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Europäische Idee III

Hello, Freunde der europäischen Idee III,

Europa, der Kontinent der Kritik – das war einmal. Kritik kommt von Unterscheiden, Trennen. Wahres soll vom Unwahren, Richtiges vom Falschen getrennt werden.

Wie kann Wahrheit von Unwahrheit unterschieden werden, wenn man Wahrheit für eine Fiktion hält? Gibt es keine Wahrheit, kann es auch keine Kritik geben.

Die Aufklärung war die Epoche, in der die Europäer Kritik lernten. Die Kritiker der Aufklärer, die romantischen Rückkehrer in eine unfehlbare Religion, empfanden die Kritik der Aufklärer als zu scharf und zu wenig verständnisvoll für die kritisierten Sachverhalte. Ergo betonten sie das Verstehen, welches sie mit Abnicken und Absegnen gleichsetzten. Wenn alles anempfindend verstanden werden kann, musste alles wahr sein.

Verstehen wurde zur Hilfsdisziplin der Theodizee, zur Ehrenrettung des Creators, dessen Schöpfung in allen Dingen wahr sein musste. Der Hegel‘sche Satz: das Wirkliche ist vernünftig, das Vernünftige wirklich, wurde zur Fortsetzung der Leibniz‘schen Preisung der Welt als der beste aller möglichen Welten.

Leibniz und Hegel wussten, dass es Übel in der Welt gab. Doch diese Übel waren notwendig, um das Gute in der Welt zu verwirklichen. Das Böse wurde zum Knecht des Guten – und also war es nicht mehr böse. Die Domestikation des Bösen im

Dienst des Guten geriet zur Lobpreisung der gesamten Schöpfung.

„Die Idee der „besten aller möglichen Welten“ soll nicht in naiver Weise tatsächliches und großes Übel in der Welt leugnen oder schönreden. Vielmehr weist Leibniz auf einen notwendigen Zusammenhang zwischen Gutem und Üblem hin: Es gebe nämlich Gutes, das nur zum Preis der Existenz von Übel zu haben ist. Die wirkliche Welt ist die beste in dem Sinne, dass das Gute in ihr auch von Gott nicht mit einem geringeren Maß an Übel verwirklicht werden kann. Außerdem ist die „beste aller möglichen Welten“ dynamisch gedacht: Nicht der derzeitige Zustand der Welt ist der bestmögliche, sondern die Welt mit ihrem Entwicklungspotential ist die beste aller möglichen Welten.“

Die Moderne lebt in der besten aller möglichen Welten. Sie hat das Böse zum Motor des Fortschritts gebändigt. Alles kann nur besser werden, wenn der Teufel ins Joch gespannt wird, um die Wirtschaft ins Unermessliche und die Technik ins Omnipotente wachsen zu lassen. Was sollte da noch Kritik?

Die Kritik der reinen Vernunft. Die Kritik der praktischen Vernunft. Die Kritik der Urteilskraft: die drei Kritiken Kants wurden zum Donnerhall in Europa. Doch sie litten an einem eklatanten Widerspruch. Einerseits waren sie eine fulminante Selbstkritik der menschlichen Vernunft: über Gott kann sie keine wissenschaftliche Aussage machen. Andererseits erhoben sie den Menschen zu einem gottgleichen Wesen, das die Realität nach seinem Bilde formte.

Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist begrenzt, sie kann nur Irdisches erkennen. Das Überirdische ist ihr für immer verschlossen. Wer weiterhin an Gott festhalten wollte, musste an ihn glauben. Seine Existenz beweisen kann keine Vernunft, die die Grenzen ihrer Einsicht akzeptiert. So wurde der Glaube gerettet, aber zum Preis der Ausbürgerung aus dem Revier des Wissenschaftlichen und Beweisbaren.

Da die heutigen Naturwissenschaftler das Wissenwollen um des Wissens willen abgeschafft haben zugunsten technischer Macht- und Gewalterweiterung, wissen sie nicht mehr, wie sie ihr sündhaft teures Steckenpferd anders legitimieren können als durch Suche nach Beweismitteln für Gottes Existenz. Kant, selbst Naturwissenschaftler, ist für die Wissenschaftler der Moderne gestorben. Sollte Kants Selbstkritik der Vernunft ein Kernstück der Aufklärung gewesen sein, ist die heutige Naturwissenschaft ins Lager der Gegenaufklärung und der Mystagogen abgewandert.

