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Europäische Idee I

Hello, Freunde der europäischen Idee,

Ein neues Jahr, wir müssen von vorne beginnen. Was ist die Grundidee Europas?

„Arbeit, europäisch verstanden, ist der Weg der Veredlung und schafft erst den Begriff der Gerechtigkeit. Ohne den Gedanken der Verbesserung des Menschenschicksals würden wir es nicht wagen, vor die fremden Rassen hinzutreten, noch weniger, die Hand auf sie zu legen. Die Revolte der Vernunft, der Würde des Menschengeistes, ist von den Zeiten der Griechen her unser Erbteil, um das wir kämpfen mit den Fremden, von dem wir mitteilen den Fremden. Den Pfarrer liebten wir nicht, es war recht, dass die Regierung ihn nicht mehr bezahlte. Für das Vertrösten auf den Himmel soll man kein Geld bekommen. Man soll sich auch nichts schenken lassen von einem Reichen. Wir wollen Gerechtigkeit, dafür sind wir Menschen.“ (Heinrich Mann, Der Europäer, 1916)

Selbst Heinrich Mann, der große Europäer, war nicht frei von imperialen Anwürfen. Die Hand auf „fremde Rassen legen“ – selbst im Namen der „Verbesserung des Menschengeschlechts“ –, muss für immer ad acta gelegt werden. Müsste für immer ad acta gelegt werden. Denn noch legt der christliche Westen seine schwere technische, wirtschaftliche und militärische Hand auf die Völker der Welt, um sie im Namen seiner anmaßenden Überlegenheit auszubluten und an der Leine hinter sich her zu ziehen.

Gerade im Namen der Verbesserung der Menschen darf niemand Zwang anwenden, weder bei Fremden noch bei Eigenen. Gutes mit bösen Mitteln zu realisieren, ist faschistische Zwangsbeglückung. Doch gegen solche Versuchungen war der ältere Bruder Thomas Manns, der sein Leben lang zu Unrecht im Schatten seines berühmten, in jungen Jahren humanitätsfeindlichen Bruders stand, in

Wort und Tat gefeit.

Seine schlichten – und für heutige moralfeindliche Ohren unerträglichen – Sätze sind die Substanz der europäischen Idee, die es wert wäre, die unerschütterliche Basis der EU zu bilden.

Diese weltverändernden Grundsätze wurden von Europa im Fieber seines Reich- und Mächtigwerdens, spätestens seit Eindringen der nackten neoliberalen Gier, verraten und verkauft. Was gegenwärtig als Zerrüttung und Auflösung der europäischen Völkergemeinde abläuft, konnte niemanden überraschen, der die Gründerideen Europas nicht verdrängt hatte.

„Das übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer ist reine Erfindung der Dichter – nur von ihnen erhalten und aufbewahrt während der feindlichsten Zeiten.“ Das schrieb Heinrich Mann im Jahre 1927.

Der Satz ist nicht falsch, müsste aber komplettiert werden: Zuerst waren es Dichter und Denker der Aufklärungsepoche, die die Idee Europas beschworen. Deutsche Dichter und Denker aber waren es auch, die nach dem Sieg Napoleons über Preußen Abschied nahmen vom gemeinsamen Europa, von Demokratie und Menschenrechten, um einer maßlosen Germanomanie (so der jüdische Aufklärer Saul Ascher) zu verfallen, die ein Jahrhundert später in der absoluten Katastrophe endete.

Schon jetzt werden die Schuldigen für den europäischen Verfall gesucht, als ob er bereits abgehakt wäre. Deutsche kämpfen nicht gerne für luftige Ideen. Sie betrachten sich als geheilte Idealisten, als ob der überholte deutsche Idealismus sich für eine moralische Welt eingesetzt hätte.

Der deutsche Idealismus hielt nichts von menschlichen Ideen, um die Welt zu verbessern. Über Glück und irdisches Wohlbefinden als Ziel menschlicher Politik konnten deutsche Philosophen nur milde lächeln. Sie verachteten menschliche Ideen als Normen der politischen Weltgestaltung. Ihre großen Ideen waren die Ziele Gottes, des Weltgeistes oder der Heilsgeschichte, die das Schicksal der Menschen allein regierten. Gottes Ideen waren nicht moralisch, sondern völker-überwältigende Erfolgsbestrebungen.

„Deutsch ist nicht der Begriff des Guten“, schrieb Paul de Lagarde, Vorläufer der deutschen Gigantomanen, „sondern der Begriff des Echten“. Echt und recht, kernig und kräftig, schlagkräftig und siegreich: so hatten urtümliche Deutsche zu sein. Keine pazifistischen Weichlinge mit Moralgesäusel.

