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Europäische Idee XXIV

Hello, Freunde der europäischen Idee XXIV,

„die Hölle, das sind die anderen.“ Die anderen – das ist die Gesellschaft. Hölle ist die Mitte der Gesellschaft. Rechts- oder linksextreme Ränder gibt es nicht. Die Ränder entspringen im Zentrum, werden von den Mächten des Zentrums an die Ränder projiziert, damit die Spuren des Verderbens in die Irre führen.

Wer bestimmt die Gesamtatmosphäre eines Volkes, eines Kollektivs, einer Klassengesellschaft? Die unteren Klassen? Dann hätte Marx sich seine Theorie sparen können. Wer bestimmt die Gefühlslage einer Familie? Die Kinder, die unerzogenen, rebellischen „Ränder der Familie?

Und ob die Gesellschaft eine Großfamilie wäre! Was soll sie denn sonst sein? Eine Maschine? Das „organische Gesellschaftsmodell“ wurde von völkischen Faschisten zur Legitimation ihrer totalitären Harmonie missbraucht.

Das gesellschaftliche Maschinenmodell wurde von denen erfunden, die nur mechanische Naturgesetze im menschlichen Bereich anerkannten. Nicht mal die Natur ist ein bloßer Mechanismus, der – obgleich mit zuverlässigen Gesetzen ausgestattet – immer nur Unveränderliches hervorbrächte.

Natur vollbringt das Kunststück, mit ehernen Gesetzen sich über lange Zeiten hinweg zu verändern und zu entwickeln. Der Mensch könnte kein Teil der Natur sein, wenn er – obgleich Gesetzen unterworfen – keinen freien und schöpferischen Willen hätte.

Freiheit ist die Fähigkeit des Menschen, mit unverbrüchlichen Naturgesetzen so umzugehen, dass er in den Folgen seines Tuns den eigenen Willen erkennt. Natur

ist kein Uhrwerk. Nur für Deutsche ist Freiheit die Feindin vernünftiger Gesetze. Nur Gesetze können uns Freiheit geben, jenen Handlungsspielraum, den Naturgesetze uns zur gestalterischen Verfügung stellen. Selbst die „Randbedingungen“ eines physikalischen Systems befinden sich nicht am Rand, sondern gehören, zusammen mit den Gesetzen, zum Zentrum des Geschehens.

Wenn Pegadisten brüllen: wir sind das Volk – haben sie Recht. Nur kein Getümmel, AthenerInnen. Was sollen sie denn sonst sein? Gäbe es tatsächlich Verschwörungstheorien, dann wären es Schuldzuweisungstheorien der Eliten.

Wissen und Erfinden ist Macht. Der Satz ist umkehrbar: nur wer Macht hat, hat die Lizenz erworben, Ideologien zu erfinden, deren gute Folgen auf das Konto der Erfinder, deren schlechte auf Kosten der Opfer und Verlierer gehen. Böse Kinder sind nie Kinder ihrer Eltern, sondern stets Kinder des Teufels oder der Gesellschaft. Böse Menschen sind nie Kreaturen ihre Creators, sondern Kinder des Satans. Gott und die Autoritäten sind immer schuldlos.

Wenn Deutschland Mist baut, sind es nie die Großkopfeten, Regierenden, Konzernfürsten, Bankenführer, sportlichen Lichtgestalten, omnipräsenten Intellektuellen und einflussreichen Medien: es sind immer die Würstchen vom Lande.

Der Überbietungswettbewerb in Abscheu ähnelt den Verfluchungen frommer Eltern, die ihre missratenen Satansbraten dem Teufel übergeben. Wer am schnellsten, lautesten und schärfsten die Unholde in die Hölle wünscht, der muss schuldlos sein.

Verdrängung, Verschiebung, Verleugnung, Projektion, Abwehr – nur Mechanismen der Innerlichkeit? Ohne gesellschaftliche Wirkungen?

