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Europäische Idee VII

Hello, Freunde der europäischen Idee VII,

Deutschland, das Land der Mitte, welches seine Mitte nie gefunden hat. Nie finden wollte. „Verlust der Mitte“, bedeutete für den Kunsthistoriker Hans Sedlmayr kurz nach dem Krieg den Verlust des christlichen Glaubens.

Links, rechts, Mitte sind quantitative, statistische Größen, die mit beliebigen Qualitäten gefüllt werden können. Der Vorrang der quantitativen Forschung in der Moderne führte zur Unsitte, Qualitäten quantitativ zu definieren. Es waren historische Zufälle, dass die Linken im Parlament links saßen. Wären die Rechten links gesessen, wären sie heute die Linken.

Debatten um Begriffe müssen qualitativ geführt werden. Weder Sitzordnungen noch quantitative Quoten bestimmen den Wahrheitsgehalt politischer Gedanken und Positionen. Vermutlich waren es traditionelle Assoziationen, die die Rechte als privilegierte Instanz vor der Linken auszeichneten. Die Rechten sind in der Regel die Konservativen, denen die Macht zusteht, um sie vor aufmüpfigen Angriffen der Linken zu schützen.

„Und die Schafe wird er zu seiner Rechten stellen, die Böcke aber zur Linken.“ „Deine Rechte ist voller Gerechtigkeit.“ „Hilf mit deiner Rechten.“ „Die Rechte des Herrn behält den Sieg.“

Hätte man sich gesellschaftlich über den Gehalt von „links“ geeinigt, könnte man den Begriff als pars pro toto benutzen. Begriffe aber sind für eine wahrheitslose Gesellschaft wie Schall und Rauch. Hier hat Goethe, der den kränkelnden Romantikern näher stand als der klassischen Vernunft, die Gleise der deutschen Entwicklung ins

Nebulöse gestellt.

„Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.“

Das naive Gretchen ist viel angriffslustiger und streitfähiger als der hohe Professor, der zwar wissen wollte, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber unfähig war, die berechtigten Fragen und Vorwürfe seines Liebchens zu beantworten. Seine kleinlaute Antwort gleicht einer intellektuellen Bankrotterklärung.

Wie reagiert ein deutscher IQ-Macho, wenn ihm nichts Sinnvolles mehr einfällt? Er degradiert seine Gesprächspartnerin zum Kind. Frauen sind keine Partnerinnen auf gleicher Gedankenhöhe. Nur wenn sie sich rauhbauzigen Männerregeln beugen, können sie – vielleicht – ernst genommen werden. Solange die Gretchens dieser Welt süße Kinder bleiben, wird das sexuelle Begehren ihrer Galane zur verbotenen pädophilen Lust, die nur durch Zeugen von Kindern legitimiert werden kann.

Gleichzeitig waren die Männer so eifersüchtig auf die unaufbrechbare Mutter-Kind-Dyade, dass sie seit Aufkommen des Kapitalismus nicht mehr ruhen und rasten, die um den idyllischen Herd gruppierte Dyade mit allen Mitteln aufzubrechen.

Jetzt haben sie es geschafft. Moderne Mütter sollen ihre Bälger als delegierbare Menschenware betrachten, damit sie ihre eigentliche Bestimmung beim heteronomen Malochen finden. Der Vorgang ähnelt dem Outsourcen der Betriebe in fremde Länder, in denen das Produzieren von Waren kostengünstiger ist als bei den maßlosen Löhnen zu Hause.

Margarete:

Wenn man’s so hört, möcht’s leidlich scheinen,
Steht aber doch immer schief darum;
Denn du hast kein Christentum.

Faust:

Liebs Kind!

Später nennt Faust das Gretchen gar liebe Puppe. Der Puppe entschlüpft endlich der „ahnungsvolle Engel“. Gretchen wird zum leblosen Spielzeug, das man eine Zeitlang benutzen, bei Nichtgefallen verklären – und aussortieren kann. Dann müssen Mutter und Kind sterben. Und das beim Weiberhelden Goethe, der sich gern als androgynes Fabelwesen feiern ließ.

Merkels Karriere ähnelt verblüffend der Entwicklung Gretchens von der naiven Kindsfrau, die man nicht ernst nehmen konnte, bis zur engelhaften Mutter, die man für grenzenlose Liebesfähigkeit anbeten darf. Nur so sind die Liebesgeständnisse der Promis verständlich: noch nie war mir Merkel so sympathisch.

