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Europäische Idee X

Hello, Freunde der europäischen Idee X,

was käme nach Merkel? Also Merkel!

Schon die Frage ist pervers. Wer und wozu Merkel? Darf eine Demokratie ihr Schicksal von einer Person abhängig machen? Hinge Deutschlands Heil von einem einzigen Menschen ab, wäre das Land untergangsreif. Dieser einzige Mensch müsste ein Heiland, eine messianische Führergestalt sein. Hatten wir das nicht bereits? Haken wir es ab – für immer.

Je mehr die Politik auf Personen reduziert wird, je demokratieunfähiger werden wir. Oh spottet nicht, meine Schwestern und Brüder: Vergesst Merkel & Co, Deutschlands Schicksal hängt von uns ab.

Demokratie ist keine theokratische Monarchie, keine gefühlsschwangere Madonnenherrschaft, keine verantwortungs- und schuldunfähige Kontingenz-Akzeptanz oder sonstige Geheimnis-Verzauberungs-Observanz. Zufälle darf nur die gesetzmäßige Natur liefern. Solange sie uns nicht die rote Karte zeigt, sind wir für die Erhaltung ihrer geliehenen Überlebensnische allein zuständig.

Gegen Dirk Steffens bei Markus Lanz: Tierarten sterben irgendwie aus? Nein, sie werden vom Menschen ausgerottet!

Sascha Lobo im SPIEGEL: „Wie kann man ernsthaft von „Merkel-Diktatur“ sprechen, weil einem zwei Regierungsentscheidungen nicht passen?“

Es geht doch nicht um Peanuts. Wie wollen wir nennen, was nicht demokratisch ist? Faschistisch, totalitär oder diktatorisch? Ein Diktator hat keine Heilsideologie, seine Gewalt-Methoden können aber dieselben sein.

Postdemokratie ist undemokratisch, also faschistisch oder diktatorisch. Posthumanismus ist menschenfeindlich, also faschistisch oder diktatorisch. Postmoderne ist wahrheitsfeindlich, also Despotie der Lüge, der alles

relativierenden Unwahrheit und erkenntnislosen Dummheit.

Roland Barthes, Star der Postmoderne, schmäht die sokratische Hebammenkunst, dessen Frage- und Widerlegungsmethode das Bestreben sei, „den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen.“

Wie kann man sich widersprechen, wenn man die schlichten Regeln der Logik verwirft? Wie kann das Offenlegen des eigenen Nichtwissens oder Irrens eine Schande sein, wenn das Wissen des Nichtwissens die philosophische Voraussetzung des Lernens und eigenständigen Denkens ist?

Barthes‘ Hass gegen die Mäeutik verrät das mangelnde Selbstbewusstsein der Gegenwart, ihre Unfähigkeit zur Selbstkritik, ihre dogmatische Verhärtung und Unfehlbarkeit. Ohne ständige Bereitschaft zur korrektiven Selbstbesinnung – nicht identisch mit läppischer Gleichgültigkeit gegen Wahrheit, Verblendung, Lüge und Irrtum – kann keine Demokratie überleben.

Zuerst sterben die Begriffe, dann diejenigen, die sie haben sterben lassen, pardon, sie abgewürgt und erdrosselt haben. Wir haben noch keine komplette Diktatur, indeed. Noch können wir uns wehren. Doch von allen Seiten wird Demokratie eingeschnürt und stranguliert. Wie lautet die neueste – eigentlich uralte, inzwischen aber dreist ausposaunte – Grunddevise der herrschenden C-Partei? „Einfach mal die Klappe halten“?

Wer bekämpft in der Türkei, in Ungarn, Russland, Polen systematisch die öffentliche Meinung? Wo werden Whistleblower, die ihre Nation vor antidemokratischen Machenschaften warnen, verfolgt, vor den Kadi gezerrt und weggesperrt? Welche vier Monopolisten beherrschen die Weltwirtschaft und wollen die Zukunft des Planeten im Alleingang bestimmen? Welche Geheimdienste und sonstige Datensammler wissen schon mehr als alles über Lieschen Müller? Welche öffentlich-rechtlichen Sender der BRD lassen sich von Politikern vorschreiben, welche Parteien sie zur Wahlkampfdebatte laden? Hat Merkel den leisesten Versuch unternommen, „ihr Volk“ in der Flüchtlingsfrage „mitzunehmen“? Von den europäischen Verbündeten ganz zu schweigen? Alles demokratisch, ja?

