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Europäische Idee VI

Hello, Freunde der europäischen Idee VI,

Ihr da, ihr Schlechtmenschen! So billig kommt ihr diesmal nicht davon. Ja, ihr dort drüben, ihr Wirr- und Faselköpfe, die ihr, immer lustig und fidel, euer unaufgeräumtes Hirn permanent auf Gutmenschen zu entleeren pflegt, wie einst mittelalterliche Städter ihre Nachttöpfe auf die Straße. Nicht mal das Gegenteil von gut ist euch bekannt.

Beim Hantieren mit dem Bösen aber seid ihr gar nicht zimperlich. Allergrößten Wert legt ihr auf korrekten Umgang mit Messer und Gabel und auf einwandfreies moralisches Gebaren – im Privaten. Doch wie würdet ihr toben, wenn eure Kinder, im Supermarkt beim Klauen ertappt, eure blanken Bürgerfassaden ramponieren würden.

Aber die Öffentlichkeit! Die Politik! Die Wirtschaft! Da müssen andere Maßstäbe gelten als die der überbehüteten Kinderstube. Da müssen Schlagringe und Boxhandschuhe her, damit die Kühnen, Kalten und Starken im Konkurrenzgetümmel nicht sang- und klanglos untergehen.

Der bedeutungslose, von allen Nachbarn gerupfte und beschmutzte Fleckerlteppich in der Mitte Europas: das schmerzt noch heute und muss mit der Faust gesühnt werden. Private Laster sind öffentliche Tugenden. Mandeville, den zu kennen ihr nicht nötig habt, ist euer Vordenker. Werdet lasterhaft, damit eure Nation groß und mächtig werde.

„Die deutsche Nation ist, vermöge ihrer Bevölkerung, die beynahe die Hälfte von Europa ausmacht, durch ihre Lage im Mittelpunkt Europens, und noch mehr durch ihren edeln und großmüthigen Charakter bestimmt, die erste Rolle in Europa zu spielen, sobald sie unter einer freyen Regierung in einen einzigen

Körper vereint seyn wird. Wenn die Zeit gekommen seyn wird, wo die englisch-französische Gesellschaft durch den Zutritt Deutschlands sich vergrößert, wo man ein allen drey Nationen gemeinschaftliches Parlement errichtet, dann wird der Wiederaufbau der übrigen europäischen Staaten schneller und leichter von Statten gehen, denn diejenigen Deutschen, welche man berufen wird, an der gemeinschaftlichen Regierung Theil zu nehmen, werden in ihren Meinungen jene Reinheit der Moral, jenen Seelenadel übertragen, der sie auszeichnet, und durch die Macht des Beyspiels werden sie die Engländer und die Franzosen zu sich erheben, die ihres Handels-Verkehrs wegen mehr an ihre eigene Person denken, und sich nicht so leicht von ihrem Privat-Interesse losmachen können, dann werden die Prinzipe des Parlements freysinniger, ihre Arbeiten uneigennütziger, ihre Politik den übrigen Nationen günstiger seyn.“ (Henri de Saint-Simon)

Dies schrieb der Franzose vor 200 Jahren, als die Deutschen noch als apolitische Träumer auf den Bäumen saßen. Ihr Entree in die europäische Geschichte begannen sie als Dichter und Denker, die das Wort Politik nie gehört hatten, und endeten als amoralische Täter und Henker, für die Moral identisch war mit Erlösen der Welt durch Unterwerfen und Ausrotten.

Heute haben sie sich in einen Kokon überlegener Tüchtigkeit eingesponnen, der es ihnen erlaubt, in moralischen Fragen hochnäsig durch die Finger zu gucken. Moral? Versteht sich von selbst, zumal fürs Fressen übermäßig gesorgt ist – also lasst uns die Sau durchs Dorf jagen. Wer hat es nötig, seine überlegenen Tugenden ständig unter Beweis zu stellen? Mit erhobenem Zeigefinger zeigen sie auf diejenigen, denen sie einen permanent erhobenen Zeigefinger vorwerfen.

