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Europäische Idee II

Hello, Freunde der europäischen Idee II,

„So sind denn Äschylus‘ Perser die herrlichste aller Siegesdichtungen, die durch den Mund der Besiegten die Größe des Freiheitskampfes verkündet und die Überlegenheit der griechischen Kultur nur um so gewaltiger vor Augen führt, weil sie dem Gegner die Achtung nie versagt, zugleich eine Verherrlichung der den Völkern des Orients unfassbaren Idee des griechischen Staats, dessen Bürger keinen Oberherrn kennen und nur durch das Gesetz in freiem Gehorsam gehalten werden, der in seinen Männern fortbesteht, auch wenn der Boden in Feindesgewalt ist.“ (Eduard Meyer, Geschichte des Altertums)

Alles nur Stereotype über den Unterschied zwischen Morgen- und Abendland? Gab es keine Gegensätze zwischen „Orient und Okzident?“ War die Freiheit der Griechen, vor „keinem Despoten demutsvoll sich auf das Erdreich zu werfen“, nur ein selbstverklärendes Klischee?

Andererseits: war nicht auch Helmut Schmidt der Meinung, europäische Demokratie sei nichts für das chinesische Volk? Waren nicht viele deutsche Kommentatoren von der Ergebnislosigkeit des arabischen Frühlings von vorneherein überzeugt? Glaubten sie nicht zu wissen, muslimische Staaten seien für moderne Menschenrechte nicht geschaffen?

Andererseits: zeigt die allgemeine Regression vieler europäischer Völker ins Vordemokratische und Religiöse nicht, dass auch im Okzident die europäische Grundidee der „Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit“ durchaus nicht in den „Genen“ der Abendländer verankert ist? (Abgesehen davon, dass in den Genen so gut wie nichts verankert ist?)

Wie viele Jahrhunderte lang ächzten die Europäer unter despotischen Klerikern und Kaisern? Wie lange zitterten sie vor den Schrecken des höllischen Feuers? Wie lange waren sie Sklaven von Römer 13: seid untertan der Obrigkeit, denn es gibt keine

Obrigkeit, außer von Gott, die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt?

Merkel, von Menschen gewählt, von Gott aber auserwählt, hält sich für unfehlbar: „Ich stehe ziemlich allein in der EU. Aber das ist mir egal, ich habe recht„. Sie degradiert die Deutschen zu ent-politisierten Angehörigen einer nationalen Großfamilie, die sie mit mütterlichen Lobsprüchen entmündigt und deren zerrüttetes Innenleben sie mit Handauflegen heilt.

Von Amerika über Russland, Ungarn, Frankreich, Israel, Polen bis Deutschland: Demokratien werden ausgehöhlt, die Völker des erweiterten Abendlandes zieht es zurück in die geruhsamen Käfige des Kopfnickens und Betens.

Die USA exportierten Demokratie in alle Welt mit Waffengewalt und wirtschaftlicher Dominanz – und erreichten zumeist das Gegenteil. Der salafistische Terror ist die Reaktionsbewegung der Überfahrenen und Gedemütigten, die Rache nehmen für endlose Jahre kolonialer Herrschaft und wirtschaftlicher Unterdrückung. Wo bleibt die Überlegenheit des erweiterten Okzidents über den Orientalismus der übrigen Welt?

„Europa ist ein Begriff, der nicht aus ihm selber stammt, sondern aus seinem wesentlichen Gegensatz zu Asien. Solange es sich treu bleibt, ist Europa eine gegenasiatische Macht. „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte; Asien der Anfang. Hier geht die äußerliche, physische Sonne auf und im Westen geht sie unter, dafür ersteigt aber dort die innere Sonne des Selbstbewusstseins, die einen höheren Glanz verbreitet“, nämlich den Glanz des absolut freien und darum auch kritischen Geistes, dessen Gefahren und Größe der Osten bis heute nicht kennt.“ (Karl Löwith, Der Mensch inmitten der Geschichte)

Ex oriente lux, im Osten steigt die Sonne auf, im Westen geht sie unter. Geht sie unter? Ist das nicht Ende und Untergang des Abendlandes? Ist der Höhepunkt der Geschichte im Westen nicht gleichzeitig ihr Finale, der Schwanengesang arroganter Europäer? In Berlin kommt der Weltgeist zu sich? Dann ist Merkel die Vollstreckerin des Hegel‘schen Weltgeistes.