Kann es sein, dass die EU eine übernationale demokratische Einrichtung ist? Kein einziger Parlamentsbeschluss, nirgends. So gut wie keine Debatte im Hohen Haus, das zum stummen Haus folgenloser Schwätzer degradiert wird. Mit Ausnahme der bombastischen Suiziddebatte nur noch Fraktionszwang, auf Deutsch: Maul halten ist die erste Bürgerpflicht.

In wie weit ist die EU eine stabile Demokratie? Noch immer ist das europäische Parlament keine gleichberechtigte Dritte Gewalt. Volksabstimmungen sind abgeschafft. Vor kurzem mussten sie so oft wiederholt werden, bis das Volk das von Oben erwünschte Ergebnis vorlegte.

In Wirtschaftsdingen sind die Nationen zu gnadenlosem Wettbewerb verurteilt: solidarisches Verhalten verboten. Ist Hauen und Stechen demokratisch? Keine gemeinsamen Sozial- und Finanzstandards in der europäischen Union, die sich ihrer christlichen Werte rühmt. Eine Soliabgabe, wie gegenüber den Ossi-Ländern, ist gesamteuropäisch verboten. Was wäre, wenn das reiche Bayern sich zum Berliner Stadtstaat verhielte, wie Merkel & Schäuble gegen Griechenland und andere Mittelmeerländer?

Und wie steht‘s mit der Lügenpresse? Das wäre ja was, wenn sie lügen würde. Lügen heißt vorsätzlich und bewusst die Unwahrheit sagen. Es ist schlimmer. Die Medien haben sich zum integralen Bestandteil der Eliten hochgemausert: ein wenig Alibi- und Spielkritik, damit die Aggressionen der Meute kanalisiert und beruhigt werden.

Zum Dank für ihre klerikale Kalmierungspolitik wurden sie zur Führungsklasse erhoben. Das war‘s. Die SZ prahlt mit ihren jährlichen Berlin-Partys. Ehrengast: eine gewisse Merkel. Sonst noch Fragen, Kienzle?

Und wie sie sich empören über den Shitstorm des empörten, unsagbar intelligenzfreien Pöbels! Wie wär‘s mit Analysen und Erklärungen, anstatt penetrant die ewig gleichen Symptome aufzuschäumen? Doch ja nichts erklären und verstehen. Das wäre Absegnen des Gottseibeiuns. Deutsche Sprak, schwere Sprak. Wie lange noch wird eine Nation, die ihre eigene Sprache plus logische Grundrechenarten verkommen lässt, ihren demokratischen Schein aufrechterhalten können?

In der Tat, im Shit des erwachenden deutschen Untertanen ist uralter Hass gegen die Eliten aufsummiert. Wenn man jahrhundertelang seine Meinung nicht sagen durfte, ist man unfähig, die neu gewonnene – zudem noch anonyme – Artikulationsmöglichkeit in gesitteter Diskursfähigkeit zu äußern. Wollt ihr die Gefühlskloaken einer lang unterdrückten Bevölkerung kennen lernen, dann lest ihre unflätigen Bemerkungen.

Schon mal von Freuds Über-Ich gehört? Sind die pfiffigen Zeitgeistanbeterjournalisten von dieser Instanz befreit? Je tabuisierter die Gebote und Regeln des Über-Ichs, umso bewusstseinsloser werden sie. Es gibt auch ein kollektives Über-Ich. Welch dämliche Auskunft: so viele Redaktionen von innen gesehen, doch von Absprachen habe ich nichts bemerkt.

Dann das Gerede von den Verschwörungen. Ist es Frucht einer geheimen Verschwörung, dass Gläubige einer Religion dasselbe zu glauben haben – und überwiegend auch glauben? Nicht anders die Mächte der Tradition. Die meisten Traditionen – sofern sie denn bewusst waren – sinken ab ins kollektive Es. Wir werden von Mächten bestimmt, die wir nicht kennen und nicht kennen wollen.

Alles, was man heute über Verbrechen und Machenschaften der Geldeliten weiß, wäre vor wenigen Jahren kleinbürgerlich antikapitalistische Verschwörung gewesen. Alles, was man heute über die gigantische Weltmacht der Milliardäre weiß, wäre vor kurzem populistische Versimplifizierung gewesen.

