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Multikulti II

Hello, Freunde des Multikulti II,

befremdliches, fast gelähmt wirkendes Geschehen- und Gewährenlassen – das mit Verstehen und Tolerieren nichts zu tun hat – und überhart-verständnisloses Zuschlagen und Aburteilen: zwischen diesen beiden Polen schwankt der deutsche Nationalcharakter wie ein irrer, unberechenbarer Kobold. Entweder fremdenfeindlich – oder demokratie-allergische, auf Heiligkeit versessene Barmherzigkeit, die sich in falsch verstandener Toleranz scheut, für demokratisches Recht und Gesetz einzutreten: das sind die Extreme deutschen Verhaltens. Altruistisch müssen sie sich selbst aufgeben, egoistisch den schwächeren Konkurrenten opfern. Wohlverstandener Egoismus, identisch mit wohlverstandenem Altruismus, ist ihnen unbekannt.

Ehrenwerte Kosmopoliten lehnen den Begriff des Nationalcharakters als Vorurteil und Klischeebildung ab. Doch eine realistische Diagnose ist kein Alibi für die Prognose eines hoffnungslosen Charakters. Auch Nationalcharaktere sind lernfähig und können zu neuen Ufern aufbrechen.

Was die durchschnittliche deutsche Seele betrifft, würden Freudianer von erheblicher Ich-Schwäche unter der Knute eines extrem strafenden und belohnenden Über-Ichs sprechen. Man könnte auch von übermäßig religiöser Gewissensbildung bei mangelhafter Emanzipation von einem allmächtigen Gott reden, der sich seinen Geschöpfen mit folgenden Worten vorgestellt hat:

„Ich, der Herr, dein Gott, bin ein starker und eifriger Gott, der über die, so mich hassen, die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied; aber denen, so mich lieben und meine Gebote halten, tue ich wohl in tausend Glied.“

Seine Katechismusfrage: was ist das? beantwortet Luther mit den Worten:

„Gott dräuet zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten vor seinem Zorn und nicht wider solche Gebote tun. Er verheißet aber Gnade und alles Gute allen, die solche Gebote halten; darum sollen wir ihn

auch lieben und vertrauen und gerne tun nach seinen Geboten.“

Luther: „Was droht Gott allen, die ihn hassen und seine Gebote übertreten“?

„Seinen Zorn und Ungnade, zeitlichen Tod und ewige Verdammnis.“

Das ist nur die älteste Schicht der christlich-nationalen Charakterbildung. Christlich-national ist kein Widerspruch im Beiwort. So viele christliche Nationen es gibt, so viele Christentümer gibt es.

Die lutherischen Deutschen – schon hier gilt die Einschränkung, dass Preußen eher reformiert, also lutherisch und calvinistisch war – trennte ein tiefer Graben von den calvinistischen Angelsachsen. Dieser ideologische Konflikt spielte im Ersten Weltkrieg die entscheidende hasserfüllte Rolle. Angelsächsische Krämerseelen und lutherische Helden – die sich aus frommen Untertanen zu militanten Verteidigern ihrer Obrigkeiten gemausert hatten –, wollten durch kriegerischen Gottesbeweis herausfinden, welche Nation der Schöpfer wohl am liebsten hätte.

Primär religiöse Ursachen führten zu sekundär weltlichen Folgen, die sich in politischem, wirtschaftlichem und psychologischem Gesamtverhalten niederschlugen. Angelsächsische Calvinisten, obgleich vorherbestimmt, entwickelten einen offensiven, ja aggressiven Welteroberungs-Stil, um sich ihre Auserwähltheit selbsterfüllend zu beweisen. Deutsche Lutheraner, gehorsam und untertänig, entwickelten sich zu militärischen Heroen, um die Dauerschande des Besiegtwerdens für immer ungeschehen zu machen.

Auch deutsches und amerikanisches Christentum unterscheiden sich in wesentlichen Punkten. Deutsche Christen fühlen sich entmythologisiert, aufgeklärt und ökologisch, dem „tötenden“ Buchstaben überlegen, unbekümmert um das Ende der Geschichte; die amerikanischen sind fundamentalistisch, apokalyptisch, antiökologisch und fühlen sich bereits hienieden im Garten Eden.

Im Gegensatz zum Judentum sind Christentümer von Anfang an übernational – und haben sich im Verlauf der Geschichte dennoch zu nationalen Gebilden entwickelt, die durch Wettbewerb und Kriege gegen ihre Geschwister im Herrn ihre himmelsbeglaubigte Überlegenheit beweisen mussten.

Östliche Christentümer waren, im Gegensatz zu demokratischen und technisch-fortschrittlichen Formationen des Westens, cäsaropapistisch und statisch-immobil organisiert. Katholiken sind der vatikanischen Unfehlbarkeit untertan. Protestanten sind dezentral vom modernen Freiheitsvirus angekränkelt, der besonders stark in ihren vielen sektiererischen Abspaltungen grassierte.