Ulf Poschardt entwickelt sich immer mehr zum Anwalt machiavellistischer Amoral im Namen einer entgrenzten Staatsraison: „Was für ein Jahr, was für ein Leid – und so viel Moral. Was ist los mit Deutschland und dem Christentum, den Muslimen und Angela Merkel?“ (WELT.de)

Im Gespräch mit einem Jesuiten, den er in bester Tradition der Gegenaufklärung als Philosophen vorstellt, entlockt er dem „Klügsten“ unter den katholischen Frommen den merkwürdigen Satz: „Gerade im Vergleich mit anderen Ländern zeigt sich, dass die große Stärke Deutschlands auch seine große Schwäche ist: Die starke Betonung der Moral und Ethik in der öffentlichen Diskussion.“

Die Begründung folgt auf dem Fuße: „Ich kann mittlerweile verstehen, dass andere Länder den Eindruck haben, wir wollen ihnen im Namen der Moral unseren Willen aufzwingen. Soll nun am deutschen Wesen die Welt wieder einmal genesen, nur dieses Mal im Guten?“

Der Eindruck ist nicht falsch, wenn auch nicht neu: Merkel will Europa domestizieren. Das tat sie spätestens – und ohne geringste Skrupel – mit der Degradierung Griechenlands auf das Niveau eines Entwicklungslandes. Ihre Methoden waren die neoliberalen Würg- und Stechgesetze, die Kohl bei der Einführung des Euro dem Kontinent überstülpte.

In wirtschaftlichen Dingen ist Beistand unter europäischen Partnern ausdrücklich verboten. Woher aber soll dieser kommen, wenn man ihn an anderer Stelle benötigt? Zum Beispiel bei Flüchtlingen, die über Nacht vor den Türen Europas stehen?

Wie lange traktierte Merkel das nach Hilfe rufende Italien wie ein aussätziges Land, dem man auf keinen Fall die Hände entgegenstrecken durfte? Wie lange schaute sie zu, wie die Flüchtlingslager in Nahost von der UNO immer weniger finanziert werden konnten? Politik ist für Merkel nicht das Gute, sondern das wirtschaftlich Siegreiche und national Auszeichnende.

Mit moralischer Geste will sie den Glanz Deutschlands zur Geltung bringen. Doch die Moral, derer sie sich bedient, kann für ihren Sololauf nicht verantwortlich gemacht werden. Moral wird von Merkel vergewaltigt, um das Renommee der mächtigsten Frau in der Welt zu stabilisieren. Heute Moral, morgen das Gegenteil: Merkels Instrumentarium ist nicht auf Moral geeicht, sondern auf rücksichtslose Brillanz und Dominanz. Heute agiert sie als eiskalte Domina, morgen als demütige Magd Gottes, die sich erniedrigt, um zur führenden Macht Europas erhöht zu werden.

Der von Poschardt befragte Jesuit verdächtigt Moral als zwiespältige und nützliche Hure, mit der man Macht ausüben kann. Eine politische Macht, die sich der Moral bedient, um erfolgreich zu sein, ist keine Politik der Moral, sondern der Macht, die Moral zu ihrer Dienerin erniedrigt.

Moral kann sich durchaus der Macht bedienen, um die Welt zu gestalten. Doch diese Macht müsste selbst moralisch sein, was bedeutet, sie sollte moralische Zwecke anpeilen und vom Willen des Volkes getragen sein.

Davon kann bei Merkel keine Rede sein. Zwar sprang sie auf, als sie einen unerwarteten Helferwillen unter ihren Untertanen bemerkte, doch nur, um die Barmherzigkeit zu ihrem persönlichen Ruhm zu verwenden.

Spielen subjektive Motivationen eine Rolle, wenn es um objektive Taten geht? Nein und Ja. Nein, wenn es darauf ankommt, den Hilfesuchenden umstandslos zu helfen. Ja, wenn die Hilfe umso effektiver wird, je stabiler und humaner die politischen Strukturen sind, mit denen man den Fremden langfristig und widerspruchsfrei unter die Arme greifen kann.

Und hier ist der wunde Punkt der Merkel‘schen Verantwortungslosigkeit, die sich als Gesinnungsethik feiern lässt. Geht’s noch geistesabwesender? Schon der Weber‘sche Widerspruch zwischen frommer Gesinnung und säkularer Verantwortung war eine postlutherische Selbsttäuschung, als ob frommes Tun immer moralischer sein müsste als die „Verantwortungslosigkeit“ der Gottlosen, die immer nur auf Macht und Erfolg auf Erden zielte.