Noch immer gehen die Medien mit dem Selbstbild hausieren, sie hätten es vor allem mit Tatsachen zu tun. Das ist positivistische Wildwest-Ideologie. Tatsachen sind Ergebnisse von Gedanken, die sich per Macht und Gewalt resistent und konkret gemacht haben. Es gibt nur einen Wunderschlüssel, um Tatsachen zum Reden zu bringen: das ist der eigene Kopf, das sapere aude Kants. Die Welt ist keine digitale Datensammlung, sondern eine eingefrorene, zusammengebackene, machtgestützte Mixtur aus Gedanken, die untereinander kollidieren, gegeneinander wüten und im dialektischen Einheitsbrei sich gegenseitig auffressen.

Haben die Medien den Neoliberalismus mit Entschiedenheit bekämpft? Attackieren sie die Steuerhinterziehungen der Reichen mit eiserner Konsequenz? Wie sie ständig den Staat abschirmen: „der Staat ist überfordert, Merkel bleibt gelassen, unbeirrt“. Alles zu komplex, als dass der Untertan etwas verstehen könnte.

Die Abwimmelungsthese von der Komplexität soll die Mächtigen vor Kritik schützen: der Pöbel ist zu dumm, um Demokratie zu verstehen. Komplexität ist die Erbin kirchenväterlicher Selbsterniedrigung: Ich glaube, weil es absurd ist. Hier wird Gott immunisiert, dort seine weltliche Obrigkeit.

Wie Gottes Wege wunderbar und unerforschlich sind, so Merkels Brutalitäten gegen die Griechen und ihre neu entdeckte Agape gegen die Flüchtlinge. Überlasst das Denken den Elefanten, nur sie haben die passenden Schädel. Jedes Jahrzehnt, das der Herr in seiner unermesslichen Güte übers Land kommen lässt, werden neue ideologische Wälle erfunden, die rund um die Macht der Eliten postiert werden, um sie gegen unqualifizierte Angriffe der Straße zu schützen. Selbst die FAZ hat schon bemerkt, dass die Welt nicht ganz in Ordnung sein kann – wenn EINPROZENT Magnaten den Reichtum der Welt abkassieren.

„Die 7,6 Billionen Dollar, die weltweit in Steueroasen liegen sollen, sind ein viel größeres Problem als der Kontostand von Bill Gates. Das ist, diesseits aller schrägen Berechnungen, der Kern der Klage von Oxfam: dass es riesige Wohlstandsunterschiede gibt, die sich jeglichem Versuch entziehen, auf Arbeit, Produktivität, Originalität, Intelligenz oder Entscheidungskraft zugerechnet werden zu können.“ (FAZ.NET)

Paul Kirchhof, meinen Sie das im Ernst?

„Der Staat muss das Recht täglich als unverrückbare, unausweichliche Regel gewährleisten, als sichtbare, tatkräftige Ordnungsmacht den Frieden im Recht wahren oder wiederherstellen.“

Welcher Staat? In einer stabilen Demokratie gibt es keinen Staat. Der Staat – das sind wir. Nur Demokraten erfinden und gewährleisten das demokratische Recht. Ohne aufrechte Kämpfer um Freiheit und Selbstbestimmung keine humane Justiz, keine menschlichen Regeln des Zusammenlebens.

Die Schule vermittele und fördere „die Fähigkeit zum Teilen, Mitteilen, Verteilen. Das Arbeits- und Wirtschaftsleben entfaltet individuelle Leistungsfähigkeit, verbreitet die Freude am eigenen Werk“?

Das sind Märchen aus Tausend und einer Nacht aus Karlsruhe. Wenn alle Schüler dieses Landes das Teilen und Verteilen gelernt hätten, wie wäre das Elend und die Not der „Verlierer der Moderne“ zu erklären? Wie konnte es zu Losern kommen, zum ungeheuren Gefälle von Oben und Unten?