Sind die Deutschen eine Nation von Gutmenschen – oder von Schlächtern und Barbaren? Müssen sie ihre schreckliche Vergangenheit durch vorbildliches Moralgetue ausgleichen? Sind sie Wesen in ihrem köstlichen Widerspruch? Sind sie ach so liebenswert, weil, ach, so herrlich unvollkommen?

Doch das neugermanische Gute war von Anfang an in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Das Licht der Aufklärung verabscheuten die mit dem reichen Innenleben – und im Schutz der Dunkelheit gerann ihnen das Gute zur Staatsraison, die Macht in Recht verwandelte.

Das Folgende schrieb eine französische Gegnerin Napoleons, die die Deutschen durchaus wohlwollend betrachtete. Aber nicht unkritisch:

„Die Deutschen gefallen sich in Dunkelheiten: oft hüllen sie, was klar am Tage lag, in Nacht, bloß um den geraden Weg zu meiden. Die deutschen Schriftsteller genieren sich nicht mit ihren Lesern; da ihre Werke wie Orakelsprüche aufgenommen und ausgelegt werden, so können sie sich in so viele Wolken hüllen als ihnen gefällt.“

An den deutschen Philosophen bemängelte sie das zu geringe gesellschaftliche Engagement: „Die aufgeklärten Köpfe in Deutschland streiten lebhaft miteinander (lang, lang ist‘s her) um die Herrschaft im Gebiet der Spekulation, hier leiden sie keinen Widerspruch; überlassen übrigens gern den Mächtigen der Erde alles Reelle im Leben. Der Geist der Deutschen scheint mit ihrem Charakter in keiner Verbindung zu stehen, jener leidet keine Schranken, dieser unterwirft sich jedem Joche; jener ist unternehmend, dieser blöde. Die größte Kühnheit im Denken verbindet sich mit dem folgsamsten Charakter.“ (Germaine de Stael, Über die Deutschen)

Was war schuld daran, dass die Deutschen so gedankenreich, aber tatenarm waren? Dass ihr Denken und Tun auseinanderfielen? Ihre politische Inkompetenz und Ohnmacht. Wollten sie zu den führenden Mächten Europas aufschließen, mussten sie ihre tatenarme Moral verabschieden und sich ins Handgemenge begeben. Wo harte Fakten sich stoßen, muss man noch härter werden, um jene zu besiegen.

Der Eintritt in die europäische Geschichte war der Abschied von der nutzlosen Moral. Deutschwerden begann mit der Abgrenzung gegen den „abstrakten“ Moralismus der französischen Aufklärung. Der Weg der Deutschen führte zum Dauerwiderstand gegen den Westen, dem sie cant – Heuchelei als Charaktereigenschaft – vorwarfen. England, Frankreich und nicht zuletzt der blutjunge Kontinent Amerika mit seiner Erklärung der Menschenrechte konnten verführerisch von Humanität sprechen – doch ihre egoistische Macht- und Gewaltpolitik strafte ihre hochmoralischen Predigten Lügen.

Georg Blume beginnt sein Interview mit dem französischen Historiker Emmanuel Todd in der ZEIT mit der unfassbaren Frage:

„Seit 300 Jahren sind wir Deutschen es gewohnt, im Zweifel nach Frankreich zu blicken. Von Voltaire über die Französische Revolution bis hin zu Jean-Paul Sartre gaben die Franzosen den Deutschen moralische und politische Orientierung. Sind diese Zeiten heute vorbei?“ (ZEIT.de)

Voltaires Ruhm dauerte nur „einen Sommer“ lang. Als Friedrich der Große gestorben war und die aufmüpfigen Kinder der Aufklärer sich „neu erfinden wollten“, war‘s aus mit aller Bewunderung des Franzentums. Die von Napoleon so schmählich besiegten Deutschen, bereits zuvor von Robespierres blutigem Handwerk abgeschreckt, sagten der Aufklärung und damit dem gesamten Westen Adieu. Keine Rede, dass die Deutschen seit 100en von Jahren ihren Erbfeinden untertänigst gefolgt wären.