Für Gläubige gibt es – außerhalb von Gott – weder heilige Gesinnung noch Verantwortung. Gott gibt das Wollen und das Vollbringen. Wenn der Gläubige den Willen Gottes erfüllt, muss er die Folgen seines Tuns in die Hände Gottes legen: die Verantwortung seines Tuns liegt bei Ihm. Aber auch die Gesinnung ist Gottes Werk und keineswegs die autonome Tat des Menschen.

Eine säkulare Gesinnung, die die Folgen ihres Tuns nicht beachtet, ist genau so verantwortungslos wie eine Machtpolitik, die auf Gesinnung keinen Wert legt. „Liebe und tue, was du willst“: Augustins Maxime zeigt, dass es nur eine einzige gottgefällige Gesinnung geben kann und das ist die von Gott selbst erwirkte Herzensgesinnung. Wer in Gott ist, dem ist alles erlaubt. Wer nicht, dem wird alles als Sünde zugerechnet. Kant glaubte an einen moralischen Gott, seine Gesinnung legte die Folgen ihres Tuns in die Hände desselben.

Man muss nicht an Gott glauben, um die wahrscheinlichen Folgen seines Tuns abzuschätzen. Allmächtig und allwissend aber ist kein Mensch, dessen Tun jederzeit von einer amoralischen Welt verfälscht werden kann. Was nicht bedeutet, dass er nicht ständig den Versuch machen müsste, stets das Optimale zu erreichen.

Je mehr die Realität von Moral geprägt wird, je weniger kann moralische Gesinnung zu amoralischer Verantwortungslosigkeit führen. Erst in einer vollständig moralischen Welt werden Gesinnung und Verantwortung zusammen fallen.

Die christlichen Eliten der BRD bezweifeln immer dreister die moralische Kompetenz der Gottlosen. Ihre Politik hat immer deutlicher den Zweck, die vom Unglauben bedrohte Bevölkerung zum wahren Glauben zurückzuführen.

Der Artikel von Maritta Adam-Tkalec in der BLZ attackiert zu Recht den geistigen Hochmut der Frommen, die allen Ungläubigen die moralische Kompetenz absprechen. Wen wundert es, dass dieselben Frommen – besonders die „Besieger des DDR-Sozialismus“ durch die „Kraft ihres Glaubens“ – larmoyant über die wachsende Diffamierung der Christen klagen.
„Innenminister Thomas de Maizière stellt pauschal urteilend einen direkten Zusammenhang zwischen Fremdenfeindlichkeit und Atheismus her, weswegen mehr Christlichkeit besser wäre. Die Grüne Katrin Göring-Eckardt unterstellt Atheisten kognitive Störungen, weshalb das komplexe Christentum, „verständlich und lebensnah“ vermittelt werden müsse. Die Pfarrerstochter im Kanzleramt formuliert vorsichtiger, aber kaum weniger diffamierend: „Unsere Politik fußt auf dem christlichen Menschenbild.“ Wie in allen einschlägigen Äußerungen dominiert die Einbildung, das Christentum habe Moral, Gerechtigkeit und Nächstenliebe erfunden“.

Des Jesuiten Verdächtigung der Moral als ambivalentes unzuverlässiges Unterfangen lässt nur eine Folgerung zu: weniger Moral in der Politik! Die beste Politik ist machiavellistische Amoral. Die Welt – so die WELT – darf nicht besser werden, damit die klerikale Erlösungsmaschinerie notwendig bleibt. Poschardts Festhalten am sündigen Treiben der Welt, welches auf den Namen Neoliberalismus hört, ist eine hintergründige Ehrenrettung des religiösen Priesterstandes. Das Sündige und das Heilige bedingen sich gegenseitig. Was wäre ein Heiland ohne den Teufel, ein Arzt ohne Kranke?

