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Europäische Idee XVIII

Hello, Freunde der europäischen Idee XVIII,

1000 Jahre sind vor Gott wie ein Tag, vor dem Gedächtnis der Menschen sind sie – nichts. Alles wiederholt sich, alles ist präsent, was nicht durchgearbeitet und verstanden wurde. Zukunftsfanatiker werden von ihrer Vergangenheit, die nicht vergehen will, eingeholt und der Lächerlichkeit überführt.

Trump gegen Sanders: Amerika zeigt in Reinkultur seine zwei Gesichter, die es von Anbeginn an hatte. Unbeherrschte Gewalt der Eliten – gegen Macht der Gleichheit und Gerechtigkeit.

Das war bereits der Urkonflikt der europäischen Demokratie in ihren griechischen Anfängen: Naturrecht der Starken gegen Naturrecht der Schwachen.

Zwiegesichtige Natur galt als grausam und unbarmherzig, als gerecht und gütig. Soll das Gesetz herrschen, vor dem alle Menschen, ob stark oder schwach, gleich sind? Oder das Prinzip der Gewalt, bei dem die Muskulösen, Gierigen, Cleveren und Bedenkenlosen die Szenerie bestimmen?

2000 Jahre Lerngeschichte – und die Menschheit hat nichts gelernt? Sie hat. Ihre Konflikte können von den Mächtigen immer weniger unter den Teppich gekehrt werden. Der Selbstverrat dringt den Menschen aus allen Poren. Was früher nie ins Volk gedrungen wäre, es zeigt sich. Es lässt sich nicht mehr diplomatisch verklausulieren und in Geheimarchiven begraben.

Der Papst verrät Merkels unfruchtbares Großmutterproblem, Merkel hält den Papst für einen Lügner. Für Seehofer ist Merkel eine Diktatorin, Merkel hält die Griechen für Bankrotteure und Schlawiner, die man peitschen muss, damit sie Vernunft annehmen. Polen, Ungarn und andere Flüchtlingsfeinde sind für die deutsche Kanzlerin falsche Christen, die nicht wissen, was Nächstenliebe ist. Trump hält Hillary für eine

lavierende Marionette, Sanders attackiert Trump als brandgefährlichen Clown, der Amerikas Supermacht skrupellos einsetzen könnte, um die goldene Stadt auf Capitol Hill zu errichten.

Die gegenwärtigen Probleme, die die Menschheit überfluten, sind Probleme der europäischen Anfänge. Die Völker: sie haben viel gelernt. Eliten hingegen lernen nur, um ihre Macht auszubauen und zu stabilisieren. Ginge es nach den Völkern, würde kein einziges Kind mehr vor Hunger sterben.

Völker kriegen Kinder, Völker flüchten mit ihren Kindern, Völker müssen zusehen, wie ihre Kinder in der Wüste verdursten, im Meer ertrinken. Völker werden beschossen, zerbombt, vergewaltigt, vertrieben.

Eliten wechseln höchstens ihre Villen. Männereliten überlassen ihre Kinder den Frauen und bezahlten Lakaien. Fliehen müssen sie so gut wie nie und wenn, im eigenen Düsenjet zu befreundeten Kumpanen andrer Staaten.

Den Starken ist das Schicksal der Ohnmächtigen gleichgültig. Sie erfinden Gottes- und Naturgesetze (besser: von schlitzohrigen Kammerdienern mit Doktortitel lassen sie erfinden), die alles, was auf Erden geschieht, mit dem Segen des Himmels absegnen. Und siehe, alles war sehr gut – wenn es von Supermännern zum Nachteil der Völker gehändelt wird.

Ein Mensch, der zum Volk spricht, vom Volk verstanden werden will, wird als Populist, als Freund des Volkes, geschmäht. Was wäre das Gegenteil? Elitist?

Die Griechen sprachen von Plutokraten, Oligarchen, Tyrannen und Despoten. Der Begriff Aristokraten – aristoi, die Besten – wahrte noch die Form der Rechtfertigung: wenn die Besten regieren, ist es nicht zum Besten aller?

Platon war so konsequent, aus dieser Überlegung die faschistische Urtheorie abzuleiten. Er übersah nur die Kleinigkeit, dass auch die Besten Tyrannen und Despoten sein können, besonders, wenn sie von der Richtigkeit ihrer Volksbeglückung felsenfest überzeugt sind – weshalb die Beglückten ebenso überzeugt sein müssen wie sie selbst.