Ohne Generalangriff gegen die Vernunft kein Artikel der Repräsentanten dieser Gesellschaft:

„Zudem wird die Vernunft auch bewusstmachen, dass der Mensch, das Staatsorgan wie der betroffene Bürger, nicht nur vernünftig handelt. Der Mensch will auch feiern und sich begeistern, lachen und weinen, musizieren, malen und dichten. Er will staunen, verehren, lieben, sich verzaubern lassen. Er will hoffen und vertrauen. Der moderne Mensch wird sich dieses Glück der Vielfalt und Offenheit nicht durch Entzauberung der Welt nehmen lassen. Eine rein vernunftbestimmte Welt verspricht nicht Glück. Sie wäre inhuman. Deshalb ist es gut, dass es sie nie geben wird. Der Rechtsstaat gewährleistet diesem in Vernunft reflektierenden und in Unvernunft verzauberten Menschen Frieden, wenn er Sicherheitsrisiken von den deutschen und europäischen Grenzen fernhält.“ (Paul Kirchhof in FAZ.NET)

Noch immer gilt der verheerende Satz Adornos und Horkheimers: Vernunft ist totalitär. Wie viel Vernunft erforderlich ist, um den Staat als Maschine am Laufen zu erhalten, und wie Vernunft im Übermaß schädlich werden kann, darüber entscheiden – die Eliten.

Ist das zu glauben: wer feiert, lacht und weint, ist jenseits der Vernunft? Das ist nicht nur bodenlose Vernunftfeindschaft, das ist prinzipieller Hass gegen Aufklärung und Selbstbestimmung des Menschen. Zugunsten einer postromantischen „Verzauberung“ der Welt und der Feier des „Geheimnisvollen“. Mit anderen Worten, zugunsten des numinosum und tremendum der Religion.

Was der Oberrichter Verzauberung nennt, nannte Novalis das Romantisieren der Welt. Wer die sündige Welt nicht erträgt, verwandele sie – wie der Priester Brot und Wein in Leib und Blut Christi – poetisch in den Vorschein der Ewigkeit.

Und wozu die ganze Predigt à la Novalis? Um Deutschland vor allzu vielen ausländischen Subjekten zu schützen, die nicht in der Lage sind, das hohe deutsche Recht zu verstehen, unter andächtigem Hören wertvoller deutscher Musik und im innigen Verstehen der allerhöchsten deutschen Bildungskultur.

Deutschland hat nicht nur demokratische Rechte zu verteidigen, sondern Jesus, Beethoven, Nietzsche, Goethe, die Regensburger Domspatzen – wo ein gewisser Ratzinger zuschaute, als die Knaben alltäglich gequält und missbraucht wurden – und nicht zu vergessen: den deutschen Sport in seiner herrlichen Verkommenheit. Liest man Paul Kirchhof, sieht man Deutschland als fast perfekte Synthese aus Grundgesetz, VW-Müller und Thomas Gottschalk.

Nun debattieren die Deutschen. Ein erfreuliches Zeichen – aber nicht für Deutsche. Sie schäumen, dass sie mitschäumen müssen. Nicht, dass Deutsche streiten könnten. Wann gab es den letzten gediegenen Streit in den Medien? Doch nun könnten sie es lernen. Nützliche Beiträge zum dialogischen Streiten aber suchst du vergeblich. Die Schäumenden begnügen sich, die Symptome mit Pfefferspray zu attackieren und mit Tränengas einzunebeln. Historische Ursachen der Symptome gibt es für deutsche Seinsvergessene nicht. Jagoda Marinic spricht in der TAZ von Hysterie, die sich nur hysterisch beruhigen könne:

„Wenn Hysteriker reden, gibt es keine Lösungen, nur mehr Aufregung, denn Hysteriker fühlen sich durch Aufregung beruhigt. Wolfgang Schäuble, statt zu beruhigen, will nach Köln über die Möglichkeit von Bundeswehreinsätzen im Innern reden. Eine Nummer kleiner wäre wohl nicht hysterisch genug. Erst wenn alle durchs Land eiern wie aufgeschreckte Hühner, findet der Hysteriker Genugtuung.“ (Jagoda Marinic in TAZ.de)

Deutsche Philosophen stritten nicht. Sie hatten recht. Hatten sie mal nicht recht, wurden sie ironisch, zynisch oder nihilistisch. Der deutschen Ironie – einer Erfindung der alles verstehenden und anempfindenden Romantiker – ist es ernst mit nichts. Zwischen ichloser Überidentifikation mit der ganzen Welt, die unterschiedslos alles für richtig hält, und göttlicher Unfehlbarkeit, die nichts für wahr hält, was ihr widerspricht, kann sich kein Klima gleichberechtigten Disputierens entwickeln.