Die Ursache aller Rechtswendungen des christlichen Westens, begründet durch Regression in totalitäre Religion, ist nicht an den Rändern der Gesellschaft zu suchen: sie kommt aus der Mitte, ja der Spitze der Gesellschaft, aus dem Bereich der Wissenschaft und der Philosophie. Kein autoritätshöriger Pöbel würde sich trauen, gegen die intuitiv empfundene Ideologie der Starken und Gescheiten anzutreten. Gegen die da oben vertreten sie im aggressiven Trotz der Straße, was die da oben in ihrem Kämmerlein heimlich denken und in elitären Zirkeln mit chiffriertem Code (Gelehrten- oder Wissenschaftssprech) vertreten.

Der Pöbel hat ein feines Gehör und verrät die verschwiegensten Geheimnisse der Gesellschaft. Nicht anders als Kinder, die das verdrängte und verleugnete Unbewusste ihrer Eltern in ihrer Charakterentwicklung wiederholen und den Autoritäten in trotzigem Gehorsam zurückspiegeln: wir wissen, was ihr denkt, aber nicht offen zu sagen wagt.

Von daher das Mantra der Pegadisten: Das muss man doch mal sagen dürfen. Die Oberen halten sich die Unteren als wiederspiegelnde Affen, die sie – bei schmeichelnden Parolen – loben und bei entlarvenden in die Pfanne hauen.

Ist die Selbstkritik der kantischen Vernunft ein Akt der Bescheidenheit? Nur auf den ersten Blick. Wenn vor allem Pastorensöhne sich als Kantianer deklarierten, kann es dem Königsberger nicht gelungen sein, der Religion das Genick zu brechen. Wollte Kant doch dem Glauben einen unangreifbaren Platz schaffen: ab jetzt kann kein Glaube wissenschaftlich widerlegt oder bewiesen werden.

Der Glaube innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft war ein Glaube für Anfänger und Skeptiker – der erst durch den wahren Glauben der Offenbarung zu sich kommt und mit höheren Weihen gesalbt wird. Kant wiederholt – ohne es zu bemerken – die katholische Plünderung des Aristoteles zu niederen Weltzwecken, die erst in Glaube, Liebe und Hoffnung der Heiligen Schrift ihren jenseitigen Zweck fanden. Hier finden wir die Gründe der deutschen Synthese aus Vernunft und Glauben.

Es war nicht Kant, es war Lessing, der die Problematik der drei konkurrierenden Erlösungsreligionen auf den Punkt brachte. Geht es um Jenseitiges? Um Beweise für oder gegen Gott? Nein, es geht um den Beweis des „Geistes und der Kraft“. Auf Irdisch: um den Beweis der gelebten Moral. (Baudelaire: „Der einzige Skandal in der Religion besteht noch darin, dass man sich die Mühe macht, Gott zu leugnen“. Oder zu beweisen, was auf dasselbe hinauskommt.)

Es gibt nur ein einziges verlässliches Kriterium beim Überprüfen und Vergleichen der Religionen: den Beweis humaner Taten. Wenn aber die Früchte des Baumes schlecht sind, kann der Baum nicht gut gewesen sein.

An sich oder theoretisch ist die Ideologie des Glaubens von keinem Belang. Nur zum Zwecke der Ursachenerforschung böser Taten muss sie ohn Erbarmen unter die Lupe genommen werden.

Theologen schwärmen von Kant, um die Respektabilität ihres Glaubens mit deutscher Denkkraft zu propagieren. Von Lessing ist bei den Lautsprechern Gottes wenig zu hören. Kant beschwor zwar den guten Willen des Menschen, allein sein radikal Böses machte allen guten Willen zur Makulatur. Auch das kam den Kanzelrednern entgegen: wussten sie doch immer, dass der vom Bösen besessene Sünder zu wirklich guten Taten nicht fähig war.

