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Multikulti VI

Hello, Freunde des Multikulti VI,

wer nicht Nein sagen kann, kann auch nicht Ja sagen: der muss Nein tun – und ausgrenzen, abschieben, diffamieren, zuschlagen oder töten. Die Unfähigkeit Nein zu sagen, ist multikulturelle Impotenz. Wer zu allem Ja sagt, sagt zu allem Nein.

Deutsche Touristen sind wie Herder, Goethe und die Romantiker: sie preisen alles Fremde, das sie in der Literatur oder weit draußen in der Welt erlebt haben – und rümpfen die Nase über dasselbe Fremde, wenn es ihnen in Neukölln übern Weg läuft.

Wer hierzulande polemisiert oder Recht haben will, müsste vom Verfassungsschutz unter Kuratel gestellt werden. Phönix-Moderator Michael Hirz kann gar nicht oft genug die Idylle Deutschlands mitten im desolaten Europa beschwören. Die deutschen Oberlehrer haben sich gehäutet und wurden wirtschaftliche Oberlehrer und Dauersieger: sie müssen nicht mehr Recht haben – sie haben Recht.

Heute zählen keine Argumente, sondern ökonomische Fakten. Der frommen Kanzlerin ist das Wort Disputation unbekannt. Ihre Politik rechtfertigt sie durch Herleiern von Wirtschaftszahlen, nicht durch luzide Gedanken. Ihre Politik mag luisenhaft gen Himmel gerichtet sein, doch ihre Wirtschaft ist antiromantisch. Die Romantik war

zahlenallergisch und antikapitalistisch:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Ökonomen wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten
,
Und man in Offenbarungen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.    

(Frei nach Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg)

Merkel hat das lutherische Schatzkästlein geplündert und ihr geheimes Wort den geliebten Untertanen verraten: wir schaffen das. Hier steh ich, ich kann nicht anders. Damit wird sie das ganze verkehrte Wesen der Kleingläubigen davonjagen.

Vergessen wir nicht, Merkels Flüchtlingspolitik war die spontane Erfindung der Bevölkerung. Wieder mal sprang sie auf, die professionelle Mitläuferin, weil sie die Chance witterte, in den Geschichtsbüchern zu landen.

Licht und Schatten gehören zusammen, aber nicht das Licht der Vernunft und die Verdunkelung unterwürfigen Glaubens. Zur Helligkeit der Vernunft gehört die natürliche, erholsame Polarität der Nacht, sonst droht endemische Lichtverschmutzung.

Licht und Schatten des Novalis aber sind nicht Tag und Nacht, sondern Ja und Nein, das zu breiigem, grauen Jein verrührt wird. Dialektik ist weder Ja noch Nein, sondern Ja und Amen zu allem wozu auch das Schreckliche gehört. Das Wirkliche ist vernünftig, auch wenn es die Menschen zuschanden macht. Dem Elend der Welt sollte man erklären: wenn du wirklich bist, musst du auch vernünftig sein. Das ist ächte deutsche Klarheit – ein Wörtchen, das von Verachtung und Ächtung kommen muss.

Wehrhafte Demokraten sind streitsüchtige Rabauken, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Sie wissen, wann sie um Punkt und Komma streiten müssen – und wann sie die schöne Fremde ans Herz drücken können.

Tritt fest auf, mach‘s Maul auf – aber hör nicht auf, solange der heilige Kern der Demokratie und der Menschenrechte gefährdet ist. Oh doch, es gibt eine irdische Heiligkeit, die mit überirdischer nichts zu tun hat. Sie verteidigt das humane Leben in Natur und Gattung bis zum letzten Atemzug. Nennen wir es getrost heroisch.

Wehe dem Land, das Helden braucht? Wir haben mehr Helden, als wir denken – aber nicht unter den Eliten, die außer matthäischem Profit nichts kennen: wer hat, dem wird gegeben. Mutter Natur ist für sie eine sentimentale Hintergrundkulisse für ihr alpenzerstörendes Skifahren oder ihre bestialischen Beutezüge bis in die letzten Winkel Sibiriens oder der brasilianischer Urwälder. Es darf kein Fleckchen Erde geben, das von den Meistern des Universums nicht erkraxelt, erfahren, überflogen, durchpaddelt, per Bicykel überrollt oder sonstwie imperial defloriert worden ist.