Mit Nietzsche und Wagner begann gar die entgegengesetzte Sogwirkung. Heidegger hatte bis vor kurzem einen gigantischen Erfolg bei Existentialisten und Postmodernisten. Von Vichy haben wir dabei noch gar nicht gesprochen. Nicht wenige Experten, die den Antisemitismus in Frankreich für flagranter halten als in Deutschland.

Ab Sturm und Drang, dem Beginn der Deutschen Bewegung, begann der unvergleichliche, alle universellen Maßstäbe verleugnende Lauf der Deutschen ins isolierte und autistische Verderben. Ein Witz unter so vielen grässlichen Witzen, dass deutsche Historiker den Sonderweg der Deutschen inzwischen geentert haben. Nicht einmal die Kriegsparole des Ersten Weltkriegs „1914 gegen 1789“ scheint ihnen geläufig. Sie möchten normal unter Normalen sein, damit das Böse sich auf eine winzige Zeit und eine Handvoll höllischer Akteure reduziere. Das Volk muss dem Schuldzusammenhang entzogen werden.

Zur Strafe für den Abschied vom Sonderweg müssen sie heute das Urbuch des Bösen „Mein Kampf“ mit „rechthaberischen, moralistischen und selbstgerechten“ Kommentaren – also mit Gutmenschen-Trivialitäten – lesen. Alarm, Alarm: die Gutmenschen, im Neoliberalismus erfolgreich ausgeschaltet und lächerlich gemacht, drohen das Steuer der Republik zu übernehmen.

Gutmenschen sind Weltverbesserer. Was sind die Inhalte ihrer Weltverbesserei? Unter anderem „Feminismus, Pazifismus und Klimaschutz.“ Auf Deutsch: Friedensfähigkeit, ökologische Rettung der Welt und Emanzipation der Frau. Wer‘s nicht glaubt, der schaue selbst:

„Ein Gutmensch ist jemand, der sich eine ideale Welt erträumt, in der er sich einredet zu leben oder leben zu können. Gutmenschen verhalten sich dabei schizophren, indem sie jeden, der nicht ihre Ansichten teilt zum Bösen in Menschen­gestalt erklären. Gutmenschen verhalten sich dabei wie die Gefolgsleute von Führern wie Hitler oder Stalin, nur daß sie nicht einer einzigen Person hinterherlaufen, sondern einer fixen Idee, die sie selbst im Angesicht von eindeutigen Beweisen und Argumenten nicht willens sind aufzugeben. Gutmenschen sind dabei auch durchaus pathologisch und folgen alle den Idealen ihrer fixen Idee, welche sie als ihre eigene Meinung ausgeben. Wenn Gutmenschen die Möglichkeit erhalten, sind sie gegenüber ihren Gegnern weitaus totalitärer als das, was sie vorgeben zu bekämpfen.“ (Wikimannia.org)

Jeder Satz ist nicht nur eine bodenlose Dummheit, sondern – im Umkehrschluss – eine Verklärung aller suizidalen Potenzen der Gegenwart. Für Harald Martenstein sind Gutmenschen selbstgerechte Moral- und Vernunftanbeter, die nicht mal davor zurückschrecken, zu Hitlerianern und Stalinisten zu werden.

Wer nicht für Selbst-Gerechtigkeit eintritt, muss sich nach heteronomer Gerechtigkeit eines Erlösers umschauen. In der Tat sind viele Schlechtmenschen religiöse oder religiös affine Fremdgerechte, die lieber dem Himmel vertrauen als ihrer selbst-verfertigten Gerechtigkeit auf Erden.

