

Der rücksichtslose Einzelkämpfer muss dieselbe amoralische Qualität aufweisen, wie sein himmlischer Vater am Ende der Zeiten, wenn er die Verworfenen ohne zu zögern ins höllische Feuer schickt. Gott ist kein Gutmensch, menschlichen Moralvorstellungen unterwirft er sich nicht. Allen Gesetzen, die er Mensch und Natur verpasst hat, ist Er selbst nicht untertan. Könnte er sonst omnipotent sein?

Für Kreaturen ist die Moral Gottes nicht nachvollziehbar, sie steht über allen Zehn Geboten des Alten Testaments und allen Seligpreisungen des Neuen Testaments. Die Deutsche Bewegung, die moralische Abwendung der Deutschen von den Menschenrechten des Westens, ist bibelkonform.

Wenn der Christ gottähnlich, Gott aber an seiner Amoral zu erkennen ist, muss sein Geschöpf selbst jenseits von Gut und Böse stehen. Aus ihrer Sicht ist die christliche Ethik nicht mal heuchelfähig. Heucheln kann nur, wer klare Normen verletzt. Der Immoralismus Gottes und seiner Geschöpfe kennt keine klaren Normen.

„Dass zu allen Zeiten Einwände gegen die Ewigkeit der Höllenstrafe erhoben worden sind, ist erklärlich, weil der Gedanke an eine nie endende Pein ein über alles Begreifen entsetzlicher Gedanke ist. Diesen Einwänden liegt ein falsches Prinzip zugrunde, die Annahme nämlich, dass es recht und vernünftig sei, Gottes Wesen und Tun nach unseren menschlichen Gedanken und Erwägungen zu messen. Dies gilt besonders auch von denen, die eine ewige Verdammnis eines Teils der Menschheit weder mit der Einheit des göttlichen Weltplans noch mit der göttlichen Liebe, noch auch mit der göttlichen Gerechtigkeit vereinbar finden. Dagegen ist als Generalregel festzuhalten, dass Gottes Wesen, Eigenschaften und Tun über unsern menschlichen Horizont hinaus liegen und wir Menschen daher nicht a priori, sondern nur aus Gottes Offenbarung wissen können, was mit Gottes Wesen in Einklang oder in Widerspruch steht.“ (Christliche Dogmatik, hrsg. von der evangelisch-lutherischen Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten)

Wenn Europa sich zerlegt, weil aus all seinen Poren Erbärmliches, Verbrecherisches und Abscheuliches dringt, sind wir Zeugen einer Explosion seines kollektiven Unbewussten. Der Bauch Europas – oder sein ES –, seit 2000 Jahren mit unterdrückten Sünden und Lastern voll gepfropft, emittiert seine Laster und Untugenden.

Läge Europa auf der Couch, wäre die kathartische Ventilierung des Verdrängten ein großer Erfolg. Politisch kann die Ehrlichkeit ins Auge gehen, wenn die Korrektivkräfte des Rationalen zu schwach sind, um die Eruptionen des Irrationalen durch wehrhaftes Verstehen zu bändigen. Wer die Mächte des Bösen nicht verstehen will, muss zur Waffe greifen, um sie mit Methoden zu bekämpfen, die geeignet wären, das Böse eher zu bestärken als zu überwinden.

Selbsterkenntnis des Abendlandes wäre das Gebot der Stunde, damit die Europäer – anstatt sich in Abscheu zu überbieten – erkennen, was sie im Verborgenen geprägt hat.

Das Schlimmste und Böseste, was Europa zu verstecken hat, ist – die Hölle. Nichts Grausameres und Unmenschlicheres als die Erfindung der Hölle, die den Europäern panische Ängste bereitet hat. Im Mittelalter war die Hölle ständiger Gegenstand aller Predigten, die die Gläubigen unter Furcht und Schrecken unter die Knute des Gottes trieb.

Erst ab Beginn der Neuzeit, als die Kräfte der Vernunft wuchsen, wurde sie von Kanzelpredigern zunehmend unter Verschluss genommen. Nach dem Krieg war keine List verboten, die Existenz der Hölle zu verniedlichen oder zu verleugnen.

Dass Jesus, der Erlöser der Christen, die jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten mit Weherufen in die Hölle verbannte, war nach dem Holocaust der deutlichste und schrecklichste Beweis für den Antisemitismus der Kirchen. Also musste die Hölle entsorgt werden, um die Kirchen von allem bösen Schein zu befreien.