Merkel tritt zwar lutherisch fest auf, mit dem Maulaufreißen aber hat sie‘s nicht so. Damit wäre sie bestens geeignet, die bevorstehenden Luther-Gedächtnisorgien als deutschtümelnde Wartburgfeste zu eröffnen.

Zuvor aber muss der Papst nach Aachen kommen, um die europäischen Festspiele als deutsch-christliche Ouvertüre zu eröffnen. (Letzte Meldung: Der Papst kommt nicht nach Deutschland. Die Aachener müssen ihm den Preis nach Rom hinterhertragen. Geht’s noch ehrloser?) Die Deutschen kriechen vor jedem Popen und wenn er ein Clown wäre und noch nie ein europäisches Land besucht hätte. Da kann selbst die distinguierte FAZ den Spott nicht zügeln.

Wer eigentlich hat die evangelischen und katholischen Oberhirten autorisiert, die bewundernswerten Flüchtlingshelfer mit ihrem penetranten Lob zu behelligen? Wer eigentlich hat die kriech-festen Medien autorisiert, diese Schleimopern als Weltnachrichten zu verbreiten? Da soll doch Nietzsche drein fahren: wer andere lobt, erhebt sich über sie. Man lobt, wenn man lobt, immer sich selbst. Um Günther Anders nicht zu vergessen: ich lasse mich nur von Menschen ehren, die ich selbst ehren könnte.

Wie viele Familien hat der Vatikan aufgenommen? War es eine Handvoll? Wie viele Millionen Spendengelder werden in vatikanischen Luxusgemächern veruntreut oder müssen mafiöse Blutgelder waschen? Wie lange noch lassen sich die Evangelen ihre unter Napoleon enteigneten Güter vom Staat mit jährlichen Millionen entschädigen? Wie viele Flüchtlinge hätte man mit diesen Riesengeldern schon aufnehmen können?

Weshalb muss die Pension katholischer Bischöfe von deutschen Steuerzahlern bezahlt werden? Kirchen brauchen staatliche Gelder, um ihre guten Werke zu erfüllen? Können Demokraten nicht humanere Kitas betreiben als Kirchen, die den Kindern Schreckensmärchen von Gericht und höllischem Feuer eintrichtern?

Multikulti sagt Ja zu allem, wozu es nicht Nein sagen muss. Nein muss es zu allem sagen, was Nein zu Multikulti sagt. Alles ist erlaubt, was plurales Miteinander als Fest der Völker und Kulturen ermöglicht. Alles verboten, was partikulare Unfehlbarkeiten zu Despotien der Welt erheben will.

Multikulti ist das universelle Reich der geschwisterlichen Freiheit und Gleichheit und sagt JA zu allen gleichwerten Menschen und NEIN zu Herrenmenschen, Zukunftsgenies und Geld-Giganten, die auf andere herabspucken, ihnen den Lohn ihrer Arbeit wegzocken, sie als Abhängige an die Leine legen und ihnen vorschreiben wollen, welche Zukunft auf sie zukommen wird.

Der Faschismus hat sich weiter entwickelt. Er benötigt keine Stukas mehr oder stramme Zöglinge aus Ordensburgen, die jeden Befehl der Obrigkeit in zackigem Gehorsam ausführten. Die totalitären Bestimmer sind heute Milliardäre, die über Wohl und Wehe von Millionen Menschen am flackernden Kaminfeuer entscheiden.

Liberalismus soll von Freiheit kommen und ein Neo-Liberalismus will das Leben von Milliarden Menschen bis ins Kleinste reglementieren? Selbsternannte Genies – die außer Rechnen nichts können – wollen der gesamten Menschheit vorschreiben, welche Revolutionen auf sie warten, welche Maschinen sie zur Glückseligkeit benötigen und welche Chips sie sich einpflanzen lassen müssen, um nicht als Deklassierte zu enden?