Wenn der Höhepunkt der Heilsgeschichte sich in Deutschland ereignet, dann fallen Orgasmus und Exitus, Lust und Tod des absoluten Geistes zusammen. Der messianische Höhenflug der deutschen Philosophie und Politik wäre nur die Vorderseite einer schrecklichen Niedergangsstimmung, die als Pessimismus oder Nihilismus zum Spengler‘schen Untergang des Abendlandes und zum Völkerverbrechen des Dritten Reiches (für Rauschning eine „Revolution des Nihilismus“) führte? Man könnte die Frage stellen, ob die Lebensangst der Deutschen sich nicht mit Messianismus aufpumpen musste, um nicht in historischer Bedeutungslosigkeit zu verschwinden? Wann kam die Rede vom Sein auf, das ohne das Nichts nicht denkbar wäre?

„Nach Martin Heideggers Vortrag Was ist Metaphysik? gehören das „Nichts“ und das „Sein“ zusammen. Sie sind nicht dasselbe, aber sie bedingen sich und gehören zusammen. Erst durch das „Nichts“ offenbart sich das „Sein“ als eine „Befremdlichkeit“ oder als das „Andere“. Deutlich spürbar ist dieses „Nichts“ in der „Stimmung“ der Angst, nicht in der Furcht vor etwas Bestimmtem, sondern in der tiefen, in uns verborgenen „Angst vor“, oder „wegen“. Nicht ganz unbestimmt, aber auch nicht in Worten fassbar, eben die Angst vor dem „Nichts“. In einer solchen Angst ist einem alles gleichgültig und zwar gleichermaßen gleichgültig. Ob Tisch oder Stuhl, Tod oder Leben, es hat keine Relevanz.“

In jedem grenzüberschreitenden Risiko neoliberaler Abenteurer wird das exaltierte Gefühl des Seins erkauft durch Hinausragen in das Nichts des Todes. Die Moderne spürt sich nicht mehr, wenn sie nicht ihr ganzes Sein aufs Spiel setzt und mit dem Tod der Gattung kokettiert. Der Fortschritt in die Zukunft muss ein Abenteuer auf Leben und Tod sein.

Abenteuer kommt von advenire, vom Advent des kommenden Herrn der Geschichte. Jedes Abenteuer ist eine Begegnung mit dem herausgeforderten Tod, ohne den das seichte Leben unerträglich wäre. Haben oder Sein bedeutet: habe ich nichts, bin ich ein Nichts.

Von wem ist das folgende Zitat? „Er sah die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an der Welt haben werde und alles zusammenschlagen müsse zu einer verjüngten Schöpfung. Der Boden der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Geselligkeit schien ihm zerstört. In der Literatur seiner Zeit erkannte er eine „Literatur der Verzweiflung“, die dem Leser das Entgegengesetzte von all dem aufdrängte, was man dem Menschen zu einigem Heil vortragen sollte. »Das Hässliche, das Abscheuliche, das Grausame, das Nichtswürdige mit der ganzen Sippschaft des Verworfenen ins Unmögliche zu überbieten ist ihr satanisches Geschäft.« Alles sei jetzt „ultra“ und „transzendiere“, im Denken wie im Tun. »Niemand kennt sich mehr, niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, niemand den Stoff, den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht sein; einfältiges Zeug gibt es genug. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Facilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Und das ist ja auch das Resultat der Allgemeinheit, dass eine mittlere Kultur gemein werde. Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt.«“ (Goethe, Brief an Zelter, 1825)

Man modernisiere einige Begriffe Goethes und erhalte einen präzisen Zustandsbericht unserer Gegenwart. Ist die Zeit seit 200 Jahren stehen geblieben? War der Fortschritt eine Illusion? Verharren wir auf der Stelle, verheimlichen wir unseren Stillstand durch die Illusion ständiger Beschleunigung? Woher die Widersprüchlichkeit vom Aufwärtsgang ins Paradiesische und vom Niedergang ins Nichts?

Es sind die beiden Seiten der apokalyptischen Bewegung, die die einen in die Fülle des Seins und die anderen ins entsetzliche Nichts führen wird. In all ihrer Überlegenheit über die bisherigen Epochen der Geschichte liegt der Westen – und damit der Rest der Welt, der sich seinem Geschichtsdespotismus unterordnen musste – fest an der Leine archaischer Religionen. Seit 2000 Jahren vollstrecken wir die Imperative einer jenseitigen Despotie, die sich die Erde untertan gemacht hat.