Sokrates hat in der deutschen Philosophie keine Spuren hinterlassen. Ausgenommen bei den jüdischen Aufklärern Moses Mendelssohn und Salomon Maimon. Im Gegenteil: die sokratische Fragetechnik wurde für jene, die der „Schande des Widerlegens“ entgehen wollten, zur Technik der Manipulation und Seelenverführung.

Stattdessen wurde die Pawlow‘sche Speichelabsonderung fortentwickelt zu Skinners unbewusster Konditionierung (der heutigen Verführungskunst der Werbepsychologie), zur Technik aller rhetorischen und sensuellen Konsum-Überrumpelung. Kein betriebsberatender Coach, kein trainierender Motivator im Hochleistungssport, die solche fremdbestimmten Bestraf- und Belohnungssysteme nicht anwenden würden.

Mäeutik, die Kunst des Überzeugens und Widerlegens, spricht den mündigen Menschen an, der selbst entscheidet, ob er errötend der Spur der Wahrheit folgen will. Reiz- und Reaktionsspiele sprechen das unmündige Kind an, das nichts anderes kennenlernen durfte als Außenlenkung durch strafende und belohnende Autoritäten.

Marinic, ursprünglich keine Anhängerin der Kanzlerin, bewundert heute die Standfestigkeit der unbeugsam scheinenden Moralistin:

„Heute kriege ich mit jedem Tag mehr Angst vor einer Zukunft ohne sie. Jetzt, da sie endlich tut, was man immer von ihr gefordert hat, nämlich Haltung zeigen, gerät ihre mächtige Gelassenheit ins Wanken. Das Gute: Merkels Leidenschaft kommt zum Vorschein. Das Schlechte: Seit ihrer Standhaftigkeit in Sachen Flüchtlingspolitik sieht man Merkel immer wieder gebeugt, ratlos und klein – den Gipfel dieser Bildsprache erreichte Seehofer mit seiner Rede auf dem CSU-Parteitag: Da stand sie neben ihm wie ein gescholtenes Kind. Demontieren sieht genau so aus.“

In Amerika erfuhr die Autorin mit Erstaunen, dass Merkels Deutschland das „mutigste, vitalste und interessanteste Land der Welt“ sei. Deutschland habe jene vorbildliche Rolle eingenommen, die bislang das Privileg Amerikas war.

„Die Reife einer Demokratie zeigt sich an ihrem Vertrauen in die eigene Fähigkeit, noch im größten Stimmengewirr eine Richtung herausarbeiten zu können, der viele trotz unterschiedlicher Positionen folgen können. Kurz: Die Reife zeigt sich an der Zuversicht. Nicht mehr und nicht weniger bedeutet Merkels „Wir schaffen das“. In ihrem Vertrauen auf Vernunft wirkt Merkel fast würdevoll.“

Die Autorin ignoriert völlig die religiöse Charakterprägung der Lutheranerin. Damit steht sie nicht allein. Ganz Deutschland verdrängt, dass ein Abendland mit christlichen Werten die Kraft und Fähigkeit haben müsste, seine Bewohner mit eben diesen Werten psychologisch und philosophisch zu formen. Die Deutschen wollen christlich sein – ohne im Geringsten christlich geprägt zu sein. Das kann nur ein Wunder sein.

Merkel folgt keiner Vernunft, sondern den Weisungen ihres Herrn und Heilands. Ihre Standfestigkeit ist die nach außen gewendete dogmatische Starre ihrer persönlichen Erleuchtung, der es gleichgültig ist, ob andere von ihrer Haltung überzeugt sind oder nicht. Merkels Haltung ist keine Haltung einer demokratischen Moral, die stets bestrebt sein muss, Mehrheiten durch Argumente zu gewinnen. Wir schaffen das: ist eine harte missionarische Durchhalteparole, kein Zeichen eines lustvollen und vorbildlichen Animierens und Ansteckenwollens.

Hätte Merkel weniger als das chauvinistische Maximum versprochen  wir Deutsche schaffen es  und eine schlüssigere Politik vorgelegt, hätte sie mehr Flüchtlinge aufnehmen können als jetzt, wo sie das Blaue vom Himmel verspricht und die ganze Welt störrisch gegen sich aufbringt. Hilfloses Helfersyndrom  das ist deutsches Wollen und nicht Können. Das ist religiöse Phraseologie. Herz und Vernunft müssen kooperieren, damit sie sich nicht gegenseitig beeinträchtigen.