Kants „Revolution der Denkungsart“ wird gern mit der kopernikanischen Revolution verglichen. Zu Unrecht. Kant vermindert nicht den Wert des Menschen im Spiel der universellen Kräfte – vergleichbar Kopernikus, der die Erde aus dem Mittelpunkt des Alls rückte und zu einem unbedeutenden Pünktchen im gigantischen Weltall degradierte. Er gibt ihm seinen gottähnlichen Schöpfungsplatz wieder zurück: der Mensch ist nicht länger von der Realität abhängig, die Realität muss sich nach dem Menschen richten. Im Akt des Erkennens imitiert der Mensch nicht die Realität, er schreibt ihr vor, wie sie zu sein hat. Erkennen kann man nur, was man selbst hervorgebracht hat.

„Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.“ (Kant)

Die „subjektive Wendung“ der Neuzeit erreicht bei Kant einen vorläufigen Höhepunkt, der nur noch durch Fichte und die Romantiker übertroffen werden sollte. Gibt es bei Kant noch eine vom Menschen unabhängige, wenn auch unerkennbare Realität („Ding an sich“), wird der Mensch bei Fichte zum alleinbestimmenden Dominator, ja Schöpfer der Wirklichkeit.

Haym spricht von der „Allmacht des Subjekts“ bei den Romantikern, die sich mit schnöder Realität nicht zufrieden gaben, sondern sie nach Belieben „romantisieren“ – in eine zauberhafte Überwirklichkeit verwandeln – konnten. Ein allmächtiges Subjekt, das aus der Wirklichkeit mit links ein phantastisches Paradies auf Erden schaffen konnte, hat keinen Grund mehr zur Kritik an der irdischen Realität. Jede Kritik wäre nur eine Selbstkritik: warum schaffe ich es nicht, den bösen Alltag in einen Garten Eden zu verzaubern. Selbstkritik und ein allmächtiges Subjekt: das passt nicht zusammen. Das wäre Blasphemie gegen die eigene Gottebenbildlichkeit

Max Weber nennt die säkulare Welt der Moderne eine entzauberte. Zu Unrecht. Theologen erwiesen ihre Zauberkraft jahrhundertelang durch magische Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi (Transsubstantiation, Abendmahl). Die Zauberkraft der Romantiker bestand in poetischer und literarischer Potenz, aus schnödem „Brot und Wein“ alltäglicher Prosa – unvergleichliche Essenzen des Jenseits zu zaubern.

Die Moderne ist weder auf magische Formeln noch auf geistige Himmelsqualitäten angewiesen, um die Realität in einen grenzüberschreitenden, unendlichen Gigantismus zu verwandeln. Womit? Mit technischem Fortschritt, Algorithmen, genialen Maschinen, ungeheuren Waffen und einer apokalyptischen Naturzerstörung, die gewiss einen neuen Himmel und eine neue Erde herbeizaubern wird. Die „profanen“ Methoden der heutigen Wissenschaft sind die romantisierenden Zaubermethoden des Westens, mit denen er die verlorene und minderwertige Natur auslöschen und in eine neue Übernatur transsubstantiieren wird.

Kants Vernunftkritik, zur Bescheidenheit mahnend, war die Fortsetzung der augustinischen Gottesverpflanzung ins Innere der Gläubigen. Von dort, aus dem verborgenen Innern, wird Gott kommen, um das Äußere der Welt zu erobern und Gericht über alle Menschen zu halten. Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

In der deutschen Philosophie verdichtete sich die traditionelle Theologie zum allmächtigen Putsch des Menschen über die Welt. Was ist die Allmacht des Subjekts anderes als die Rückkehr des Messias in jedem Gläubigen, Wissenschaftler, Techniker oder kapitalistischen Naturzerstörer? Der „Glaube“ der Moderne hat sich von Lippenbekenntnissen und klerikaler Magie gelöst und wurde zur Struktur der Moderne in allen technischen und politischen Formationen. Er ist weder durch logische Deduktionen noch durch veränderte Privatmoral besiegbar. Nur durch die Einsicht, dass ein unveränderlich fortschreitender Westen den Untergang der Gattung bringen wird.

Wer nicht mit eigenen Sinneswahrnehmungen den suizidalen Charakter der Welt erkennen kann, der muss blind und taub in den Abgrund. „Näher mein Gott zu Dir“ ist die Gesamthymne des herrschenden Zukunftsglaubens von Silicon Valley über milliardenschwere Tycoons bis zu biblizistischen Lesern der johanneischen Apokalypse:

Näher, mein Gott, zu Dir,
Näher zu Dir!