Seit 2000 Jahren lassen Elitisten ihre bezahlten Intellektuellen sich immer neue Theorien aus den Fingern saugen, die das Volk für borniert und unfähig erklären, die hohen Gedanken der Macht zu erfassen.

Das Problem der entrechteten, verarmten und in den Staub getretenen Völker wollten Heilsreligionen lösen – indem sie die Schwachen an den Himmel verwiesen und die irdische Misere ließen, wie sie ist. Ohnehin wird das ganze Elend demnächst im Orkus verschwinden. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Der Erlöser wollte die kranke Welt heilen, indem er sie vollends begrub. Gute Werke waren nicht dazu, die Welt zu verbessern, sondern die Seligkeit der Erwählten zu erringen.

Nächstenliebe und Barmherzigkeit, die mit Welt, Staat, Naturerhalt und gerechten Gesetzen nichts zu tun haben, sind heute der letzte Verzweiflungsschrei von Demokraten, die auf Demokratie keine Lust mehr haben und nur noch situationsbedingtem Gesinnungs-Exorzismus der Frommen vertrauen.

„Gabriel will über Familiennachzug „nach Nächstenliebe“ entscheiden“. (SPIEGEL.de)

Christen können nicht lernen, denn sie dürfen nicht. Was auch sollten sie lernen, wenn sie das Wesentliche schon wissen und ihre irdische Weisheit für defekt halten müssen? Was sie zum Heil benötigen, ist nichts als blinde Übernahme geoffenbarter Wahrheiten.

Ich glaube, um zu erkennen, deklarierten die Scholastiker – um ihre Glaubenssätze als Wahrheiten zu verkaufen. Wissen, Lernen und Erkennen wurde von Kirchenvätern zum vergifteten Erbe der Heiden erklärt. Auf Augustins Grundsätzen beruhen noch immer die Lernverweigerungen des christlichen Westens.

Was will Augustin erkennen und verstehen? „Gott und meine Seele ist das, was ich verstehen will. Nichts anderes? Nein, nichts anderes.“

Von Politik, Demokratie, weltlichen Problemen, gesellschaftlicher Moral ist hier nichts zu sehen und nichts zu hören. Unbarmherziger und asozialer Seligkeitsautismus ist das exklusive, die ganze Welt negierende, Interesse des Theologen.

Der weltliche Staat wird bei Augustin zur civitas diaboli, zum Reich der Hölle, das noch wenige Tage – niemand weiß genau, wie lange – wirken und wüten darf, bevor der Herr es in den Abgrund stürzen wird. Das sind die beiden versteinerten Grundprinzipien des augustinischen Dogmas, die noch heute die Weltpolitik des Westens bestimmen.

a) Die Welt muss erobert werden, damit sie in vorauseilend-apokalyptischem Gehorsam exekutiert werden kann.

b) Das Interesse der Frommen betrifft allein ihre eigene Seligkeit. Interesse an Politik, gar an Veränderung der Verhältnisse – Fehlanzeige. Der Staat, besonders der demokratische, ist die Erfindung des Teufels und muss in allen Bereichen zurückgedrängt und zerschlagen werden. Dass der demokratische „Staat“ die Stimme des mündigen Volkes ist – umso schlimmer für das Volk.

Was den Überbau der Völker betrifft, der vor allem von Eliten geprägt wird, gab es seit dem Niedergang der Antike keinen Lernfortschritt. Was gelernt wurde, waren Techniken der Machterringung und Welteroberung. Fortschritt war die Abfolge immer leistungsfähigerer Maschinen.

Zwar wurden die Völker freiheitlicher und mündiger, doch die List der Eliten bestand darin, den moralischen und politischen Fortschritt der Allzuvielen durch immer gewitztere, unverständlichere Machtmärchen wieder einzuholen und zu egalisieren. Der Abstand von Oben und Unten verminderte sich nie, heute expandiert er ins Grenzenlose.

Repressionsmethoden, die in Demokratien verboten waren, wurden durch raffinierte Verdummungsstrategien und schwer durchschaubare Denkverbote mehr als ersetzt. Wer von morgens bis abends in allen Variationen hören muss, dass sein Denkvermögen unfrei und überschätzt ist, wer ständig als gegängelter Konsument vorgeführt wird, wer als Wählender seine Ohnmacht erlebt („wenn Wahlen etwas ändern würden, hätte man sie längst verboten“), dessen Freiheitsräume sind nicht unbedingt größer als in freien Städten des Mittelalters.