Gesellschaft ist die Summe ihrer Mitglieder. Wie diese sind, so ist Gesellschaft. Die Summe ist nicht die Addition gleicher und gleichwertiger Einzelfaktoren. Dank FAZ-Hank wissen wir endlich, dass Ungleichheit die Welt regiert. Eben. Oh wollet doch nur eure eignen Reden beim Worte nehmen, ihr Riesen an Geist und Macht: ihr hättet bereits das Ei des Kolumbus erfunden.

Wer die größte Macht hat, das Maul am weitesten aufreißt, die tollste Maschine und verderblichste Waffe erfindet, den größten Einfluss mit Geld erkauft, das auflagenstärkste Hetzblatt besitzt, bestimmt das Geschehen. Die unteren Klassen und abgehängten Schichten wären gar nicht in der Lage, die gottgewollten Obrigkeitsklassen aggressiv anzugehen – ihnen fehlte das nötige Selbstbewusstsein und die erforderliche Empörungskompetenz. Kinder empören sich nur, wenn sie sich im Recht fühlen. Ihre Empörungsmethoden widerspiegeln bis aufs I-Tüpfelchen die Diskriminierungsmethoden derer, die sie schikanieren.

Wollt ihr wissen, wie Gesellschaften ticken, dann schaut euch ihre – „Ränder“ an. Actio gleich reactio, das gilt für alle Gesellschaften, in denen Untertanen lange genug den Schalmeiengesang von der mündigen Gesellschaft hörten und die Botschaft endlich am Wickel packten.

Nein, sie können keine gelehrten, wohldisponierten Aufsätze entwerfen, mit denen sie den Obrigkeiten nachweisen, dass sie Stuss reden. Oder dass sie vortreffliche Parolen predigen, ihre Taten aber zu wünschen übrig ließen.

Wer sich die Diagnosen der Misere näher beschaut, muss sich einen Ouzo genehmigen, damit er den Tag übersteht. (Auch sonst zu empfehlen, um die griechischen Freunde zu unterstützen.) Selbst linke Blätter schreiben penetrant von Links- oder Rechtspopulismus.

Sacra, populus ist das Volk. Soll alles Schrott sein, was vom Volke kommt oder für dieses gedacht ist? Wie wär‘s mit Links- oder Rechtselitismus? Oder Hetz- und Verunglimpfungs-Oligarchien? Gehässigkeits-Oberschichten? Gibt’s keinen Mitte-Populismus? Gehört die ehrenwerte Bourgeoisie nicht mehr zum Volk?

Jeder ist Volk, der ein Pass des Volkes besitzt. Wer über die actio bestimmt, darf sich über die reactio nicht wundern. Oder glaubt irgendjemand, dass in einer Hierarchie die Ohnmächtigen das Sagen haben?

Warum diese ewigen Links- und Rechtszuordnungen? Erstens sagen sie nichts, zweitens führen sie in die Irre. Sollten Verbrechen von links etwa die besseren – die von rechts die verwerflicheren sein? Wieder der uralte christliche Gesinnungsterror. Motivation oder Gesinnung soll über die Tat entscheiden, nicht die Tat über die Gesinnung. Nicht dein Glaube, dein schönes Innenleben, deine hehre Absicht oder löblich zusammengeflickte Nabelschau bestimmt die Qualität deines Tuns. Liebe – und tue, was du willst: das war Augustin vor 2000 Jahren. Quäle und töte die Menschen nach Belieben – wenn du dir nur lebhaft einbildest, sie zu lieben, ist alles paletti.

Bist du ein authentischer Linker, ein chauvinistischer Rechter, kannst du dir alles erlauben. Deine politische Gesinnung entscheidet über die moralische Qualität deiner Tat. Denkste. Da könnte jeder kommen, sich auf seine schwarz-rot-goldne oder spartakistische Innenschau berufen – und alles wäre im grünen Bereich.

Lessing, einer unserer Besten, hat Recht: die wahre Tat entscheidet über den wahren Ring. Nur die Tat ist öffentlich und überprüfbar. Nur die Tat kommt beim Menschen an. Nur mit Taten kommst du in Kontakt mit anderen. Nur die Tat macht dich erkennbar, die gute liebenswert, die böse zum Scheusal. Gewiss, Taten werden im Innern gezeugt und angeregt. Doch niemand weiß, welche Komponenten unseres unendlich zerklüfteten und wirren Innenlebens die Tat wirklich prägten. Unsere Selbsttäuschungskräfte tendieren gegen unendlich, wir über- und unterschätzen uns ohne Maß.