Geht auch die schmale Bahn,
Aufwärts gar steil,
Führt sie doch himmelan
Zu meinem Heil.

Ist mir auch ganz verhüllt
Mein Weg allhier:
Wird nur mein Wunsch erfüllt
Näher zu dir!
Schließt dann mein Pilgerlauf,
Schwing ich mich selig auf.

Gottebenbildlich nennen Theologen die Frommen, Wallstreet und Silicon Valley reden von Masters of Universe. Zwei dieser Giganten streiten sich schon, wer von ihnen der wahre Gott des Universums sei. Früher hätte man solche Wahn-Sinnige in die Psychiatrie eingeliefert. Heute werden sie von den Medien bewundert: „Es geht um den Traum zweier Milliardäre, die Raumfahrt zu revolutionieren und die Nummer eins im Weltall zu werden.“ (BILD.de)

Gibt es irgendwo in der Welt eine Kritik an solchen Himmelsstürmern, die das Weltall zu ihrem umstrittenen Vorgarten reduzieren? Im Gegenteil: Medien und Mächtige unterstützen mit Beifall die Himmelfahrt der zwei Übermenschen, die nicht rasten und ruhen, bis ihr Name in der Milchstraße eingraviert sein wird.

Seit der Abendländer sich verzaubert hat in die Allmacht des Subjekts, wird jegliche Kritik an seinem gottähnlichen Tun als rückwärtsgewandte, visionslose Maschinenstürmerei, risikofeindliche Wandlungsunfähigkeit und futuristische Inkompetenz disqualifiziert. Der Sinn des Lebens besteht nicht im guten Leben. Nur wer sein Leben aufs Spiel setzt, wird die Allmacht gewinnen. Nur wer sein irdisches Leben verkauft, um den illusionären Schatz im Acker zu erwerben, der wird die Zukunft erringen:

„Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker. Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.“

Es gibt nicht nur keine nennenswerte Kritik am selbstzerstörerischen Gang des Menschengeschlechts. Selbst die existierende Kritik wird noch niedergemacht:

„Es gibt eine Inflationierung der kritischen Praxis. Kritik hat sich durch die antiautoritäre Entwicklung der letzten 50 Jahre popularisiert und ist heute ein Missing Link zwischen Wirtshaus, persönlicher Beziehungsarbeit und Professorenpult. Relativ neu ist die Flut an besserwisserischer, nervtötender, teilweise menschenverachtender Kritik, die uns aus sozialen Netzwerken entgegenschwappt.“

Spricht der österreichische Autor Thomas Edlinger in einem TAZ-Interview:

Kann es eine seriöse Kritik geben, die nicht den Anspruch auf Besserwissen erhebt? Muss nicht jeder ernst zu nehmende Kritiker seinen Kontrahenten eine falsche und gefährliche Wahrnehmung der Wirklichkeit und mangelhafte Fähigkeit des Durchdenkens eines Problems vorwerfen? Warum sonst sollte er seine Stimme erheben, um vor Gefahren zu warnen?

Demokratie ist kein Wettbewerb um Reichtum und Macht, sondern um die beste Lösung gesellschaftlicher Probleme. Der Wettbewerb um die beste Lösung ist der Streit der Edlen um jene Lösung, die der Wahrheit am nächsten kommt.

Berechtigte Kritik ist nicht identisch mit einem akzeptablen praktischen Zweck derselben. Die Qualität einer Kritik erkennt man nur an ihrem Wahrheitsgehalt. Ihr beabsichtigter Zweck steht auf einem anderen Blatt.

Kritiker können die ganze Welt hassen oder ihren Untergang prognostizieren: ihre menschenverachtenden Begleitgefühle bestimmen nicht den Wahrheitsgehalt ihrer Kritik. Verzweifelte, Aggressive, Neidische oder Missgünstige könnten bestimmte Aspekte der Wirklichkeit besser erkennen als angepasste und erfolgsverwöhnte Repräsentanten der Gesellschaft, die keinen Abstand zu ihrem verwerflichen Tun aufbringen. Verbrecher, Erfolglose, Fremde oder Feinde sehen die Schwächen einer Nation oft schärfer als die Vertreter derselben, die keinerlei Fähigkeiten der Selbstkritik mehr besitzen.

Kritik ist nur nach Richtigkeit und Falschheit zu untersuchen, ihre Wahrheit ist unabhängig von allen Motivationen und praktischen Zwecken.