Doch der Rest der Welt schläft noch schlummert nicht. Er widersetzt sich dem Untergangsgefühl des Westens, der sich mit finalen Drogen das Gegenteil vorgaukelt. In seinem Buch „Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen“ attackiert Ku-hung-Ming den Westen, der sich nur von Gefühlen leiten ließe. Von Gefühlen der Furcht und leerer Hoffnung:

„Man muss nun zugeben, dass in der Tat ein Kampf der Kulturen Europas und des fernen Ostens sich abspielt. Dieser Kampf scheint mir doch nicht ein Kampf der Kultur der gelben Rasse und der Kultur der weißen Rasse zu sein, könnte ihn eher bezeichnen als einen Kampf zwischen der ostasiatischen Kultur und der religiösen Kultur Europas. Die Quelle der mittelalterlichen Kultur Europas ist die christliche Bibel. Die Wirkung der europäischen Kultur ist blinder passiver Gehorsam gegenüber Macht und Autorität. Die Wirkung der chinesischen Kultur ist Selbstvertrauen der Bevölkerung. Man muss zugeben, dass eine auf religiöse Gefühle von Furcht und Hoffnung begründete Kultur möglicherwiese stärker und strenger sein mag, während eine Kultur, die an die ruhige Vernunft des Menschen appelliert, ganz sicher wenn nicht höher, so doch breiter und inständiger sein wird. Sie mag schwieriger zu erreichen sein, aber wenn sie erreicht ist, hat sie größere Dauer. Militarismus ist notwendig in Europa, weil die Völker missvergnügt sind. Er ist Ritter und Schützer der Natur. Seine wahre Tätigkeit besteht darin: „Die Heiden zu zerbrechen und Christus hochzuhalten.“

Als Voltaire seine Weltgeschichte schrieb, begann er sie nicht mit dem biblischen Schöpfungsakt, sondern mit der uralten chinesischen Kultur, die der europäischen weltenweit überlegen sei. Fast alle europäischen Aufklärer waren fasziniert von der Weisheit, Gelassenheit und Naturverbundenheit der chinesischen Kultur. Leibniz machte den Vorschlag, nicht länger christliche Missionare nach China zu schicken, sondern chinesische Vernunftmissionare nach Europa einzuladen.

Die damaligen Theologen – die sich ebenfalls aufgeklärt wähnten – spuckten Gift und Galle. Die deutschen Christen haben das Gelbe vom Ei, die Synthese der Synthesen erfunden: die Einheit von Glauben und Vernunft. Gegenüber steinzeitlichen Biblizisten aus Amerika fühlen sie sich aufgeklärt, gegenüber gottlosen Nihilisten fühlen sie sich gläubig und sicher unter dem Geleit ihres himmlischen Vaters.

Ein anderer Pfarrersohn gilt als Repräsentant des Nihilismus. Was aber ist ein Glaube an das Nichts?

„Der Nihilismus ist für Nietzsche Ergebnis der Überzeugung, dass es keine absoluten Wahrheiten und Werte gibt. Hieraus ergibt sich ein „Glauben an die absolute Wertlosigkeit, das heißt Sinnlosigkeit.“ „Denken wir den Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: »die ewige Wiederkehr«. Das ist die extreme Form des Nihilismus: das Nichts (das »Sinnlose«) ewig. „Was bedeutet Nihilism? Dass die obersten Werthe sich entwerthen. Dass es keine Wahrheit giebt; dass es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein »Ding an sich« giebt – dies ist selbst ein Nihilismus, und zwar der extremste.“ Entsprechend gibt es auch keinen Maßstab mehr für die Moral.“

Nach Nietzsches Definitionen leben wir heute in der Epoche des vollständigen Nihilismus. In der Postmoderne gibt es keine absoluten Wahrheiten und Werte, keinen Maßstab für Moral mehr. Das Rennen nach grenzenlosem Reichtum soll die Leere und Sinnlosigkeit des gewöhnlichen Lebens verbrämen. Nietzsches künstliche Lehre von der ewigen Wiederkehr ist keine Rückkehr zur zirkulären Naturzeit der Griechen, sondern die Verschärfung der gegenwärtigen Sinnlosigkeit.

Wenn Gott tot ist, ist nicht nur alles erlaubt: es ist alles sinnlos geworden. An der Rückkehr des Westens zum tot geglaubten Gott kann man die versteckte Sinnlosigkeit des westlichen Lebensgefühls erkennen. Nicht erfülltes Leben auf Erden ist Lernziel der Europäer, die sich aller Natur entfremdet haben, sondern der Sinn einer ominösen Heilsgeschichte. Kommt dieser abhanden, taumeln die vaterlos gewordenen Geschöpfe in die Hände frommer Mütter, die mit weiblichen Methoden an den Zielen der Männer festhalten.