Das Mittelalter war eine fromme Epoche, die nichts mehr hasste als den freien Menschen. Die Romantik sehnte sich zurück nach dieser Einfalt des Glaubens. Renaissance und Aufklärung hielten dagegen, doch Reformation, Pietismus, Bismarck und die Kaiser unternahmen alles, um die neuen Denkfreiheiten wieder einzufangen. Der Nationalsozialismus war die Krönung eines technisch fortgeschrittenen, politisch und religiös zusammengebackenen Systems.

In der Moderne wurde Religion zur technischen und wirtschaftlichen Struktur der Staaten. Man muss kein Vaterunser oder Credo auswendig können, um durch bloße Teilhabe am öffentlichen Leben gläubigen Mechanismen unterworfen zu sein. Der neue Glaube ist Glaube ohne Bewusstsein: allein durch Algorithmen, technische Perfektion und Ansammeln ungeheurer Reichtümer kann der Mensch sein himmlisch-irdisches Heil erringen.

Die Wirtschaft sorgt dafür, dass die Erwählten immer erwählter werden, die Technik, dass Eschatologie keine sektiererische Skurrilität bleibe und die totale Verwüstung der ersten Natur längst zur realen Möglichkeit wurde. Max Weber sprach von der entzauberten Moderne. Das Gegenteil ist richtig. Die Entzauberung ist eine Verzauberung durch profane Methoden der Machterweiterung, die eine immer verheißungsvollere und angsterregendere Zukunft in Aussicht stellen.

Himmel und Hölle sind keine transzendenten Visionen mehr, sondern die beiden Fixpunkte der Zukunft, denen wir uns – scheinbar unaufhaltsam – annähern. Wenn dem Herrn der Gemeinde die Rettung eines Schafes wichtiger ist als die der ganzen Herde, erhalten wir die Konkretion dieser Quote im EINPROZENT der Erwählten. Der Rest ist für den Orkus.

Bei Roger Bacon im Mittelalter begann die Verwandlung des spirituellen Glaubens in technische Phantasien, die sich bei den Zeitgenossen Newtons zur realen Wissenschaftsreligion weiterentwickelte. Roger Bacon wollte die mühsame und nicht besonders erfolgreiche Missionierung der Heiden durch teuflische Phantasiewaffen ersetzen, die die Verstockten zum Glauben zwingen sollten. Die Newton‘sche Wissenschaftsreligion – Newton war ebenso leidenschaftlicher Wissenschaftler wie Apokalyptiker – hatte das Ziel, den jenseitigen Himmel bereits auf Erden zu errichten. Amerika wurde zum lang erhofften Neuen Kanaan, Gottes eigenem Land mitten in der bösen Welt, das die biblischen Verheißungen irreversibel aus Glauben in Schauen verwandeln sollte.

Zwar gab es immer wieder Gegenströmungen. Die Französische Revolution verhieß Gleichheit und Freiheit für alle Menschen. Doch schon stand Napoleon auf der Schwelle, um Gleichheit zu kassieren und den Völkern Europas mit militärischer Gewalt sein neues Heil aufzunötigen. Lernen durch Vernunft wurde durch Erlösungsgewalt ersetzt.

Die Linken wollten die Armen aus dem Elend holen und zu gleichberechtigten Menschen erheben. Doch schon stand Marx bereit, um den Revolutionären eine automatische Heilsgeschichte zu verordnen, auf deren Verheißungen die Linken noch heute warten. Im Vergleich zu den Gerechtigkeitsdenkern der Antike war Marx ein Rückschritt. Selbst wenn wir seine Heilsgeschichte außen vor lassen. Pöhlmann urteilt:

„Das sozialtheoretische Denken der athenischen Zeit erhebt sich zu einer Kritik des Kapitalismus und seiner Missstände, die an schneidender Schärfe der analogen Kritik eines Saint Simon und Fourier, eines Proudhon und Rodbertus, eines Lassalle und Marx nichts nachgibt.“ (Robert von Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt)

Überflüssig zu erwähnen, dass heutige Althistoriker Pöhlmann schelten und ihm vorwerfen, dass er in antiken Zusammenhängen von Kapitalismus zu sprechen wagte. Haben wir uns in der unvergleichlichen Moderne nicht längst 1000-mal neu erfunden? Was hat unsere Gegenwart mit Aristoteles zu tun?