Von führenden katholischen und evangelischen Theologen wurde sie entschärft, ja mit spöttischen Äußerungen verneint. Obgleich im offiziellen katholischen Erwachsenenkatechismus die alte Lehre stand: „Die Lehre der Kirche, welche die Ewigkeit der Höllenstrafen ausdrücklich verteidigt hat, steht also auf einem guten und gesicherten biblischen Fundament“, erfand Ratzinger immer neue Versionen der Verharmlosung:

„Die Weherufe sind keine Verdammungen; sie sind kein Ausdruck von Hass oder Neid oder Feindseligkeit. Es geht nicht um Verurteilung, sondern um Warnung, die retten will.“

„Jesus ist gekommen, um uns zu sagen, dass er uns alle im Paradies haben will und dass die Hölle, von der man in unserer Zeit so wenig spricht, existiert und ewig ist für jene, die ihre Augen vor seiner Liebe verschließen.“

Auch Ex-Bischof Huber erweckte den Anschein, als habe die Hölle mit der Kirche nichts zu tun. War sie nicht sogar eine heidnische Erfindung?

„In der Tat ist die Kritik der Höllenvorstellung einer der stärkeren Züge in der christlichen Theologie, und die Wiederholung einer – im Übrigen heidnischen – Vorstellung von der Hölle ist einer der schwächeren Züge der christlichen Theologie. … Ein ganz kluger katholischer Theologe … hat gesagt: ´Naja, wir Katholiken glauben an die Hölle, aber niemand nötigt uns, daran zu glauben, dass jemand drin ist.`“

Sein katholischer Kollege Weihbischof Jaschke schwindelte das Blaue vom Himmel herunter. Bei Johannes B. Kerner im ZDF erklärte er: „Die Hölle hat keine große Bedeutung in den letzten fünfzig Jahren etwa für die christliche Kirche.“

Kann man hier noch sinnvoll von Heuchelei sprechen – oder liegt bereits eine pathologische Schizophrenie vor? Tausende von Jahren wurde den Menschen durch die Predigt von der ewigen Verdammung das irdische Leben zur Hölle gemacht – und nun, weil der gegenwärtige Zeitgeist es will, wird die Schandlehre der Kirchen in ein Ammenmärchen der Heiden oder in einen Innerlichkeitszustand der Ungläubigen verwandelt.

Gott, Über-Ich der Gläubigen, verbietet alles Schöne und Gute auf Erden, also muss es als Sündengut ins Es der Frommen abgeschoben werden. Von Jahrhundert zu Jahrhundert bläht sich das Es der Abendländer zu einem riesigen Bauch, der in regelmäßigen Abständen eine vorübergehende Entsorgung durch Nöte und Kriege erlebte.

Solange die Abendländer nicht endgültig Abschied nehmen von bewussten und unbewussten Höllenvorstellungen und der unendlichen Sündhaftigkeit ihres Tuns, werden sich die unterirdischen Speicher des Bösen stets mit neuem Gift füllen.

Wer sein ganzes Leben als Orgie des Verbietens und Diskriminierens seiner Persönlichkeit erlebt, der ist gezwungen, seine natürliche Unbefangenheit und Lebensfreude als Gefahrengut auszulagern und zu verdammen. Doch beseitigen kann er seine Sündenschuld niemals. Die Bosheit seines Wesens wird zum psychischen Sprengstofflager unter seinen Füßen, das ihn jederzeit in die Luft sprengen könnte.

Europa läuft auf einem Feld unterirdischer religiöser Tretminen, die bei jeder falschen Bewegung detonieren könnten. Die Nachkriegszeit der vorbildlichen Distanzierung von allem Bösen ist vorbei. Der Taumel des Wohlstandes, der die ersten Risse im europäischen Gefüge überdeckte, wird von Eskapaden ungeheurer Finanzverbrechen erstickt. Es gibt immer weniger Kompensationsmöglichen, um die Schattenseiten eines inhumanen Wirtschaftssystems auszugleichen.

Die Selbstentlarvung unserer lebensfeindlichen Kultur dringt uns aus allen Poren. Das verdrängte, nicht vorzeigbare Innere ergießt sich eins zu eins ins Äußere der Tagespolitik. Das Innere wird zum Äußeren. Würden wir wahrnehmen, was wir tun, könnten wir unser Innenleben unverfälscht rekonstruieren.