Die Überschätzung von links und rechts hat eine unrühmliche deutsche Tradition. Was links war, durfte sich alles Gesetzlose erlauben, es geschah in bester revolutionärer Absicht. Was von rechts kam, war hoffnungslos reaktionär.

Im Vergleich mit Stalin war Hitlers Faschismus um Klassen verwerflicher und musste Totalitarismus heißen. Warum? Stalins Verbrechen wollten das Gute und Gerechte, das die Menschheit dem Reich der Freiheit näher bringt. Hitler wollte böse sein um des Bösen willen. Kapitaler Unsinn. Beide Priestersoldaten wollten die Menschheit erlösen. Stalin von der Erbsünde der Ungerechtigkeit, Hitler von bösen Juden, die den Christen den Einzug ins eschatologische Dritte Reich streitig machen wollten. Beide wollten das Reich der Freiheit, die Übersetzung des Reiches Gottes ins Weltliche.

Da die Linken von „utopischer Moral“ nichts hielten und Moral nur als Klassenmoral anerkannten, billigten sie Gesetzesverstöße im Namen der proletarischen Revolution. Die Freundschaft zwischen Sartre und Camus zerbrach, weil der aufrechte Algerienfranzose die Prostituierung der Moral im Dienste eines angeblich Guten nicht mitmachte.

Derselbe Konflikt bei den 68ern. Die RAF mordete um des guten Zweckes willen, Dutschke und die studentische Mehrheit nahmen – reichlich widerwillig – Abschied von der antinomischen Klassenmoral. Die Störrischsten hielten Gewalt gegen Sachen noch längere Zeit für vertretbar. Als sie sich schließlich der gesetzlichen Moral beugten, lag die linke Bewegung ermattet am Boden. Bis zum heutigen Tag. Wie Merkel in der Mitte der Gesellschaft herumwurstelt, wursteln die Linken am kapitalismuskritischen Rand der Gesellschaft. Theoriedebatten sind out. Es herrscht Manövrieren nach Sicht und Geräusch.

Pegida ist auch das Volk und vertritt untergründig gärende Positionen, die von der elitären Mitte in Form wissenschaftlicher und ästhetischer Ideen schon lange vertreten wurden. Wo die Bourgeoisie sich gesittet und diszipliniert zeigt, bleibt dem Pöbel nur die „ehrliche“ Methode des Bedrohens und Verleumdens.

Ehrlich war bei den Deutschen, seit ihrer Distanzierung von der westlichen Heuchelmoral (cant), die Selbstanpreisung des Inhumanen und Barbarischen. Auch die Nationalsozialisten verabscheuten den hohen moralischen Ton westlicher Menschenrechtler, die Christus predigten und Kattun meinten. Ab jetzt zerbrach das europäisch-protestantische Christentum in das angelsächsische Credo der Reichen (wer an Gott glaubt, ist Erbe seiner Schöpfung) und dem antikapitalistischen Bekenntnis: eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, denn ein Reicher ins Himmelreich.

Die deutschen Herz-Jesu-Marxisten wie Geißler und Blüm lehnen bis heute die angelsächsische Doktrin als widerchristlich ab. Die Amerikaner sind ihre besten Freunde, doch im gemeinsamen Glauben sind sie heillos zerstritten – ohne den Streit wahrzunehmen und öffentlich durchzufechten. Wie sie aus Freundschaftsgründen Israel nicht kritisieren, kritisieren sie auch nicht ihren fundamentalistischen Großen Bruder jenseits des Ozeans. Wen Gott liebt, den züchtigt er. Wen die Deutschen lieben, den lassen sie ins Verderben rennen.