Kein Zufall, dass die Linken zur Lutheranerin Merkel eine innige Symbiose entwickelten. Es ist wie bei Bertolt Brechts Satz: wäre es nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein neues? Merkel kann nach Belieben ihre eigene Partei ignorieren, um mit Hilfe aller anderen Parteien eine Angelokratie ad infinitum zu etablieren. (AfD noch eine Schamfrist ausgeschlossen.)

Wenn BILD-Blome Seehofers Vorwurf an Merkel, sie verwandle Deutschland in einen Unrechtsstaat, für eine Ungeheuerlichkeit hält, muss er seit längerem im Tiefschlaf gelegen haben. Brüssel ist zum hermetischen Monstrum der Geheimnistuerei, Berlin zur Zentrale einer numinosen Hirten-Theokratie geworden. Nicht mal die Namen derer, die TTIP-Akten gelesen haben, dürfen mitgeteilt werden. Je transparenter der Untertan, je undurchsichtiger die Obrigkeit. Das Göttliche muss Geheimnis bleiben, nur Eingeweihten vorbehalten:

„Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben. Jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil, auf dass sie mit Augen sehen und nicht erkennen und mit Ohren hören und nicht verstehen.“

Die Herrschaft des göttlichen Geistes setzt die Verdummung und Verblendung jener voraus, die verloren gehen sollen. Nikolaus Blome über den CSU-Chef:

„Aber sein Wort von der „Herrschaft des Unrechts“ ist mehr. Es ist bedacht ausgesprochen und in einer Art vergiftet, die sprachlos macht.“ (BILD.de)

Blome hätte Recht, wenn er Seehofer eine folgenlose und heuchelnde Merkel-Kritik vorgeworfen hätte. Seehofers Kritik an Merkel ist eine vernichtende Selbstkritik, wenn die CSU die Regierungskoalition nicht sofort verlässt. Das Dementi Seehofers ist noch katastrophaler. Niemand solle mit der Kritik verletzt werden, dass in Deutschland Unrecht herrsche. Dies sei ja nichts Neues. Der bayrische Herz-Jesu-Marxist wäre dann ein Wächter eines uralten staatlichen Unrechts.

Varoufakis, rotes Tuch deutscher Medien, will dem europäischen Niedergang entgegensteuern und die EU durchsichtiger machen. Welch ein Happen für schreibende Eitelkeitsjäger. Man stelle die aufreizende Person in den Mittelpunkt seines Berichts und erhalte automatisch die vernichtende Kritik an ihrem Vorhaben. Wer die Gesinnung im Visier hat, hat auch ihre Tat. Wer gelassen bleibt, kann nicht irren. Wer als Zukunftsforscher sich nicht ängstigt vor seinen Maschinen, muss Wohltäter der Menschheit sein. Die TAZ hat sich zu einem heroischen Pro und Contra entschieden.

Die medialen Verblödungen der neoliberalen Dekaden erreichen jetzt die Plattform der europäischen Hochpolitik. CDU-Tillich, sächsischer Ministerpräsident, warnt vor deutscher Rechthaberei gegen abweichende Meinungen in Polen oder Ungarn. Es gebe viele demokratische Entwürfe. Die deutsche müsse nicht die richtige sein.

Dann sollte man auch nicht länger an der strikten Einhaltung des Grundgesetzes und der Unantastbarkeit menschlicher Würde festhalten. Auch Scharia oder Waterboarding wären reizende Alternativen zu unbeweglichen Menschenrechten. Sollte das Grundgesetz sich nicht öfter neu erfinden? Es wäre Zeit für eine Generalüberholung. Von Datenschutz und Asylrecht ist ohnehin kaum etwas übrig geblieben.

Jeder, der seine Meinung verteidigte, weil er sie dreisterweise für richtig hielt, war für Medien ein menschenfressender Rechthaber. Vor dem unfehlbaren Feuilleton hatte man nur Recht, wenn man sich für seine Meinung nachträglich entschuldigte. Merke, Tillich: ein wehrhafter Demokrat ist ein Gnom, der sich nach Belieben in einen Affen verwandeln kann.