Dem Vorwurf Gretchens: Du hast kein Christentum, hat der eloquente Himmelsstürmer nichts entgegenzusetzen. Als dezidierter Nichtchrist sah Goethe keine Notwenigkeit, den neu entdeckten und übersetzten Koran abzulehnen. Im west-östlichen Divan verschmolz der Heide mit der Weisheit des nahen Ostens.

Heute besitzen die Deutschen nichts mehr, was sie mit Verve verteidigen müssten. Andererseits reagieren sie mit übermäßiger Härte, wenn sie sich vom Fremden bedroht fühlen. Bei Goethe war es das Christentum, das er nicht mehr verteidigen konnte. Heute sind es abendländische Werte – eine Mischung aus viel Credo und wenig Demokratie –, die sie einer multikulturellen Kernschmelze dahingeben, um kurz darauf mit wütender Intoleranz alles Nichtdeutsche vom Tisch zu fegen.

Einerseits dulden die dialektischen Weltmeister keine unvereinbaren Widersprüche und synthetisieren Gott und Teufel, Tod und Leben, deutsche Überheblichkeit und romantisches Allesverstehen zur gottwohlgefälligen besten aller Welten. Andererseits wittern sie hinter der kleinsten Kritik blasphemisches Tun gegen ihre Unfehlbarkeit und müssen gegen alles undeutsche Wesen einen Glaubenskrieg mit Feuer und Schwert führen.

Die Deutschen haben weder Maß noch Mitte. Die maßvolle Mitte bei Aristoteles war die Mitte zwischen zwei Extremen. Hier spürt man die Praxis der Volksabstimmung: die große Mitte zwischen zwei abweichenden Meinungen entschied über die Politik. Ein Allheilmittel ist die Mitte nicht. Ist das Kollektiv krank, muss die Mitte zwischen zwei kranken Extremen ebenfalls krank sein. Siehe das Dritte Reich.

Eine stabile Demokratie erkennt man an ihrer vernünftigen Mitte. Ist sie nicht mehr vernünftig, droht der Demokratie Gefahr.

Gegen frauenfeindliche Übergriffe unternehmen deutsche Polizisten fast nichts, gegen harmlose Linke wüten sie in Bataillonenstärke:

„Die Polizei rückte mit 200 Beamten zu einem spektakulären Einsatz an, ein Spezialeinsatzkommando drang in das vor allem von Linksradikalen bewohnte Haus ein, Hundestaffeln standen parat, über der Szenerie kreiste ein Hubschrauber, 300 weitere Kräfte sicherten die Umgebung.“ (SPIEGEL.de)

Banken, die in verbrecherischer Unverschämtheit Milliarden in den Sand setzten, wurden von Merkel & Co großzügig saniert, Hartz-4-Empfänger werden wegen 10 Cent vor dem Bundessozialgericht verklagt. Wer es wagt, den deutschen Rechtsstaat anzugreifen, muss mit der „vollen Härte“ desselben rechnen; wer ihn mit Grandezza übertölpelt, kommt mit mildem Tadel davon. Gegenüber bösartigen Untertanen geht es um Prinzipien, gegenüber weltkundigen Bankiers um wirtschaftliche Klugheit.

Oben machiavellistische List und Tücke, unten erbarmungslose Härte des Gesetzes. Oben Pragmatismus und Staatsraison, unten der kategorische Verfluchungsimperativ. Die wirtschaftlich schwachen Griechen werden mit beispielloser Härte gewürgt und geknebelt, die weltbeherrschenden too-big-to-fail-Banken dürfen riesige Boni an ihre Hauptakteure verteilen, selbst wenn sie die Weltwirtschaft ins Wanken bringen.

Das sind uralte Regeln der Priesterherrschaft: für das Volk die Zehn Gebote, für den Klerus die antinomische Regel, dass Auserwählten alles erlaubt ist – wenn sie im Namen Gottes agieren.

„Das Bundessozialgericht in Kassel soll sich nach dem Willen des Jobcenters Unstrut-Hainich-Kreis mit einem Streit um zehn Cent befassen. Das Jobcenter war in einem Rechtsstreit mit einer Hartz IV-Empfängerin, die mehr als 100 Euro geltend machte, im Juni 2012 vom Sozialgericht in Nordhausen zur Nachzahlung von zehn Cent verurteilt worden. Dagegen legte die Behörde Berufung ein.“ (SPIEGEL.de)

Maß und Mitte fehlen den Deutschen. Maß ist heidnisches Mittelmaß, die Mitte nur gefragt, wenn Parteien in den Wahlkampf ziehen, um die Massen für sich zu gewinnen.