Das Vergangene lebt, nichts geht verloren. Wir sind gezeichnet von archaischen Altlasten unserer eingeimpften Sündhaftigkeit. Die Geschichte, die wir von uns abspalten und mit der wir nichts zu tun haben wollen, prägt die kollektive Physiognomie unserer Gegenwart. Es wird keine Zukunft geben, wenn wir unsere Vergangenheit nicht als unterirdische Gegenwart zur Kenntnis nehmen.

Wenn wir Poppers Definition akzeptieren: Politik ist Problemlösen, müssen wir schlussfolgern, dass Merkel von Politik keine Ahnung haben kann. Doch nicht nur sie, die gesamten Machteliten Europas sind weder gewillt, noch in der Lage, die Probleme der Welt zu erkennen und zu lösen. Sie definieren sich als Marionetten und Opfer geschichtlicher Mächte und natürlicher Gesetze, die zu verändern sie für absurd und abwegig halten.

Rationale Politik entspringt dem Glauben des Menschen an seine autonome Selbstbestimmung. Er fragt sich, wie er auf Erden leben will – und welche Kräfte ihn von diesem Ziel abhalten. Schon bei Nennung des Ziels beginnt es zu hapern:

Darf der Mensch glücklich werden? Ist Glück nicht die Ursache seiner Faulheit und Bequemlichkeit? Verhindert Glück nicht den Fortschritt in allen Bereichen der Moderne? Gäbe es Raumfahrt ohne den Stachel des Unglücks? Führt Glück nicht unmittelbar ins Elend faschistischer Zwangsbeglückung? Selbst Popper warnt eindringlich vor der Utopie, dem gefährlichen Himmel auf Erden:

„Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produzierte stets die Hölle.“

Doch hier irrte Popper. Erfüllt von der Entdeckung des zwangsbeglückenden Urfaschismus Platons identifizierte er jede utopische Politik – selbst eine demokratisch-friedliche und argumentierende – mit einer totalitären Zwangsbeglückung. Seinen Satz vom Problemlösen hätte er nur folgerecht weiter denken müssen, um zum Ergebnis zu kommen: wären eines fernen Tages alle Probleme gelöst, stünden wir mitten im Garten Eden einer mündigen Menschheit.

Was aber sollte den Menschen daran hindern, seine Probleme zu lösen? Es gibt nur einen Grund, um die Utopieunfähigkeit des Menschen zu erklären. Das wäre der religiöse Glaube an die unaufhebbare Sündhaftigkeit des Menschen. Woran der Mensch glaubt, erfüllt er selbst in vorauseilendem Gehorsam. Beginnt er, an sich selbst zu glauben, wird er fähig werden, in Eintracht mit Mensch und Natur zu leben.

Das christliche Ethos ist keine Moral, sondern der Aufruf, sich Gott in allen Dingen zu ergeben. Die zehn Gebote kann nur befolgen, wer das Erste Gebot, den Glauben an Gott, erfüllt. Aus Luthers Großem Katechismus:

„Weil aus der Furcht und Liebe zu Gott die Erfüllung aller andern Gebote fließen soll.“ Wer die Liebe zu Gott nicht aufbringt, kann die Gesetze äußerlich erfüllen, wie er will. ihm fehlt die rechte Gesinnung, damit sind all seine Taten des Teufels.

Nach Luther haben die einzelnen moralischen Gebote in der Schrift nicht den Sinn, dem Menschen ein reales Verhalten abzuverlangen. Die Forderungen des Gesetzes haben allein den Sinn, den Menschen zu zerschmettern. Im Spiegel unerfüllbarer Forderungen soll der Mensch seine ganze unkorrigierbare Sündhaftigkeit erkennen. Unter der unerfüllbaren Last der Gebote soll er zusammenbrechen, seine totale Unfähigkeit erkennen – und Gott allein die Ehre des Erlösers geben.

Nur Gottes Gnade kann dem wiedergeborenen Sünder die Kraft geben, jene Gebote zu erfüllen, die der Himmel von ihm fordert. Das ist die Lehre vom zwiefachen Gebrauch des Gesetzes (duplex usus legis). In der Schrift hat das Gesetz nur die Funktion, „aller Welt den Mund zu stopfen“, um sie von seiner vollendeten Sündhaftigkeit zu überzeugen.