Schlechtmenschen sind Erben der romantischen Ironie, die man besser als Zynismus bezeichnen sollte. Hegel verurteilt die romantische Ironie: „es ist ihr Ernst mit nichts, es ist Spiel mit allen Formen“. Für Novalis ist Ironie „die Gleichstellung und Gleichbehandlung des Gemeinsten und des Wichtigsten, in jener wunderbaren romantischen Ordnung, die keinen Bedacht auf Rang und Wert, Erstheit und Letztheit, Größe und Kleinheit nimmt“.

Für romantische Ironie – dem Gegenteil der sokratischen – ist alles göttlich und vollendet, auch wenn es noch so unwichtig, verderbt und satanisch wäre. Gottes Schöpfung ist vollkommen, also kann es nichts Mephistophelisches geben, welches das Gute verfehlt, obgleich es das Böse wollte. Dabei schuf Hegels Gutheißen der ganzen Welt – das Wirkliche ist vernünftig, das Vernünftige wirklich – selbst die Grundlage für die romantische Ironie. Sogar mit dem Teufel kann man spielen, denn sein Spiel ist seit dem Geschehen auf Golgatha für immer vorbei.

Der Heilige hat Tod und Teufel besiegt. Welche Gefahren sollen den Frommen noch drohen? Wenn Gott sich selbst einen Jux mit der Welt macht und alle Gegensätze aufhebt, hatte das Erste sich ins Letzte, das Starke ins Schwache, das Gewaltige sich in Ohnmächtiges verwandelt. Gott war der große Spaßmacher, der alle Unterschiede der Menschen zu lächerlicher Maische eingeebnet hatte. Alles war unwichtig und wichtig, gut und heilig, sündig und fleckenlos. Die Gesinnung allein macht den kleinen Unterschied. Wer glaubt, für den ist alles vollkommen – und sei er der größte Menschenfeind. Wer nicht glaubt, kann der beste Mensch sein – er muss ins Feuer.

Die Deutschen, geborene christliche Dialektiker, die keine Probleme hatten, sich zu marxistischen Dialektikern zu mausern, lieben den Widerspruch. Das geht so weit, dass sie am Widersprüchlichen die Wahrheit oder die humane Substanz erkennen wollen. Ohne Widersprüche ist das Leben für sie nicht lebenswert:

„Ein Leben ohne Widerspruch gibt es nicht. Wir könnten gar nicht handeln, wenn wir uns nie widersprüchlich verhalten würden.“ (ze.tt)

Kann das Gute totalitär werden? Ja, wenn die Welt mit moralischer Gewalt zwangsbeglückt werden soll. Platons Herrschaft der Weisen und Guten entartete zum Faschismus. Präsentiert sich aber das Gute als demokratisches und pädagogisches Angebot, über das gestritten werden und das sich durch exemplarische Vorbildlichkeit auszeichnen muss, kann das Gute gar nicht gut genug sein.

Es gibt nicht zu viel Liebe oder zu viel Gutes. Es gibt nur falsche, weil erpresste – und richtige, weil vorgelebte und überzeugende Liebe. Kein nüchterner und ehrlicher Moralist wird den Anspruch erheben, seine Moral vollkommen zu verwirklichen. Selbst wenn er heuchelte, blieben die Normen seiner Moral wahr.

Keine Moral wird durch die Fehlbarkeit ihrer Vertreter widerlegt. Objektive Wahrheiten sind unabhängig von jenen, die sie vertreten. Kein aufgeklärter Moralist wird einen Gesinnungsgegner zum Symbol des Bösen machen. Das Böse bleibt das zweifelhafte Privileg der Gottes- und Teufelsanbeter. Das Schlimme ist für Aufklärer die Folge vieler schrecklicher Irrtümer. Wer an das Böse glaubt, macht die Menschen erst zu Teufelsbraten. Kein Kind ist als Hitler geboren worden. Wenn Erzieher an Gott und seinen Widersacher glauben, implantieren sie dem wehrlosen Kind das Böse direkt ins Herz.

Wie kommentiert ein Schlechtmensch die „Vorfälle“ in Köln? Sollen sich nicht so haben, die hysterischen Zicken, keine Miniröcke anziehen und die Bluse schließen?