Jetzt kommt die Krönung der Gehirnerweichung: die Wissenschaft selbst ist es, die die alteuropäische Theorie zum Tode verurteilt. Keine Hypothesen, keine experimentelle Überprüfung, keine Falsifikation oder Verifikation mehr, sondern nur noch garantiert gedankenfreie Daten und Wolken an Informationen:

„Das traditionelle Wechselspiel von theoretischer Spekulation und harten experimentellen Fakten, das die wissenschaftliche Revolution erst möglich machte, wird für einige Apologeten des digitalen Wandels zum alten Hut. Unsere Zeit hat ihre eigenen Propheten. Und die verkünden Erstaunliches: Chris Anderson, der ehemalige Chefredakteur des Magazins „Wired“, hat öffentlichkeitswirksam den „Tod der Theorie“ ausgerufen: Verdichtende Erkenntnis sei von gestern, das Wechselspiel von Induktion und Deduktion habe ausgedient, heute reichten gigantische Datenwolken und von ungeheurer Rechenpower angetriebenes algorithmisches Durchforsten, um Korrelationen herauszudestillieren.“ (FAZ.NET)

Wenn die algorithmische Füsilierung der Theorie gelänge, wären zweieinhalb Jahrtausende europäischer Lerngeschichte für die Katz.

Was ist Theorie? Das Anschauen des Kosmos. Zu welchem Zweck? Um ein Leben in Wahrheit zu führen. Nur ein wahres Leben ist ein friedliches Leben im Reigen der Menschheit.

Die Geschichte der Theorie beginnt mit Anaxagoras. Unter Theorie verstand Anaxagoras die Anschauung und Betrachtung des Weltalls zum Zwecke der Erforschung seiner Zusammenhänge und seines Wesens. Es ist ein neues Lebensideal, wenn Anaxagoras „die Betrachtung der Sonne, des Mondes und des Himmels“ als ausschließlichen Lebenszweck für sich bezeichnet und sich von der Forschung eine geistige Befreiung verspricht. Dies Lebensziel war ihm die größten Opfer wert.

Anaxagoras ist der erste Philosoph, von dem wir hören, dass er um der Forschung willen auf sein ganzes Vermögen verzichtete. In Athen lebte er, so gut wie mittellos, von der Freundschaft des Perikles. Sein Verzicht auf Besitz sollte zur Erkenntnis der Welt als Heimat aller Menschen führen. Nicht mehr galten die engen Grenzen der griechischen Polis, die Theorie führte zur Proklamation des kosmopolitischen Lebens. Wurde er nach seinem Vaterland gefragt, deutete Anaxagoras zum Himmel. Mit dem Verzicht auf äußere Güter und Ehren verband Anaxagoras ein hohes Selbstbewusstsein: er war stolz darauf, in der Erforschung der Natur einen unverlierbaren Wert gefunden zu haben.

Durch seine Loslösung von der zufälligen Gemeinschaft einer Polis wird Anaxagoras zum Vorläufer des hellenistischen Weltgefühls, mit seiner in sich ruhenden Persönlichkeit zum Vorgänger der sokratischen Autarkie. Die Theorie, das Anschauen der Welt, hatte Anaxagoras zum ersten Weltbürger der europäischen Geschichte erhoben. Das theoretische Leben, die staunende Erkenntnis dessen, was ist, wurde zur conditio sine qua non eines praktischen Lebens in demokratischer Erfüllung.

Theoretisches Denken wird heute durch Produktion von Myriaden an Informationen erstickt. Nicht, was ist, soll abgebildet werden. Sondern, was der Mensch will, dass es sei, soll ex nihilo aus dem Boden gestampft werden. Die Wirklichkeit soll Abbild des gottähnlichen Ich sein. Ich setze Mich, Ich setze die ganze Welt. Der deutsche Idealismus – Sprössling protestantischer Pfarrhäuser – wurde zur philosophischen Grundlage der technischen Hybris der Moderne.

Die standardisierte Frage in Wissenschaftsmagazinen: können wir die steigenden Fluten an Daten und Informationen noch überblicken und bewältigen, ist leicht zu beantworten. Natürlich nicht. Wir sollten es gar nicht erst versuchen. Die meisten sind Tand und Schrott, lenken nur von den wenigen Grundfragen der Menschheit ab, auf die es wirklich ankommt. Darunter die wichtigste: was können wir tun, damit wir allen Menschen nützen und niemanden schaden?

Töricht, wer sich von quantitativen Unendlichkeiten ins Bockshorn jagen lässt. Quantifizieren heißt messbar machen, um das Gemessene unter Kontrolle zu kriegen. Theorie um des wahren Lebens willen wurde verfälscht zur Praxis der Weltbeherrschung, Wissen zur Macht, Wissenschaft zur Machenschaft.

Ohne theoretisches Leben gibt es kein praktisches in Würde und Freiheit. Wer die ureuropäische Schau des Kosmos vernichtet, ist dabei, sich selbst auszulöschen.

 

Fortsetzung folgt.