Früher regierten Gottesmänner die Welt, heute technische Genies und raffgierige Tycoons. Hat sich was geändert? Ja, das Bewusstsein der Menschen, die sich dieses Skandalon nicht mehr bieten lassen.

Brüder und Schwestern, lassen wir‘s uns von niemandem mehr ausreden: wir schaffen das! Wir schaffen es, die Welt in die Heimat der Menschen zu verwandeln, auf der niemand ein Reich im Himmel vermissen wird.

Welch böser Daimon hat SPIEGEL und TAZ geritten, einen schändlichen Artikel gegen Abdel-Samad schreiben zu lassen, der unter Lebensgefahr vor der totalitären Struktur des Islam warnt – und sehr wohl unterscheiden kann zwischen Salafisten und der Majorität der Gläubigen, die den faschistischen Kern ihrer Religion überwunden haben?

Einen kritischen Punkt allerdings kann man Samad nicht ersparen: seine Kritik müsste Christentum und Judentum mit einschließen. Genau dies will der fundamentalistische Verfasser Daniel Bax verhindern. Das Christentum ist mitnichten aufgeklärter als der Islam. Mit kleinen terroristischen Nadelstichen gibt sich der geld-, waffen- und maschinenstarrende Westen allerdings nicht zufrieden. Er attackiert in weltweitem Maße die Natur und das ökonomische, politische und kulturelle Selbstbestimmungsrecht der Völker auf Erden. Sein apokalyptischer Glauben, den er als selbsterfüllende Weltherrschaftspolitik betreibt, gefährdet das Überleben der Gattung. Sonst nichts.

Gleichwohl muss man die Gläubigen einer Erlöserreligion auffordern, den letzten konsequenten Schritt zu tun und sich auch vom giftigen Kern ihrer Religion loszusagen – ohne ihn mit wolkigen Deutungen retten zu wollen, obgleich man sich von ihm distanziert.

Deuten ist weder Fisch noch Fleisch, weder Glaube an einen unfehlbaren Offenbarungstext noch scharfe Kritik an der Heiligen Schrift. Kann Gott kein deutsch, arabisch? Beherrscht er nicht alle Sprachen der Welt in Perfektion? Leidet er an Alzheimer oder Wortfindungsstörungen, dass man ihm soufflieren muss, was er eigentlich gemeint hat oder gemeint haben sollte?

Was für ein unwürdiges Schauspiel, diese neunmalkluge hybride Besserwisserei der Frommen, die ihrem Gott das ABC beibringen wollen. Wer eine Religion benötigt, um gute Werke zu vollbringen, sollte sie gefälligst in eigener Regie erfinden. Religionen sind persönliche Motivationssysteme – und solange uninteressant, solange sie keinen Unfug unter den Menschen anrichten.

Der SPIEGEL muss sich wohl um seine Weihnachtsauflage gesorgt haben, als er die absurde Frage stellte: Gibt es Gott?

200 Jahre nach Kant werden noch solche Fragen gestellt? Das Gottestheater ist ein untrüglicher Beweis für die unaufhaltsame Intelligenzverminderung der westlichen Welt durch Religion. Kein Wunder, dass auch die Naturwissenschaften nicht mehr wissen, was eine überprüfbare Wissenschaft ist, stattdessen immer mehr nach Gott im Universum Ausschau halten.

Seitdem die Wissenschaften sich der öffentlichen Kritik entzogen haben – seit der geheimen Entwicklung der Atombombe in Chicago nämlich –, seitdem werden sie vom Virus der heiligen Demenz heimgesucht.