In der TAZ erschien ein bemerkenswerter Artikel über Europa aus der Feder von Ulrike Guérot. Europa, das Projekt weiblicher Friedensliebe wurde durch den machiavellistischen Nationalstaat – den männlichen Leviathan – zur Wirkungslosigkeit verurteilt:

„Der männliche Leviathan, der Nationalstaat, ist gleichsam die Antithese zur grenzenlosen Europa, dem ganzheitlichen, weiblichen Frauenkörper, in dem alle Völker und Nationen Europas ihren organischen Platz haben: Alle werden gebraucht, damit die Europa gesund ist. Dann aber können sie nicht als Nationalstaaten souverän sein.“

Warum muss Europa auseinanderbrechen, wenn es sich nicht an Haupt und Gliedern reformiert? Weil es die Prinzipien der Demokratie missachtet:

„Im Grunde war (und ist) EU-Europa die Missachtung sämtlicher demokratietheoretischer Fundamente, die die klügsten Autoren der politischen Ideengeschichte in Europa hervorgebracht haben. Jetzt, im 21. Jahrhundert, muss das europäische Projekt auf der Gleichheit aller europäischen Bürger jenseits von Nationen beruhen. Europa muss vom Gleichheitsgrundsatz aller europäischen Bürger aus (neu) gedacht werden: Allem voran stehen die Wahlrechtsgleichheit und die Gleichheit vor Steuern. Wird das beherzigt, ist ein funktionierendes politisches System für ein einheitliches Europa schnell erdacht.“ (Ulrike Guérot in TAZ.de)

Wir hätten das europäische Elend voraussehen können, wenn wir es überhaupt hätten sehen wollen. Doch wir wollten nicht, schreibt Brigitte Fehrle in der BLZ – allerdings nur im Blick auf die syrischen Verhältnisse:

„Wir haben die Augen zugemacht, solange es irgend ging. Wir haben die Warnungen nicht hören wollen. Wir haben nicht hingeschaut, nicht nachgedacht. Der Krieg in Syrien ging ins vierte Jahr. Die Lage in den Flüchtlingscamps in Jordanien und in der Türkei wurde schlecht und schlechter. Der Terror des Islamischen Staats wurde grausamer und erfolgreicher. Wir haben nicht verstanden, haben nicht verstehen wollen, dass uns all das betrifft, etwas angeht.“

Wo können Heranwachsende demokratisches Verhalten lernen? In autoritären, zensurgesteuerten Schulen? In den von der Wirtschaft gehetzten und reglementierten Universitäten? In kapitalistischen Befehls- und Gehorsamskasernen? Im verseuchten Sport? In demokratiefeindlichen Kirchen? Die Kirche ist kein Philosophenclub, spricht Ober-Inquisitor Müller in der ZEIT Klartext:

„Es ist das Lehramt von Papst und Bischöfen, die Bekenntnisaussagen der Kirche zu definieren. Unsere Kongregation steht in ihrem Dienst. So schützen wir weiterhin den Glauben gegenüber Irrlehren oder schismatischen Tendenzen. Und wir müssen gegen die innere Säkularisierung der Kirche unsere Stimme erheben.“

Rom hat gesprochen, die Chose ist beendet: das ist noch immer die totalitäre Definition der Wahrheit. Da hilft kein clownesker Papst Franziskus, der in seiner Jugend am liebsten Metzger geworden wäre. Die Unterdrückung und Ausrottung aller Meinungs- und Denkfreiheit unter einer Milliarde Katholiken ist zu seinem göttlichen Beruf geworden.

Europa lernen heißt, demokratische Zivilcourage in allen Bereichen des Lebens einüben. Man denke nur an das absolutistische Regiment bei VW. Glaubt jemand im Ernst, dort habe sich nach dem Täuschungs-Desaster das Betriebsklima wirklich verändert?

In medialen Debatten darf niemand Recht haben wollen. Doch elitäre Despoten in allen Bereichen der Gesellschaft an den Pranger zu stellen; das wagt kein Wirtschafts-, Sport- oder Wissenschaftsjournalist. Von Merkel gar nicht zu reden. Ihre medialen Söhne sonnen sich selbst im internationalen Glamour der einst so grauen und unscheinbaren Mutter.

Vor Tagen sprach die Auserwählte zu ihrem Volk. Sagte sie ein einziges Wort über die europäische Krise? Über deren Ursachen? Über die Grundprinzipien, auf denen Europa aufgebaut wurde? Sie hielt eine familiäre Beschwichtigungspredigt und dankte ihren Untertanen für ihre guten Werke. Die politischen Vorstellungen der Helfer sind für sie ohne Interesse. Sie reduziert die HelferInnen zu Privat-Moralisten.