„Je knechtischer auf der einen Seite, desto zügelloser ist der Deutsche auf der anderen; Beschränktheit und Maßloses, Originalität, ist der Satansbraten, der uns mit Fäusten schlägt.“ (Hegel über die Deutschen)

Das Maßlose ist das grenzenlose Risiko, das jeder auf sich nehmen muss, der die Welt gewinnen will. Originalität ist Zwang, sich täglich neu zu erfinden – besonders nach Niederlagen –, um aus Krisen Erfolgsmeldungen zu machen. Knechtisch gegen die herrschenden Gesetze des Geldes und der Macht, zügellos gegen alle Verlierer und Taugenichtse, die sich den Gesetzen des Wettbewerbs entziehen wollen.

Merkels Barmherzigkeit ist die Ausnahme, die ihre Regel der brutalen Konkurrenz bestätigt. Herz ohne Plan, Gesinnung ohne Verantwortung wirft man ihr vor. Inzwischen melden sich führende Juristen, die der Kanzlerin permanenten Rechtsbruch vorhalten.

Was kann das Herz leisten, wenn die mangelhafte Ratio alles Erwünschte a posteriori destruiert? Soll Merkel gescholten werden, weil sie Gutes will? Das sei ferne. Das Gegenteil ist richtig: wer Gutes nur will, ohne zu wissen, wie er es zustande bringt, der will in seinem Unbewussten höchstwahrscheinlich nichts Gutes. Er reklamiert nur die Pose des Gutseinwollens für sich, damit er den Himmel oder die Geschichtsbücher für sich gewinne.

An der kopflosen Flüchtlingspolitik erkennt man die Prinzipienlosigkeit der bisherigen Merkel-Politik. Streng genommen machte sie noch nie Politik nach rationalen Zielmaßgaben. In Wirtschaftsfragen beugte sie sich Geldmagnaten, in Technik und Naturwissenschaft den führenden Kreativen der Welt, in nationalen Angelegenheiten den herrschenden Meinungsmehrheiten.

Wer, wenn nicht sie, ist die größte Gefühlspopulistin Deutschlands? Populisten kleiner Gruppen werden von den Medien in der Luft zerrissen, die emotionale Beherrscherin des populus wird in den Himmel gehoben.

Was ist – außer ihrem untrüglichen Instinkt – der größte Vorteil Merkels? Ihr unschuldiges Gesicht. Gleichgültig, was geschieht, stets zeigt sie sich verwundert und tut, als ob sie neben sich stünde. Was hat sie mit den absurden Vorgängen dieser Welt zu tun? Hat sie doch nur ihre Pflicht und Schuldigkeit getan: in Demut vollstreckt sie als Magd Gottes die Befehle ihres himmlischen Herrn. Mit Erfolg und Misserfolg ihres Tuns des Untertänigen hat sie nichts mehr zu tun. Der Herr gibt, der Herr nimmt, der Name des Herrn sei gepriesen.

Politik nach menschlicher Vernunft wäre für Merkel ein Horror. Die sündige und deformierte Vernunft des Menschen solle eine verantwortliche Politik betreiben? Das wäre wie Wasserschöpfen mit einem Sieb. Insofern lügt ihr Gesicht des „was-gehen-mich-Erfolg-oder-Misserfolg-meiner-Politik-an“ keineswegs. Herr, ich bin nur eine sündige Magd und habe meine Schuldigkeit getan.

Warum sind Deutsche so unfähig, mit gelassenem Selbstbewusstsein ihre Demokratie zu verteidigen? Warum fühlen sich 80 Millionen Deutsche von einer Million Immigranten in ihrer Identität bedroht? Warum hört man nie Worte des Zutrauens in den überlegenen Geist der Freiheit und Gleichheit, wenn es um die Eingliederung der Fremden geht?

Nach Untersuchungen des Kriminologen Pfeiffer sank die Ablehnung demokratischer Werte bei Zuwanderern jährlich in beträchtlichem Maße. Keine Gazette hielt es für nötig, diese Ergebnisse zu publizieren.

Wenn Demokraten tun, was sie predigen, ist die ansteckende Wirkung ihrer Vorbildlichkeit nach oben offen. Liegt ihre Labilität daran, dass die Deutschen bis heute keine funktionierende Demokratie zuwege brachten? Sind Volksherrschaft und Würde des Einzelnen nicht Fremdworte für sie? Hat noch niemand bemerkt, dass echte Deutsche den Begriff Demokratie fast nie in den Mund zu nehmen pflegen?