Die angebliche Überlegenheit Europas über die Welt hält sich krampfhaft fest an aufgehäuften Geldmassen und menschenübertrumpfenden Maschinen, von denen sie sagen: Die Maschine ist worden wie unsereins. Noch ein Kleines und sie wächst uns über den Kopf. Hach, was wird sie mit uns anstellen. Hach, wie ist das spannend. Hach, wie großartig wir sind, dass wir noch Großartigeres als uns selbst aus dem Nichts herstellen – um das Nichts herzustellen.

Für den Historiker David Motadel ist die angebliche Überlegenheit der Griechen über die Perser nur eine chimärische Luftblase. Er bezieht sich auf Edward Said, der in seinem Buch „Orientalism“ die Polarität zwischen Abendland und Morgenland als Illusion verwarf: „Die Exotisierung des Orients und das Bild eines polaren Gegensatzes zwischen West und Ost, so Said, dienten Europäern vor allem zur Selbstvergewisserung. Häufig fühlten sie sich dabei dem angeblich rückschrittlichen, despotischen Orient zivilisatorisch überlegen.“ (SPIEGEL.de)

„Im klassischen Athen wurde der Sieg der Griechen in den Perserkriegen zur Entscheidung zwischen Prinzipien überhöht. Hellenische Freiheit stand gegen ein angebliches Zwangsregime; westliche Zivilisation, Freiheit und Ordnung mussten sich gegen Tyrannei, Willkür, Unrecht und Maßlosigkeit behaupten.“ Natürlich darf Aristoteles nicht fehlen, der die barbarischen Völker für geborene Sklaven hielt. Dass Platons Schüler in dieser Frage bereits eine reaktionäre Ausnahme war unter den nachsokratischen Befürwortern der Gleichheit aller Menschen, muss regelmäßig unterschlagen werden. Der Sieg der Griechen über die Perser war noch für neuzeitliche Aufklärer das Grundereignis der Geschichte: „Der Sieg von Marathon sei selbst für die englische Geschichte wichtiger gewesen als die Schlacht von Hastings, verkündete der britische Philosoph John Stuart Mill 1846. „Wäre das Ergebnis anders ausgefallen, dann liefen Briten und Sachsen möglicherweise noch heute in den Wäldern herum.“

All diese Geschichten einer angeblichen Überlegenheit der griechischen Ureuropäer hält Motadel für Klischees und selbstgefällige Stereotype, die erst – richtig geraten – durch die Bibel zurecht gerückt wurde:

„Erheblich wichtiger wurde dann die Bibel. Die alttestamentliche Geschichte vom Großkönig Kyros, der den Juden die Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft erlaubt, führte dem Mittelalter und folgenden Generationen einen weisen Orientalenherrscher vor. Als in der späteren Renaissance immer mehr europäische Händler und Reisende das Land besuchten, entdeckten sie begeistert seine komplexe Kultur, feinsinnige Literatur und Philosophie. Leser ihrer Reisebeschreibungen lernten ein fernes Reich geistvoller Eleganz kennen.“

Ist Weisheit eines Despoten exzellenter und wertvoller als etwaige Borniertheit freiheitlicher Demokraten? Wurden Platons königliche Philosophen durch ihre eminente Weisheit daran gehindert, den ersten philosophischen Faschismus auf europäischem Boden zu entwerfen? Die Bibel strotzt derart vor Weisheit, dass alle Weisheit der Menschen vor Gott eine Torheit ist. Haben die Griechen wirklich hochnäsig auf die barbarische Welt hinabgeschaut? Einige bestimmt. Aber nicht die Mehrheit der Denker, die, je mehr sie die Welt erforschten, sie umso mehr zu schätzen wussten.