„Eines der ersten besprochenen Themen war Überprüfbarkeit. Damit man eine wissenschaftliche Hypothese als gültig betrachten kann, verlangen Wissenschaftler oft, dass es ein Experiment gibt, das die Hypothese ausschließen – oder „falsifizieren“ könnte, wie der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper es in den 1930er Jahren ausdrückte. In ihrem Artikel von 2014 wiesen Ellis und Silk darauf hin, dass einige theoretische Physiker sich in einigen Bereichen von dieser Leitlinie entfernt hätten – oder sogar forderten, sie aufzuweichen.“ (Spektrum.de)

Die Wissenschaften in der ganzen Welt hängen längst an der Kette der Tycoons, von denen es sich keiner nehmen lässt, zum Stifter eines persönlichen Lehrstuhls zu werden. Wissen, was ist, allein um des Wissens willen? Das sind vorsintflutliche Legenden. Bildung um des Aufstiegs willen? Derselbe Schmarren. Sind die Aufgestiegenen etwa die Gebildetsten der Republik? Höchstens umgekehrt: wer gebildet ist, boykottiert die Dominanz der Aufgestiegenen und unternimmt alles, um die drohende ökologische Katastrophe zu verhindern.

Bildung ist moralische Integrität, die sich ein Bild von der Welt macht, um sie in eine Heimstatt der Menschen zu verwandeln. Unsere genialen Historiker halten philosophische Bildung für das Werk einer akademischen Ausbildung. Gottlob muss Hitler ein Kretin gewesen sein, damit die Deutschen sich die intelligente Frage stellen dürfen, weshalb sie einem Volltrottel gefolgt sind:

„Am schwächsten ist Hitler, wenn er versucht, sich die Aura des Philosophen und Welterklärers zu geben. Grauenhaft! Das kann ihm ja auch gar nicht gelingen. Der Mann hatte keine Schulbildung, geschweige denn eine akademische Ausbildung.“  

So ein hochgebildeter Interpret Hitlers, der „Mein Kampf“ in allen Punkten widerlegen muss, damit die doofen Deutschen dem teuflischen Verführer nicht ein zweites Mal erliegen. So effizient muss die Aufarbeitung der Vergangenheit gewesen sein, dass ein verruchtes Buch fähig sein könnte, die Deutschen erneut seines Weges zu führen. (WELT.de)

Wann begann die theologische Deutungsdespotie? Mit Aufkommen der modernen Naturwissenschaft. Schon Kopernikus hatte die biblische Mär zerstört, die Erde sei der Mittelpunkt des Alls. Newton, Galilei & Co bewiesen, dass die Natur durchgängig von stabilen Gesetzen reguliert wird, bei denen göttliche Wunder und Interventionen ausgeschlossen sind. Kant räumte auf mit der biblischen Aussage, die Welt sei 6000 Jahre alt. Seine Berechnungen des Erdalters näherten sich bereits einer Millionenzahl von Jahren. Was also sollte mit den „naturwissenschaftlichen“ Aussagen der unfehlbaren Schrift geschehen – die heute schon wieder in Schulbüchern des Bible Belt als Wissenschaft gelerhrt werden?

„Tatsächlich wuchsen die Spannungen zwischen dem ständig neu aufgelegten Buch der Natur und der in Bleibuchstaben gegossenen Bibel. In einer Art Generalapologie erinnerte ein Geistlicher daran, dass „der Heiligen Schrift Absicht nicht ist, uns in philosophischen Dingen, sondern in theologischen zu unterrichten.“ Entsprechende Bibelstellen seien daher nicht „genau nach dem eigentlichen Wortverstande“ aufzufassen.“ So zu lesen im instruktiven Buch über die Aufklärung von Steffen Martus: „Aufklärung, ein deutsches Epochenbild“.

Fakultät auf Fakultät wurde der Kompetenz der Schrift entzogen, bis am Schluss nur noch die „Empfindung eines Etwas“ als Definition Gottes übrig blieb. Auch Bultmanns Entmythologisierung hatte den Zweck, die Beziehung des Frommen zu seinem Gott allen irdischen Erkenntnissen zu entziehen – bis am Ende nur noch eine leere existentielle Eingebung den Menschen im Stiche ließ. Wer nichts Sachhaltiges zu sagen hat, kann auch von keiner Sache widerlegt werden. Der moderne Glaube wurde zum „presque rien“, zum Fast-Nichts einer inhaltslosen Phantasmagorie.

„Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ (Bultmann)

Je mehr die Wissenschaften vordrangen, je mehr litten die Deutungen der Schrift an Schwindsucht. Stopp, je mehr Raum gab es für die Einnistung der heiligen Sprache, die der griechischen Logik der Buchstaben die Luft abließ:

„In der Mitte der Durchdringung der christlichen Theologie durch die griechische Logik keimt etwas Neues auf: Die Mitte der Sprache, in der sich das Mittlertum des Inkarnationsgeschehens erst zu seiner vollen Wahrheit bringt. Die Christologie wird zum Wegbereiter einer neuen Anthropologie, die den Geist des Menschen in seiner Endlichkeit mit der göttlichen Unendlichkeit auf eine neue Weise vermittelt. Hier wird das, was wir die hermeneutische Erfahrung genannt haben seinen eigentlichen Grund finden.“ (Gadamer, Wahrheit und Methode)

Auf deutsch: durch Eindringen göttlicher Unendlichkeit in die menschliche Endlichkeit wird Sprache aus einem irdischen zu einem heiligen Geschehen. Ab jetzt sprach jeder Gläubige seine unvergleichlich eigene Sprache. Aus Sprache als einem universellen Verständigungsmittel wird eine autistische Privatsprache. Das heutige Verständigungselend ist das Ergebnis dieser Eingießung des Geistes, der die von griechischer Logik beherrschte Sprache in unendlich viele Privatsprachen zersprengte.

Die zeitlose Wahrheit der griechischen Logik hatte den relativen, historisch-wechselnden Sinn der Schrift blockiert. „Die historische Weltansicht konnte nicht zur vollen Ausbildung kommen, solange klassizistische Vorurteile dem klassischen Altertum eine vorbildliche Sonderstellung zubilligten.“ So Gadamer, Beschreiber und Begründer der hermeneutischen Sprachverwirrung.

Was aber ist eine historische Weltansicht? Wenn jede Epoche in sich vollendet und Verständigung mit anderen ausgeschlossen ist. Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, jede Deutung ebenso. Die subjektive Sicht erklärt sich für vollkommen. „Historisch denken heißt jetzt, jeder Epoche eine eigene Vollkommenheit zugestehen.“ (Gadamer)

Aus einem Übel – der schwindenden Sachhaltigkeit der Heiligen Schrift – machte die Theologie eine Tugend: der Sinn der Schrift wurde zur Beute eines unfehlbaren heiligen Subjekts, das von niemandem mehr überprüft oder korrigiert werden konnte. Wie jede Einzelperson ein Sonder-Siegel der Vollkommenheit erhielt, so jede Nation als besonderes Kollektivsubjekt. Der Sonderweg der deutschen Nation war die unvermeidliche Konsequenz eines theologischen Sieges über die griechische Rationalität des Denkens und Sprechens.

Wenn jeder Mensch seine eigene perfekte Privatsprache spricht, wird eine multikulturelle Verständigung zwischen rivalisierenden Positionen und Meinungen unmöglich. Wenn jeder mit privaten Erleuchtungen und Deutungen aufwarten kann, wird jede Privatperson unfehlbar.

Die deutsche Nation – ein Kollektiv aus Millionen unfehlbarer Einzelpersonen – begab sich auf den Weg politischer Unfehlbarkeit. Der theologischen Deutungsvollkommenheit entsprang die politische Grandiosität der deutschen Nationalhymne: „Deutschland, Deutschland, über alles in der Welt“. Die erste Strophe des Liedes wurde in der Nachkriegszeit verboten. Kein Problem für kreative Germanen: aus der politischen wurde eine wirtschaftlich unbesiegbare Nation – mit einer unüberwindbaren Kanzlerin an der Spitze.

Vollkommene kennen keine Bedürfnisse nach multikultureller Erweiterung oder nach Bereicherung durch das Fremde. Das vollkommene Ich ist immer mit sich allein. „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Deutschland hat die Wahl: will es die Einwanderer nach dem eigenen Bilde formen – oder in der Begegnung mit den Fremden über sich hinauswachsen?