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: sind das nicht die lächerlichsten Begriffe aus dem Wörterbuch der Gutmenschen? Ist die Angst der Deutschen vor der Herrschaft der Rechten nicht ein Zeichen mangelnder Überzeugtheit von ihrem demokratischen Lebensstil? Ist german angst nichts als german feigheit, weil sie fürchten, sie könnten beim Verteidigen der Demokratie schnell zu den Verlierern der Republik gehören?

Woher das reflexhaft hysterische Einschlagen der Medien und Eliten auf belanglose Randgruppen der Nation? Nichts kann in dieser Republik geschehen, ohne dass Pegadisten und die AfD mit Schaum vor dem Mund geprügelt werden. So macht man populär, was man angeblich bekämpfen wollte. Mit kühler Vernunft hat dieses Treiben nichts zu tun. Experten schwadronieren von der problemlösenden Funktion der Angst:

„Angst ist ja eigentlich ein vernünftiger Mechanismus. Wir haben ein unangenehmes Erlebnis und die Angst bringt uns dazu, uns zukünftig davor zu schützen.“ (SPIEGEL.de)

Der vom SPIEGEL befragte Sozialpsychologe kann Furcht nicht von Angst unterscheiden. Angst ist diffus und nicht definierbar, Furcht weiß, wovor sie sich fürchtet. Das Sein in der Angst ist ein philosophisches Grundgefühl und kann kein guter Ratgeber sein. Es ängstigt sich vor allem, unfähig, die Ursachen seiner Entstehung zu ergründen.

Es ist religiöse Urangst vor dem Weltenrichter. In der Welt habt ihr Angst, siehe, ich habe die Welt überwunden. Doch was geschieht mit jenen, die an solche Heilsperspektiven nicht glauben können? Panische Ängste verwandeln die Menschen in geistesabwesende Schreckensmaschinen, die unfähig sind, ihre Situation zu ergründen und sinnvolle Strategien zu entwickeln, um ihrer Angst zu entgehen. Nur angstfreie Intelligenz ist in der Lage, die Welt in all ihren schrecklichen und schönen Aspekten zu erkennen. Wenn Angst intelligenzförderlich wäre: müssten nicht alle Erzieher den Kindern heillose Ängste einjagen, um ihre Intelligenz zu fördern?

Goethe war kein Freund der Demokratie und der Französischen Revolution. Der „Fürstenknecht“ verachtete die Massen und bewunderte Napoleon, den gewaltigen Eroberer Europas. Goethes Weisheit war eine machtgestützte für Eliten, keine allgemeine und politische für alle Menschen. Was hätte er verteidigen können gegen fremde Mächte, wenn es nur um den Wettkampf der Mächte gehen konnte? Goethe hatte weder Freiheit noch Gleichheit, geschweige Brüderlichkeit zu verteidigen. Nichts hasste er mehr als Kautabak, Knoblauch – und den christlichen Glauben. Doch seinem Publikum verheimlichte der Dichter seine Aversionen, sie hätten seinem Ruhm und der Auflage seiner Werke schaden können. Also gab er dem Publikum, was es auf der Bühne sehen wollte: wer vieles bringt, wird manchen etwas bringen:

„So schreitet in dem engen Bretterhaus

Den ganzen Kreis der Schöpfung aus

Und wandelt mit bedächtger Schnelle

Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“

Das ganze Himmel- und Höllenrepertoire des Credos muss auf die Bühne, um das erlösungssüchtige Publikum zu ergötzen. Goethes christliches Fazit in Faust II ist semi-pelagianistisch: Leistung wird vom Himmel belohnt. In diesem Geist wird der Kapitalismus geboren.

„Wer immer strebend sich bemüht,
den können wir erlösen.“

Goethe ist kein aufrechter Kämpfer um die Wahrheit. Er verteidigt nichts und kritisiert nichts. Er passt sich den herrschenden Umständen an. Wie der Gegner des Christentums sich hinter einer christlichen Maske versteckt, so versteckt er sich am Ende seines Lebens hinter der multikulturellen Maske des Koran-Liebhabers:

Wer sich selbst und andere kennt,

Wird auch hier erkennen:

Orient und Okzident

Sind nicht mehr zu trennen.

Und mag die ganze Welt versinken,

Hafis, mit dir, mit dir allein

Will ich wetteifern! Lust und Pein

Sei uns, den Zwillingen, gemein!

Wie du zu lieben und zu trinken,

Das soll mein Stolz, mein Leben sein.

War Goethe zum muslimischen Gegner des Christentums mutiert? Wusste er nicht, dass jede Erlösungsreligion unfehlbar und intolerant war? Doch solche Petitessen ignorierte der Olympier. Was ihm in seiner berauschten Überidentität mit dem Orient nicht behagte, das verleugnete er:

Ob der Koran von Ewigkeit sei?