„Wir wissen aber, daß, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf daß aller Mund verstopft werde und alle Welt Gott schuldig sei; darum daß kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein kann; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“

„In Luthers Rechtfertigungslehre besteht „das vornehmste Amt oder Kraft des Gesetzes in der Aufdeckung der völligen Verderbnis der menschlichen Natur durch die Erbsünde und der Überführung der Unfähigkeit des Menschen zum Guten. Er könne daher nur durch den Glauben an das Evangelium gerettet werden. In der Festlegung von Geboten als Lebensregel auch für die Christen sah er die Gefahr der Werkgerechtigkeit, denn das Gesetz könne ja nichts Gutes bewirken. Gesetz und Evangelium sind somit bei Luther Gegensätze. Die Gläubigen sind deshalb nicht an das Gesetz gebunden.“ (Lutherische Dogmatik)

Wenn Merkel an das christliche Gewissen ihrer Untertanen appelliert und neutestamentliche Forderungen als politisch erfüllbare ausgibt, ist sie weder lutherisch noch politisch. Luther ist von der sündigen Unveränderbarkeit der Welt im gleichen Maße überzeugt wie sein großes Vorbild Augustin. Moral ist nicht dazu da, die Welt zu verändern.

Der Christ lebt parallel in zwei Reichen, dem sichtbaren Reich des Teufels und dem unsichtbaren Reich Gottes. Erst am Ende aller Tage bei Wiederkunft des Herrn wird das Reich des Teufels endgültig zerstört. Solange müssen die Christen das schizophrene Dasein in zwei widersprüchlichen Reichen ertragen. Gesetze sind nur dazu da, dass im Reich der Welt die bürgerliche Ordnung einigermaßen gewahrt wird. Das perfekte Reich Gottes wird vor dem Endgericht nie auf Erden existieren. Simul justus et peccator, zugleich Sünder und gerecht: das ist der Stachel im Fleisch, solange das Alte regiert und das Neue noch nicht erschienen ist.

Merkels grenzenlose Barmherzigkeit ist auch nicht politisch. Politik weiß, dass alles Irdische Grenzen hat. Der Mensch ist nicht unendlich. Wo allerdings seine Grenzen verlaufen, könnte er nur erfahren, wenn er sein bisheriges, auf Kosten der Welt lebendes Ungerechtigkeitssystem auf den Kopf stellte. Rationale Politik muss überlegen, nicht nur, was sie fordert, sondern wie diese Forderungen zu erfüllen sind. Rationale Politik wartet nicht, bis die Probleme sich aufgetürmt haben und schier unerfüllbar scheinen. Sie versucht die Ursachen der Schwierigkeiten so frühzeitig zu erkennen, dass ihre Problemlösungen nicht nachträgliche Improvisationen, sondern prophylaktische Versuche sind, Probleme zu bewältigen, „bevor sie entstanden sind“.

Merkel besitzt keinen Überblick über die realen Weltprobleme. Sollte sie ihn dennoch haben, muss sie die Welt für ein irreparables Sündenchaos halten. Merkels Regierungepoche ist eine Wurstelepoche. Sich im Glauben durch die Welt wursteln, bis der Messias kommt: das ist Merkels religiöse Politik, die nichts anderes ist, als eine nationale Gruppentherapie mit seelsorgerlichen Sättigungsbeilagen. Wer in demütig-lächelnder Bescheidenheit auftritt, der ist Deutschlands Mater gloriosa. Eine solche kann nicht abgewählt werden.

Deutsche, in der Welt habt ihr Angst, siehe, ich habe die Welt im Griff. Merkel ist keine Politikerin, aber eine ingeniöse Machtartistin. Die Deutschen halten sich für aufgeklärt, doch ihre elementaren Bedürfnisse sehnen sich nach Ruhe und Aufgeräumtheit einer stillen Dorfkirche.

Die dunklen Bedürfnisse der labilen und unsicheren Deutschen hat die Kanzlerin so auf sich fixiert, dass jene ihr lächelnd entspanntes Gesicht benötigen wie Luft zum Atmen, um in steigenden Schwierigkeiten nicht die Illusion zu verlieren:

„Solang Du noch eine Mutter hast
so danke Gott und sei zufrieden
nicht allen auf dem Erdenrund
ist dieses hohe Glück beschieden.

Sie ist dein Sein, sie ist Dein Werden
sie ist Dein allerhöchstes Gut
sie ist Dein größter Schatz auf Erden
der immer Dir nur Gutes tut.“    

 

Fortsetzung folgt.