Lob von oben brauchen die Deutschen wie Sauerstoff zum Atmen. Lob ist die unschuldig und pädagogisch daherkommende, wirksamste Korruptionsmethode in der Hand der Mächtigen. Lobe den Pöbel – und er verstummt: ah, noch gibt es jemanden auf dieser Welt, der meine verborgene Brillanz erkannt und entdeckt hat! Mit vergiftetem Lob entpolitisiert und entmündigt eine gewählte Pastorentochter eine ganze Nation – und die Nation hält ergriffen still. Wer lobt, befestigt seine Macht über diejenigen, die das Eiapopeia zu ihrer psychischen Festigung nötig haben. Obszöner kann das Königin-Luise-Theater nicht zelebriert werden.

„Ein Mensch, der sich an die Herrenkaste heranmacht, begeht Verrat am Geist“, hatte Heinrich Mann die Untertanenmentalität seiner Landsleute gegeißelt. Wer verbittet sich hierzulande das vergiftete Lob aus dem Munde der Kanzlerin? Wer solche Lobsprüche als Motivation für seine ehrenamtlichen Taten benötigt, bleibt ein lächerlicher Untertan. Moral als fremdbestimmtes Lohn- und Strafsystem: das sind die unheilvollen Folgen einer uralten christlichen Einschüchterungs- und Belohnungsethik.

Merkel betreibt keine Politik, sondern machiavellistische Imponier- und Machtpolitik mit geringen Beimengungen göttlich verordneter Moral, die nicht die Welt verändern soll, sondern nur dem Erwerb der eigenen Seligkeit dient.

Sie hätte den Flüchtlingen nicht geholfen, wenn Gott ihr die hilflosen Massen nicht persönlich vor die Füße geworfen hätte. Hilfe als Antwort auf eine situationsbedingte Herausforderung, die von Gott selbst inszeniert wurde: das ist die Haltung des Samariters im Gleichnis. Ein Samariter reagiert auf Situationen und Augenblicke. Langfristige Politik, Prophylaxe des Elends durch rationale Voraussicht und strukturelle Maßnahmen sind ihm wesensfremd.

Eine grundsätzliche Verbesserung des menschlichen Daseins in Sünd und Not sind dem Gläubigen verboten. Die Welt ist nicht reparierbar. Das Elend der Welt muss bleiben, bis der wiederkehrende Messias die alte Welt zertrümmert und eine neue schaffen wird.

„Die Tatsache steht fest, dass die altchristliche Missions- und Erbauungsliteratur von einer prinzipiellen sozialen Fragestellung nichts weiß, dass im Mittelpunkt überall die Fragen des Seelenheils, des Monotheismus, des Lebens nach dem Tode, des reinen Kultus stehen. Klassenunterschiede oder soziale Kämpfe sind zugunsten der Frage nach dem ewigen Heil und den innern Gütern ausgelöscht worden.“ (Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen)

Merkels Agape imitiert bis aufs I-Tüpfelchen das Tun des Samariters:

„Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte ihn sein, ging zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß darein Öl und Wein und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in die Herberge und pflegte sein. Des anderen Tages reiste er und zog heraus zwei Groschen und gab sie dem Wirte und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst dartun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“

Ist das Verantwortungsethik, wenn man die Folgen seines Tuns einem Wildfremden überlässt, dessen moralische Zuverlässigkeit man nicht kennen kann? Was, wenn der Wirt den Verwundeten miserabel behandelt, ihn vielleicht auf die Straße gesetzt hätte?

Verantwortliche Politik ist Überprüfung sämtlicher Folgen des eigenen Tuns. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Kontrolle ist kein misanthropischer Dauerverdacht. Sondern fürsorgliches Mitdenken um die Fehlerhaftigkeit aller Menschen.

Was, wenn der Wirt heute Erdogan hieße, der Milliarden der EU kassierte, um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, sie aber in Wirklichkeit miserabel behandelte? Ganz zu schweigen von seinen Versuchen, sein Land immer mehr in eine religiöse Diktatur zu verwandeln?

Merkels Moral ist Instrument eines augenblicks-fixierten Hilfs-Räuschleins, einer nationalistischen Heiligung und persönlichen Seligkeitsgewinnung. Nüchterne solidarische Politik aber denkt vorausschauend, strukturell und nachhaltig.

Macht kann nicht immer moralisch sein. Sie muss sich aber daran messen lassen, dass sie sich konsequent moralischen Zwecken annähert. Wer amoralische Politik für erstrebenswert hält, bleibt ein Feind der Humanität.

Es gibt nur ein einziges irdisches Medikament, um menschliche Wunden zu behandeln und gründlich zu heilen: die Moral. Das gilt auch für die Wiederbelebung der europäischen Idee.

 

Fortsetzung folgt.