Darnach frag’ ich nicht! …

Daß er das Buch der Bücher sei

Glaub’ ich aus Mosleminen-Pflicht.

Dass aber der Wein von Ewigkeit sei,

Daran zweifl’ ich nicht;

„So wie Goethe Distanz zur christlichen Lehrmeinung hatte, bringt auch das lyrische Ich im West-östlichen Divan ironische Distanz zur orthodoxen Lehrmeinung des Islam und Nähe zur Mystik zum Ausdruck. So benutzt Goethe beispielsweise die Metapher des Weins, der auch bei den Sufis ein Symbol für die Berauschtheit eines Derwischs mit der Liebe Gottes ist.“

In pan-religiöser Besoffenheit werden alle Katzen grau. Alles verschwimmt zur seligen Einheit – wenn man das grässliche Entweder-Oder der rivalisierenden Heilande nicht mehr sehen kann. Religion ist für Goethe Poesie, und ist sie es nicht, wird sie von ihm nicht mehr als Religion anerkannt. Bei Goethe liegen sich Jesus und Mohammed selig in den Armen – bis zum nächsten Religionskrieg, wo Christen und Muslime aufeinander einschlagen.

„Die Poesie untergräbt durch ihre schiere Existenz als Erfindungskunst den absoluten Wahrheitsanspruch der Religion. Poesie lässt gelten, Religion aber will gelten, auf Teufel komm raus. Das ergibt den doktrinären Ton.“ (Rüdiger Safranski, Goethe)

Goethes poetisches Tun ist Mutterboden des Romantisierens bei Novalis: mit Hilfe der Phantasie verwandelt er die reale Welt in eine erwünschte Welt, wo alles ist, wie er es haben will. Die Deutschen, unfähig, die Klüfte der Welt zu erkennen und friedensstiftende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, machen poetisches Abrakadabra – und die Welt wird, wie sie sein soll. Ohne jegliche politische und moralische Anstrengung. Doch wehe, wenn die wahre Welt in diese Traumwelt einbricht. Dann treffen wahre Muslime auf wahre Christen – und siehe, es gibt Mord und Totschlag. Solche dogmatischen Finessen und ihre politischen Folgen langweilten den, der die Welt in poetischen Metaphern und Bildern umarmte.

Die scharf urteilenden Aufklärer hatten die Menschenfeindschaft der Religionen aufgedeckt und gegeißelt. Dieser Kritik widersprach Goethe entschieden. „Man vergleiche die orientalische Religion mit sich selbst, man ehre sie in ihrem Kreise, und vergesse doch dabei, dass es Griechen und Römer gegeben.“ Zwar sah er die Kehrseite des orientalischen Despotismus, „aber er zeigte, dass jene Unterwürfigkeit ein integrierender Bestandteil der orientalische Gesamtkultur und nicht schlechtweg niedrig sei.“ (Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus)

Hier entlarvt sich die aufgesetzte religiöse „Unbefangenheit“ des Frankfurters. Es zeigt sich die Arroganz des Abendländers, der die Unterwürfigkeit fremder Kulturen als deren notwendigen Bestandteil betrachtet.

Es gibt Völker, die zur Freiheit geboren werden – und es gibt andere. Gottlob gehören die Deutschen zu den Ersteren. Als Touristen herzen sie die ganze Welt. Zuhause begrüßen sie dieselben Menschen, die sie in der Fremde umarmten, mit Molotowcocktails.

Wer nicht fähig ist, Gemeinsamkeiten und Widersprüche in der Welt wahrzunehmen, der muss seine poröse Identität mit reaktionärer Brutalität und überharter Abgrenzung bezahlen. Vielmehr, seine Opfer müssen es bezahlen, die er im blinden Einheitswahn zu lieben glaubte.

Illusionen des Herzens können gefährlich werden, wenn die Vernunft nicht weiß, wie man die verleugnete Herzlosigkeit im politischen Alltag überwinden kann. Wer nicht Ich sagen kann, kann ein Du weder lieben noch sich von ihm abgrenzen. Das romantische Weltverschmelzungs-Ich – der „bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist“ – kippte um in das rassistische Ich der Nationalsozialisten, die alles vernichteten, was ihrem Super-Ich nicht entsprach.

Das nüchterne Lösen von Konflikten, in aufrichtiger Benennung der Konflikte, erfüllt vom Willen zur Verständigung: das ist eine europäische Grundidee – die Europa noch lernen muss. 

 

Fortsetzung folgt.