Was nicht bedeutet, dass nicht in einem zweiten Akt die politische und moralische Absicht der Kritik untersucht und bewertet werden muss. Wer die Gegenwart trefflich und scharf auf den Punkt bringt, aber im Unterton der Vergeblichkeit aller Änderungsversuche, dem müsste doppelt geantwortet werden: ist seine Kritik schlüssig? Ist die Absicht seiner kritischen Analyse förderlich oder destruktiv?

Eine Kritik muss nicht pessimistisch sein, weil sie radikal ist. Eine seichte Kritik muss nicht optimistisch sein. Sie kann beschönigend, feige oder blind sein. Die Kritik des Thomas Edlinger an der Kritik ist seicht und gefährlich. Er will das Kritische – das ohnehin kaum noch vorhanden ist – noch mehr dezimieren. Anstatt die Menschen aufzufordern, ihre kritischen Kräfte durch präzises Wahrnehmen, fundierte Analysen – und humanisierende Zwecke der Kritik zu entfalten, um das gute Leben der Gattung zu fördern und das Leben unendlich vieler Menschen in Elend und Not zu reduzieren.

„Ich spreche von einer Kritik, die Dialog wird. Das ist auch Übersetzungsarbeit. Der Kritiker weiß nicht mehr als der Kritisierte, sondern der muss an den Punkt kommen, an dem er selbst ein anderer wird, weil er in der Lage ist, ein anderes Denken über sich selbst herzustellen. Wenn ich im Asylheim arbeite, helfen mir keine Maximalforderungen.“ (Edlinger)

In der Tat: Kritik sollte zu einem gesellschaftlichen Dialog werden. Doch welche angegriffenen Mächtigen stellen sich noch einem Streitgespräch? Die eingemauerte Gesellschaft will sich nicht mehr verantworten. Wer nach Ursachen und Schuldigen forscht, wird als schrecklicher Vereinfacher abgewatscht.

Natürlich muss der Kritiker den Anspruch erheben, mehr zu wissen als der Kritisierte. Erhebt er ihn aus heuchlerischer Demut nicht, sollte er besser die Klappe halten. Ob er tatsächlich Recht hat, kann nur ein faires Streitgespräch ergeben.

Die Fähigkeit des Dialogs wird in deutschen Talkshows durch despotische Moderatoren systematisch zerstört. Die Medien, die sich den Titel der Vierten Gewalt anmaßen, weil sie die Regierung angeblich am besten kritisieren, sind die mimosenhaftesten unter den Dialogverweigerern. Sie wissen nicht mal, was ein Dialog ist. Die geistesabwesenden Fragen des Peter Unfried an Edlinger zeigen die erschreckende Kritikunfähigkeit der TAZ, die einst als unbestechliche Kritikerin der Gesellschaft begann. Heute überfährt die linke Zeitung ernsthafte Islam-Kritiker wie Abdel-Samad mit Schmähkritik oder desavouiert die letzten Reste der Kritik als nerventötende Besserwisserei.

Helfen und politische Kritik schließen sich mitnichten aus. Sie gehören zusammen und ergänzen sich. Praktiker haben nicht automatisch die besseren Karten, Theoretiker sind keine überflüssigen Fenstergucker. Der Kritiker muss nicht eo ipso ein anderer werden oder eine andere Meinung einnehmen, wenn er seinen Willen zum Dialog beweisen will. Wer durch treffliche Argumente nicht eines Besseren belehrt wird, hat keinen Grund, seine Meinung zu ändern. Verstockte Besserwisserei ist nicht gefährlicher als laue Gleichgültigkeit. Die Dialogfähigkeit einer Gesellschaft kann nicht gedeihen, wenn intensives Nachfragen bereits als antideutsche Untugend gebrandmarkt wird.

Auch in der Kölner Verbrecheraffäre ist es sinnlos, die Relevanz einer Kritik danach zu bemessen, ob sie Beifall von der falschen Seite einheimsen oder Kritik von der richtigen vermeiden will. Kritik will die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die Reaktionen stehen nicht in ihrer Hand. Wer das Publikum beeinflussen will, ohne es mit Wahrheit überzeugen zu wollen, gehört in die Riege der Manipulateure.