So viele nationale Christentümer es gibt, so viele moralische Positionen gibt es. Welches Schweinderl hätten‘s denn gern? Der Papst verurteilt den syrischen Waffengang, sein geliebter Bruder, Oberpope Kyrill aus Moskau, segnet die Bombenabwürfe auf Zivilisten seines Gemeindemitglieds Putin. Franziskus attackiert den gläubigen Trump als Nichtchristen, da der Milliardär Mauern gegen mexikanische Flüchtlinge bauen wolle. Er mischt sich in die Politik, indem er beteuert, sich in die Politik nicht einzumischen. Wer kein Christ sei, sei auch kein zuverlässiger Politiker. Trump, nicht faul, wettert gegen die verweichlichte Heuchelei des Argentiniers auf dem Sessel Petri. Von Mauerbau stehe nichts in der Heiligen Schrift, behauptet der Neu-Römer. Eine handelsübliche Konkordanz hätte dem wenig bibelfesten Oberhaupt der Katholiken weiter geholfen:

„Das Goldene Jerusalem hat eine große und hohe Mauer.“ „Kommt, lasst uns die Mauer Jerusalems aufbauen, dass wir nicht länger ein Gegenstand des Spottes seien.“ „Friede herrsche in deinen Mauern, Sicherheit in deinen Palästen“. (Bei „Palästen“ wird Immobilien-Trump sich von seinem Gott verstanden fühlen). „Man wird in deinem Land nicht mehr hören von Gewalttat, von Sturz und Zerstörung in deinen Grenzen; deine Mauern wirst du Heil nennen und deine Tore Ruhm.“ Hier wird Seehofer, bayrischer Katholik, sich gegen seine protestantische Stiefschwester voll verstanden fühlen.

Wer alles und nichts für richtig, alles und nichts für falsch hält, kann seine Position als Offenbarung Gottes verkünden, doch die Meinungen seiner irrenden Geschwister muss er als Ketzerei verabscheuen. Für Heuchelei-Nachschub im christlichen Revier unbegrenzter Deutungen ist zuverlässig gesorgt. Wo der Eine sich für unfehlbar hält, muss er den Anderen als Ausgeburt des Satans verfluchen.

Nicht anders bei Merkel: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Wer redet ständig von der Politikerin Merkel? Merkel weiß gar nicht, was Politik ist. Sie betreibt christliche Event-Moral. Wirft Gott ihr Flüchtlinge vor die Füße, plädiert sie eine Woche lang für Gnade und Barmherzigkeit. Als das Elend weit weg in Syrien war, übertraf niemand sie an Herzenshärtigkeit gegen Flüchtlinge in Italien und Griechenland. Solidarität? Nur, wenn Gott sie persönlich anruft.

Okkasionalismus nannten Theologen die Lehre von den Gelegenheitsursachen. Okkasionell ist Merkel barmherzig, okkasionell grausam gegen Griechen. Solidarisch von heute bis morgen, no bail out das ganze Jahr.

Es gibt eine neue Sekte: die Merkel-Konvertiten. Bislang allen Moralismus in den Boden stampfend, rühmen sie über Nacht die obergrenzenlose Agape der frommen Königin Luise II. Wir schaffen das, muss heißen: wir machen alle ein freundliches Gesicht, auch wenn wir knallharten Machiavellismus exerzieren. Ein freundlich-mütterliches Gesicht machen, in dieser Mariendisziplin ist Angela unbesiegbar. Die schlichten Männergemüter ihrer Entourage verstehen nichts von dialektischer Gesichtswahrungsartistik. De Maiziere guckt linear umso strenger, je Strengeres er zu verkünden hat.

Die merkelfrommen Medien loben ihre Madonna über den grünen Klee: sie bleibe unbeirrt und gesinnungsfest. Dass ihr verbaler Starrsinn das vollmundige Helfenwollen längst konterkariert, wird ignoriert. Dass ihre Handlungen ihre Worte widerlegen, ist uninteressant. Was Merkel – die Einsame, Missverstandene und auratische Heilige – politisch wirklich tut, bescheinigt ihr der jüngste Jahresbericht von ai:

„Die deutsche Flüchtlingspolitik wird scharf kritisiert. »Die Bundesregierung verliert die Menschenrechte aus dem Blick«, sagte Caliskan. Sie lobte zwar die Bereitschaft in großen Teilen der Bevölkerung, Flüchtlinge aufzunehmen. Die anfängliche Offenheit der Bundesregierung sei dagegen geschwunden. »Stattdessen wird nur auf Härte und Abschottung gesetzt.«“ (SPIEGEL.de)

Merkel hätte mehr erreicht, wenn sie den Predigermund nicht so voll genommen – und die Bevölkerung, vor allem die europäischen Nachbarn mitgenommen hätte, anstatt die tour de misericorde in selbstrühmender Überheblichkeit durchzupauken. Weniger Gesinnungseitelkeit, dafür umso mehr demokratisch legitimierte Taten.

In welchem Maße die deutsche Politik durch klerikale Lobbyisten beeinflusst und durchsäuert ist, zeigt der Artikel über Carsten Frerk: Er macht deutlich,

„wie dieser Einfluss zustande kommt, wo er überall verdeckt wirkt und auf wie illegale und verfassungswidrige Weise er sich in unserem Politikbetrieb verankert hat. Der Autor untersucht dazu das Lobby(un)wesen, das sich rund um den Bundestag und die Landtage entwickelt hat. Während die Verbände, wie die der Autoindustrie, Pharmaindustrie oder etwa Gewerkschaften und hunderte andere, im öffentlich einsehbaren Lobbyregister verzeichnet sein müssen, gilt diese für Transparenz sorgende Regelung für die beiden Amtskirchen nicht. Sie konnten sich als Kirchen jederzeit unkontrollierten und ungehinderten Kontakt zu den Abgeordneten verschaffen. Die Kirchen als Körperschaft des öffentlichen Rechts werden wie staatliche Stellen behandelt und genießen eine Vielzahl von Privilegien.“ (Humanistischer Pressedienst hpd.de)

Wie kann Merkel aus vollem Herzen muslimische Flüchtlinge willkommen heißen, wenn sie alles daran setzt, schleichend und unbemerkt die deutsche Nachkriegsdemokratie in eine christliche Theokratie zu verwandeln? Ihre agapösen Anwandlungen bleiben okkasionell und zeitlich begrenzt. Zur Erringung ewiger Seligkeit tragen sie nichts bei.

Die Liebe des himmlischen Vaters und die seiner lieben Tochter Angela zu den humanoiden Geschöpfen beschränkt sich auf die Rettung einer kleinen Minderheit. „Nur eine Handvoll Menschen wären gut genug, um erlöst zu werden. Die große Mehrheit würde in die Hölle verbannt.“

Das ist die offizielle Lehre der Kirche. Nach außen spricht sie nicht viel von der Hölle, versucht sie als psychischen Zustand der Lieblosigkeit zu verharmlosen. Irdische Barmherzigkeit ist für den Gläubigen problemlos vereinbar mit endgültiger Mitleidlosigkeit am Ende der Zeiten.

Für Gregor den Großen war es selbstverständlich, dass die geretteten Christen im Himmel nicht das geringste Mitgefühl mit den Verbannten in die Hölle hatten. Und nicht nur das. Zu ihrem ewigen Glück würde gehören, dass „ihnen ein freier Blick auf die Qualen der Verdammten gewährt wird.“ Zu ihrer unbändigen Freude gehöre es, „die Verdammten zu beobachten, wie sie sich in der Hölle winden.“

Der „gottlose“ Haufen der Pegadisten – der in seiner Aversion gegen Merkel zugleich russisch-orthodox, bayrisch-katholisch wie fundamentalistisch-amerikanisch sein könnte – wäre nicht ansatzweise in der Lage, die Doppelmoral der Kanzlerin zu formulieren. Gleichwohl ist das Ressentiment der „Ehrlichen“ unter den Schreihälsen nicht frei von tiefem Widerwillen gegen das gesamte Christengedöns der Regierung, das himmlische Töne spuckt, die Schwächsten aber zu kurz kommen lässt.