Die Deutschen, in vielen Jahren neoliberaler Indoktrinierung zur Amoral konditioniert – „Geiz ist geil“, „Ich bin doch nicht blöd“ – sind umgekippt in einen immensen Hunger nach Moral. Zu Beginn der Nachkriegsdemokratie war die Kompromiss-Fähigkeit eines Demokraten für sie eine undeutsche Charakterlosigkeit. Als sie den Kompromiss schließlich verinnerlicht hatten, empfanden sie jedes kompromisslose Durchpreschen als dogmatische, ja totalitäre Überheblichkeit. Heute eine erneute Reaktionsbewegung vom ewigen Sowohl-Als-Auch zum rigorosen Entweder-Oder.

Tatsächlich ist das mühsam erlernte Kompromissverhalten bei den meisten deutschen Politikern zur Gesinnungslabilität verkommen. Nach Jahren professioneller Politarbeit wirken die meisten wie ausgelaugte, nach allen Seiten biegsame Äste im Wind. Gesinnung aber und Kompromiss schließen sich nicht aus, wenn die ursprüngliche Gesinnung nicht verdrängt wird zugunsten einer allesbeherrschenden Machtstrategie.

Die Gesinnungslosigkeit der Grünen ist soweit gediehen, dass sie – nicht anders als Merkel – den Umfragen abschauen, was sie wollen sollen, damit das Publikum sie wählen kann. Hier ist Kompromissfähigkeit zur Gesinnungslosigkeit verkommen.

Eine wahre Gesinnungsfestigkeit kann man daran erkennen, dass man – bei allem Entgegenkommen – dennoch zäh und geduldig in die Richtung des ursprünglichen Wollens steuert.

Etwas anderes ist es, wenn die anfängliche Position durch Lernen eines Bessren sich tatsächlich verändert hat.

Die deutsche Kluft zwischen Gesinnung und Verantwortung, Rigorismus und Pragmatismus, messianischem Führerkult und unterwürfiger Hörigkeit hat dazu beigetragen, dass die Deutschen entweder flexibel-machtgeil – oder dogmatisch starr und kompromissunfähig geworden sind. Es käme aber darauf an, Festigkeit und Transparenz des Denkens mit notwendiger Kompromissfähigkeit zu verbinden.

Von daher ist verständlich, dass viele Moralisten – des ewigen machiavellistisch empfundenen Kompromisseschließens überdrüssig – sich nach einer festen ethischen Haltung sehnen. Merkels untrüglicher Instinkt hat diese neue Wendung sofort gespürt und aufgenommen, um einen verblüffend neuen Moralismus zu entwickeln. Doch ihre Haltung ist keine Standfestigkeit, sondern eine missionarische Superiorität über alle Alternativen. Ihr Gutsein verbindet sie mit bedingungslosem Macht- und Führungsanspruch über alle Konkurrenten im In- und Ausland.

Hatte sie im Falle Griechenland durch Amoralismus die Führung über Europa an sich gerissen, will sie nun ihre deutsche Hegemonie durch aparten Moralismus fortführen.

Diesen deutschen Führungsanspruch im Amoralischen wie im Tugendhaften hat der französische Gelehrte Ernest Renan schon 1870 erkannt:

„Solche Geister glauben sich beauftragt, die Tugend zu rächen und den verderbten Nationen wieder aufzuhelfen. In ihrer Überspanntheit verstehen sie unter dem Deutschen Reich keine begrenzte Nationalität. Was sie wollen, ist eine Weltwirkung der deutschen Rasse, die Europa erneuern und beherrschen soll. Die Tugend durchzusetzen, ist nur eine altmodische Bezeichnung für die Überlegenheit des Starken und Rohen.“ (Zitiert nach Heinrich Mann, Essays)

Merkels plötzliche Heilsgewissheit – nicht identisch mit vernünftiger und demokratisch vermittelter Moral – ist die Maske ihres altlutherischen Autismus und einer machtbewussten Rohigkeit, die sich allen Argumenten entzieht: Hier stehe ich, ich kann nicht anders.

„Ich stehe ziemlich allein in der EU. Aber das ist mir egal, ich habe recht“.

 

Fortsetzung folgt.