Es gibt ein körperliches Grapschen und ein geistiges. Alle Medien, die die Emanzipation der Frau für sinnloses Gutmenschentum halten, vergreifen sich geistig an den Frauen. Die WELT überschlägt sich mit Husarenritten gegen den Feminismus.

Und in welcher Gazette kann man folgende und ähnliche Schlagzeilen en masse lesen: „Diese Brüste wären fast nicht im Busch gelandet“? „Pralles Strandgut angeschwemmt“?

In BILD werden Frauen zu unpersönlichem Fleisch, zu sexuellem Menschenmaterial entmenscht. Seltsam nur, dass über Männer nie zu lesen ist: Diese Schwänze wären fast nicht im Busch gelandet. Pralle Penisse auf dem Ballermann.

Menschenverachtung wird nicht an den Rändern der Gesellschaft geboren. Das Verheerende ist das Schlechte, das dem Geist entspringt, der seiner Gesellschaft zu befehligen weiß: dem Geist des Hasserfüllten und Religiösen, der die Welt verurteilen muss, um die Notwendigkeit der Überwelt zu demonstrieren.

Wer nicht die Welt hasst, kann nicht mein Jünger sein. Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurückschaut, ist tauglich für das Reich Gottes. Wer sein Leben zu erhalten sucht, der wird es verlieren. Und wer es verliert, wird es gewinnen. Was nützt es dem Menschen, die Welt als Heimat zu gewinnen, sich selbst aber bringt er ins Verderben?

Dass „Gutmensch“ zum Unwort des Jahres gekürt wurde, markiert eine Wende. Wir erleben die Niederlage rechter Schlechtmenschen, die nur ein einziges Gutes kennen: die Frucht des heiligen Geistes. Gleichzeitig erleben wir die Niederlage aller Linken, die nichts mehr hassen als autonome Moral.

Marx kennt nur eine Klassenmoral. Universelle Moral verhöhnt er als Religion. Seine materielle Heilsgeschichte ist auf moralisches Tun der Menschen nicht angewiesen. Sie bewegt sich durch sich selbst. Erst wenn am Ende der Geschichte sich das Reich der Freiheit eröffnet, wird es eine allgemeine Moral geben. Was bewegt die Geschichte? Nur sie selbst.

Marx ist kein Aufklärer, der an die moralische Selbstgesetzgebung des Menschen glaubte. Für den Trierer ist Kant – ein ohnmächtiger Moralschwätzer. Nicht anders als Feuerbach, der an Kants kategorischem Imperativ festhielt.

„Es geht der Feuerbachschen Moraltheorie wie all ihren Vorgängerinnen. Sie ist auf alle Zeiten, alle Völker, alle Zustände zugeschnitten, und eben deswegen ist sie nie und nirgends anwendbar und bleibt der wirklichen Welt gegenüber ebenso ohnmächtig wie Kants kategorischer Imperativ. Engels bestreitet, dass die „moralische Welt auch ihre bleibenden Prinzipien habe, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehen.“ (nach Ludwig Woltmann, „Der Historische Materialismus: Darstellung und Kritik der marxistischen Weltanschauung“)

Engels weist jede Zumutung zurück, „uns irgendwelche Moral-Dogmatik als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen. Unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehen“. (ebenda)

Marx hat mit der Philosophie auch die Moral begraben. Das Bewusstsein des Menschen ist für ihn ein passives Nichts. Das Sein, welches das Bewusstsein prägt, ist keinesfalls Natur – auch bei Marx muss minderwertige Natur durch technischen Geist und Maloche überwunden werden –, sondern die durch Arbeit formierte (oder deformierte) Natur. „Natur ist für Marx, ebenso für Hegel, nur eine untergeordnete Vorbedingung menschlicher Tätigkeit. Das Materielle des historischen Materialismus ist nicht die Natur, sondern deren Aneignung durch den Menschen.“ (Karl Löwith, Marxismus und Geschichte)

Natur ist für Marx, wie für alle deutschen Idealisten, etwas, was überwunden werden muss. Zugunsten einer technisch produzierten Übernatur. Das ist Heilsgeschichte ohne Gott. Der marxistische Gott ist die Geschichte selbst, die, unbeeindruckt von allen menschlichen Machenschaften, ihren omnipotenten Weg geht.