Was sich überall in Europa anbahnt, ist ein tief gehender Widerwille gegen das Abendland im Ganzen – ohne dass die Aufbegehrenden zu sagen wüssten, wogegen sich ihre Empörung richtet. Dumpf und wortlos beginnt jeder Aufstand gegen verrottete Zustände des Selbstverständlichen. Bleibt er dumpf, wird er von der ebenfalls stumpfen, wenn auch wortgewaltigen Gegenseite untergepflügt. Doch bei der nächsten Erhebung wird der Widerstand nur umso giftiger und gehässiger.

Besser wäre ein Gespräch unter Demokraten und viel zu erzählen von Tagen der Missverständnisse, gefühlter Ungerechtigkeit und höchst unterschiedlicher Wahrnehmungen der abendländischen Werte.

Wie also lautet die Diagnose des Pegida-Symptoms? Rassismus? Zu schwach, zu biologistisch. Ängste? Zu diffus und passiv. Hass? Kommt der Sache näher. Doch Hass wogegen? Gegen die Fremden, die unser Sozialsystem stürmen, sodass die Einheimischen zu kurz kommen?

Dass der Kapitalismus die neuen Reservearmeen potentieller Malocher gnadenlos ausnutzen wird, um Schwache gegen Schwächere auszuspielen, wird nur ungern erwähnt. Wir seien ein reiches Land und könnten Zuwanderer verkraften, ja, wir bräuchten sie dringend, um Überalterung der Gesellschaft auszugleichen. Klingt gut, aber scheinheilig. In Wahrheit lechzen die Zetsches nach konkurrierenden Massen, um die Loser unter den Einheimischen endgültig auszugrenzen.

Europa bekommt die Quittung für jahrhundertelange Ausnützung und Ausbeutung vieler kolonialer Länder. Die Ausbeutung geht heute unvermindert weiter, getarnt hinter gerecht klingenden Handelsverträgen. Doch die mächtigen Europäer nutzen die Unterlegenheit der Unterentwickelten schamlos aus. Die BWL-Professorin Evi Hartmann spricht von 60 Sklaven, die noch heute für jeden einzelnen Europäer schuften müssten.

Evi Hartmann: Hm, ich trage Kleidung, besitze ein Smartphone und fahre Auto. Das sind ungefähr 60 Sklaven, die derzeit für mich arbeiten, ob ich das möchte oder nicht.“ (jetzt.de)

80 Millionen mal 60 sind 4800 Millionen Sklaven in aller Welt, die sich nun zu wehren beginnen, indem sie nach Europa flüchten, um den Ausbeutern die Quittung ihrer Ungerechtigkeit in Gestalt ihrer eigenen hilfsbedürftigen Person zu präsentieren. Gerechte Rache als Anforderung elementarer, ausgleichender Hilfsbereitschaft. Mit gnadenhafter Barmherzigkeit hat dies nichts mehr zu tun. Sondern mit globaler Gerechtigkeit und überfälliger Fairness.

Die Hölle – das sind die anderen. Die Anderen müssen ausgegrenzt und verteufelt werden. Es geht nicht nur um Ablehnung gewöhnungsbedürftiger Fremder oder zudringlicher Invasoren, die den Einheimischen das letzte Hemd wegnehmen wollen. Es geht um mehr.

Wer sind die Anderen? Es sind die, die mit unserem Lebensstil, unserer Religion, unserem Wohlstand unverträglich scheinen. Alles, was nicht Ich ist, ist gegen Mich. Alles, was nicht Wir ist, ist gegen Uns. Die eigene Unvergleichlichkeit und Auserwähltheit ist bedroht. Seligkeit ist ein knappes Gut, und irdisches Glück empfinden Abendländer wie Seligkeit auf Erden – für wenige. Die Massen müssen hinab in den Orkus.

Der Endkampf um irdische Ressourcen, identisch mit dem Endkampf um irdisches Glück, geht in seine letzte entscheidende Phase. Der Philosoph Max Stirner, dem nichts über sein solitäres Ich ging, hat den gegenwärtigen Konflikt vorausgeahnt:

„Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist! Ihr meint, meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn.“

Wenn gut und böse verleugnet und Moral verworfen werden kann – bleibt nur noch Hauen und Stechen um Sein oder Nichtsein.

 

Fortsetzung folgt.