Einerseits sind die Deutschen unfähig, ihre Grundinteressen energisch zu verteidigen und halten es für eine höhere multikulturelle Fähigkeit, Intolerante und Gegner ihrer Gesetze zu tolerieren. Wenn andererseits aber Verbrecherisches geschieht, kippen sie um und spielen die überscharfen Sheriffs, die mit markiger Stimme Trivialitäten von sich geben: der Staat muss mit aller Entschiedenheit für die Einhaltung der Gesetze sorgen. Hilf Herr, was denn sonst?

Journalistenverbände plädieren für Unterschlagung der Fakten aus volkspädagogischer Absicht. Das ist preußischer Paternalismus. Eine mündige Öffentlichkeit hat das Recht auf ungefilterte Faktenlage. Schlussfolgerungen muss jeder für sich selbst ziehen. Die Situation fremder Religionen und Kulturen muss unverzerrt und vollständig zur Kenntnis genommen werden.

Wie kann es geschehen, dass in vielen Meldungen von 1000 Tätern die Rede ist, in anderen aber höchstens von 40 bis 100?

„Fest steht aber, dass nicht alle 1.000 Feiernden zu den Tätern gehören, sondern nur ein kleiner Teil. Wie viele es waren, ist nach wie vor unklar. Laut Augenzeugenberichten sollen es 40 bis 100 Männer gewesen sein.“ (TAZ.de)

Es ist verdammter Unfug, die Defizite anderer unter den Teppich zu kehren, nur weil es bei uns die gleichen gibt. Das Unterdrücken notwendiger Fremdkritik zum Zweck der Verhinderung der Selbstkritik ist ein Verstoß gegen alle Regeln intellektueller Redlichkeit. Daniel Bax geriert sich als Beschützer der Fremden, in Wirklichkeit ist er ein Schönredner hiesiger Verhältnisse:

„Als Brandbeschleuniger dient die implizite Unterstellung, es handele es sich um eine irgendwie „kulturspezifische“ Form der Kriminalität. Als ob es in Deutschland ohne Einwanderer keine Diebstähle, keine Vergewaltigungen und keine Morde gäbe.“  (TAZ.de)

Immer öfter ist die Wendung zu lesen: Wir brauchen, wir brauchen nicht. Hinter dem angemaßten Wir der Macht versteckt sich die zunehmende Immunität derer, die keine Kritik mehr hören wollen. Schluss mit der Kritik. Wenn alle Verhältnisse wanken und zu zerfallen drohen, wollen die Gralshüter des Bestehenden Ruhe in der Hütte. Wir brauchen keine Kritiker, die unsere labile Befindlichkeit stören könnten.

Doch, wir brauchen die Kritik derjenigen, die die Mächtigen in die Schranken weisen, damit der mündige Bürger zu Wort kommen kann. Sind wir wieder soweit: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht? Einen herausragenden und besonnenen Kommentar zu Köln von Maritta Tkalec kann man in der BLZ lesen:

„Wir wollen, dass die Hirngespinste überängstlicher Fremdenfeinde nicht das Klima bestimmen. Auch deshalb müssen sich alle für den Schutz von Recht und Ordnung Zuständigen mehr einfallen lassen, um real heranziehende Übel wie Sexualterror eindämmen zu können. Auch wer es völlig in Ordnung findet, dass Deutschland sich ändert, will nicht, dass die Grundfesten der Freiheit wanken. Das wird ja wohl zu schaffen sein.“

Die demokratische Reife einer Gesellschaft ist ablesbar am Stand ihrer verstehenden und bewertenden Kritik. Und an ihrer dialogischen Streitfähigkeit. Die demokratischen Anfänge Europas in Athen waren ohne radikale Kritik am Überkommenen und Herrschenden nicht möglich.

Deutschland spaltet sich gegenwärtig nicht nur in Reiche und Arme, Mächtige und Ohnmächtige, sondern in hemmungslose Polit-Schwadroneure und enthemmte Shitstormer jener Klassen, die bislang nicht zu Worte kamen.

Wo sollen Deutsche wahrheitsliebende Kritik lernen und einüben, wenn Vernunft und Wahrheit seit 200 Jahren von Gelehrten und Literaten, Edelschreibern und Intellektuellen verfemt werden? Kritik ist eine europäische Kernidee.

 

Fortsetzung folgt.