Aus unbefangener Neugier auf die Welt entstand die Lehre vom Naturrecht der Schwachen: alle Menschen sind gleich und frei. Im Phaidon sagt Sokrates:

»Groß ist Hellas, und es leben gewiss tüchtige Männer in diesem Lande, groß aber sind auch die Stämme der Barbaren, die man alle durchforsten muss, ohne Geld und Mühe zu sparen, um einen solchen Zauberer (der die Furcht vor dem Tode zu bannen versteht) zu finden. Denn es gibt nichts, auf was es notwendiger wäre, sein Geld zu verschwenden.« Auch an anderen Stellen wird auf die geistige Leistungen der Barbaren hingewiesen.“ (Nestle, Der Orient und die griechische Philosophie bis auf Aristoteles)

Mag Griechenland auch die Demokratie erfunden haben: so heißt das noch lange nicht, alle anderen Kulturen seien minderwertige Kulturen der Unterwürfigkeit. In verschiedenen Gemengelagen haben alle Kulturen rund um den Planeten ihre Vorzüge und Nachteile. Wir können alle voneinander lernen – ohne die Freiheitskultur der Demokratie im Geringsten zu relativieren. Demokratie widerspricht keiner Weisheit dieser Welt.

In verschiedensten, oft konträr scheinenden Formen, durchziehen Würde und Gleichheit der Menschen alle Kulturen dieser Welt. Demokratien mit ihrem naturzerstörenden Wirtschaftssystem haben allen Grund, sich der Kritik naturverbundener Eingeborenenstämme zu stellen.

Mögen wir freier sein als andere, so sind wir doch nicht in gleichem Maße gerechter. Oder empathischer. Oder verständnisvoller. Oder hilfreicher. Welche Gründe also gibt es, den aufgenommenen Flüchtlingen einseitig unsere – angeblichen – Verhaltensnormen als der Weisheit letzter Schluss vorzuschreiben? Ohne gleichzeitig zu erkunden, was wir von ihnen lernen können?

Deutschland hat die außerordentliche Chance, mit Hilfe der Einwanderer, nein, nicht seine Vergreisung zu stoppen, sondern seine moralischen Defekte, seine asoziale Ungelenkheit durch neu erworbene Mitmenschlichkeit zu überwinden.

Anne Meiritz hat in einem Artikel zusammengetragen, was eingeborene Leitkulturisten als deutsche Tugenden anpreisen:

„Viele Menschen legen großen Wert auf ihre Privatsphäre und möchten nicht von anderen bedrängt werden. Deshalb ist es üblich, bei geschlossenen Zimmertüren immer anzuklopfen, sich nicht zu dicht neben jemand anderen zu setzen oder für vor jemanden zu stellen und niemandem ein längeres Gespräch aufzuzwingen.“ (SPIEGEL.de)

Wie kann man jemandem ein längeres Gespräch „aufzwingen“? Wäre nicht jeder Versuch einer Kontaktaufnahme ein antideutscher Akt? Bei solch asozialen Verhaltensnormen wäre Sokrates – der die Vorübergehenden auf der Agora stets in ein mäeutisches Kreuzverhör zu verlocken suchte, um ihre demokratische Kompetenz zu überprüfen – binnen 24 Stunden aua Athen ausgewiesen worden.

Was wir strikt und einschränkungslos verlangen können, ist der Respekt vor unserer Verfassung und das Befolgen unserer Gesetze. Das aber wird im Interesse der meisten Neuankömmlinge sein, die aus Sehnsucht nach Freiheit und gesetzmäßiger Sicherheit zu uns flüchteten. In allen anderen Fragen des Zusammenlebens sollten wir Neugierige und Lernende sein.

Die europäische Idee ist: jeder Mensch kann sich in jedem wiedererkennen. In Zustimmung und Kritik. Bei Differenzen müssen wir streiten. Das ist die Grundidee einer lebendigen Demokratie.

Ist Europa ein christlicher Kontinent? Nein, sondern ein Kontinent, auf dem griechische Vernunft und christliche Subordination sich ununterbrochen einen Kampf lieferten. Zumeist in feindlicher Unvereinbarkeit, gelegentlich in falschen Synthesen. Heute in heuchlerischer Einheit aus heidnischer Autonomie und christlicher Botmäßigkeit gegen unfehlbare himmlische Autoritäten.

„Man darf nicht vergessen, dass der europäische Mensch keineswegs ausschließlich oder auch nur vorwiegend das Christentum verkörpert, sondern eine Kultur, die zwar zum Teil im Christentum wurzelt, aber etwa vom Ausgang des 15. Jahrhunderts an unter der Einwirkung der neuentdeckten antiken Kulturwerte großenteils neben ihm, ja in vielen ihrer Bestandteile trotz ihm und im Gegensatz zu ihm erwachsen ist.“ (Wilhelm Nestle)

Die europäische Idee eines selbstbestimmten Lebens der Gattung in Frieden mit der Natur wird sich mit faulen Kompromissen aus Selbstbestimmung und religiöser Fernlenkung nicht realisieren lassen.

 

Fortsetzung folgt.