Linke und rechte Schlechtmenschen verachten den zeitlosen Anspruch einer humanen Moral, die allein dem Menschen Frieden und Freiheit bringen könnte. In Deutschland gibt’s fast keine Freunde einer autonomen Moral. Entweder sind Merkels Untertanen Freunde einer göttlichen oder einer evolutionären Heilsgeschichte, die unabhängig von allem menschlichen Tun ihren Gang geht.

Nicht zu vergessen die Gehirnforschung, die alles Freie und Selbstbestimmende des Menschen – ergo seine Würde – als Hirn-Gespinste abtut:

„Hirnforscher wie Wolf Singer können in ihren Messungen nicht nur keinen freien Willen finden, sie stellen unsere Handlungs- und Schuldfähigkeit an sich infrage. Von der Messbarkeit der Begriffe „Würde“, „Seele“ und „Integrität“ ganz zu schweigen. Für den Neurologen Gerhard Roth handelt es sich dabei um Hirngespinste, mit denen wir uns selbst belügen, um den letzten Rest unserer Bedeutung zu retten.“ (ZEIT.de)

Heiko Werning unternimmt in der TAZ den Versuch, das Lager der Linken vom Hass auf das Gutmenschentum frei zusprechen.

„Populär wurde der Begriff Anfang der Neunziger als hübsche Invektive aus dem Umfeld der Satiriker um Klaus Bittermann, Gerhard Henschel und Wiglaf Droste. Er diente der Notwehr gegen die überall um sich greifende „Schaumsprache“ moralisch selbstgefälliger wie denkfauler Trottel*innen, die ihre intellektuelle Inkonsistenz durch ganze Schichten von Quatschformulierungen, dick wie der Blubber eines Grönlandwals, zu verbergen suchten. Der „Gutmensch“ war eine sprachliche Kritik von links an Leuten, die Analyse durch Gefühl und Systemkritik durch Systemkosmetik ersetzen wollten. Nie aber wendete er sich gegen „gute“, also humanistische Werte, ganz im Gegenteil.“ (TAZ.de)

Das ist eine komplette Problemverdrängung. Echte Moralisten begnügen sich nicht mit wallenden Gefühlen. Auch sehen sie sehr wohl das System. Doch was ist ein System? Kein Produkt einer allmächtigen Geschichte, kein Fazit historischer Gesetze, die derselben Kausalität folgen wie naturwissenschaftliche Gesetze. Geschichte ist nicht Natur, sondern das Werk von Menschen. Wie Menschen sind, so ist ihre Geschichte.

Ein System ist das verflochtene Ensemble aller menschlichen Moralbemühungen. Nur durch moralische Korrekturversuche kann das in unendlichen Zeiten zusammengebackene und eisenhart gewordene Ensemble eines Systems verändert werden. In diesem Sinn gibt es Parallelen zwischen links und rechts: beide sind Verächter der autonomen Moral. Beide vertrauen einer übermenschlichen Macht. Die einen nennen sie Gott, die anderen Geschichte.

Herodot gilt als Vater der europäischen Geschichtsschreibung. Was trieb ihn an, die Geschichte seines Volkes aufzuschreiben? Auf keinen Fall das Bestreben, seine Mitmenschen zur Passivität unter eine allmächtige Geschichte zu bewegen. „Es war das gewaltige Gemeinschaftserlebnis des Freiheitskampfes, das in ihm den Drang weckte, das Heldentum seines Volkes zu schildern.“ (Max Pohlenz)

Die Idee der Freiheit, Geschichte in humaner Moral zu prägen, ist eine europäische Grundidee.

 

Fortsetzung folgt.