Die katholisch-protestantischen Christentümer schlossen sich zum weltbeherrschenden Glaubensblock des Westens zusammen. Das östliche Christentum – mit einem kleinen marxistischen Intermezzo, das ebenfalls cäsaropapistisch war, nur angereichert mit einem vom Westen importierten technischen Zukunftsglauben – schwankt zwischen entschiedener Feindschaft bis zum Möchtergern-Verbündeten des Westens.

Da das Christentum aus zwei Testamenten besteht, enthält es einen immanenten Widerspruch aus jüdischem Alten Testament und christlichem Neuen Testament, der aus christlicher Sicht durch die Formel Verheißung und Erfüllung dennoch eine Einheit bilden soll. Euch wurde gesagt, ich aber sage euch. Die Gesetze eines strafenden und belohnenden Gottes gelten auch für Christen, doch nur, um den Menschen durch Unerfüllbarkeit an seine moralische Nichtswürdigkeit und Erlösungsnotwendigkeit zu gemahnen.

Luther: „Was für ein Unterschied ist zwischen Gesetz und Evangelium?

„1. Das Gesetz lehrt, was wir tun oder lassen sollen, das Evangelium aber was Gott zu unserer Seligkeit getan hat und noch tut.

2. Das Gesetz zeigt uns unsere Sünde und Gottes Zorn, das Evangelium aber unseren Heiland und Gottes Gnade.

3. Das Gesetz fordert, droht und verdammt; das Evangelium dagegen verheißt, schenkt und versiegelt uns Vergebung, Leben und Seligkeit.

4. Das Gesetz richtet Zorn an und tötet; das Evangelium lockt und zieht zu Christo, wirkt den Glauben und macht uns so lebendig.

5. Das Gesetz muss den sicheren Sündern, das Evangelium den erschrockenen gepredigt werden.“

Sicherheitsdenken wurde zur Todsünde des risikofreudigen Kapitalismus. Der Mensch des Westens wird dressiert per Bedrohung durch sozialen Abstieg und verlockende Belohnung durch Konsum, Erfolg und mediale Publizität. Belohnung und Strafe sind die zwei Hauptanreize der gesellschaftlichen Außenlenkung.

Das Gesetz ist jüdisch, das Evangelium christlich. Wen wundert es, dass gläubige Juden die christliche Definition des Gesetzes ablehnten. Für sie war Gesetz der schwierige, aber nicht unerfüllbare Teil eines Vertrags (eines Bundes) mit Gott, den der Allmächtige mit finaler Weltherrschaft belohnen musste, wenn die Frommen ihren Part des Vertrages eingehalten hatten.

Christen hingegen fühlen sich keineswegs als gleichberechtigte Vertragspartner Gottes, sondern als nichtswürdige Sünder, die auf Gnade und Barmherzigkeit ihres Erlösers angewiesen sind. Als Vorleistung müssen sie demütig, schwach und leidensfähig sein, um am Ende der Heilsgeschichte zu siegreichen Ersten zu werden, sitzend zur Rechten des Vaters, um alle Menschen zu richten. Schon vor dem Finale aber möchten sie zu Herren der Welt aufgestiegen sein, um einen irdischen Vorschein des Paradieses als Glaubensbeweis zu kosten.

Wie viele Übereinstimmungen gibt es zwischen Judentum und Christentum? Keine, wenn man die jesuanischen Verfluchungen der Schriftgelehrten und Pharisäer für authentisch hält.

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, laßt ihr nicht hineingehen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fresset und wendet lange Gebete vor! Darum werdet ihr desto mehr Verdammnis empfangen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr verzehntet die Minze, Dill und Kümmel, und laßt dahinten das Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Dies soll man tun und jenes nicht lassen. Ihr verblendeten Leiter, die ihr Mücken seihet und Kamele verschluckt! Ihr Schlangen und Otterngezücht! wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?“

Stärker als der Hass Jesu auf seine Landesleute – der Urquelle des späteren christlichen Antisemitismus – kann kein Menschenhass sein. Paulus wollte diesen Urhass nicht akzeptieren und hoffte inständig auf die eschatologische Rettung seiner Geschwister nach einem langen Zwischenstadium antijesuanischen Irrglaubens.

„Und jene, so nicht bleiben in dem Unglauben, werden eingepfropft werden; Gott kann sie wohl wieder einpfropfen. Denn so du aus dem Ölbaum, der von Natur aus wild war, bist abgehauen und wider die Natur in den guten Ölbaum gepropft, wie viel mehr werden die natürlichen eingepropft in ihren eigenen Ölbaum.“

Das europäische Christentum war – trotz vieler Zwischenzeiten der Assimilation – hochgradig antisemitisch eingestellt. Und dies nicht nur im Dritten Reich.

Das amerikanische Christentum ist eher der paulinischen Hoffnung verpflichtet, dass die Juden sich eines baldigen Tages zu Christus bekehren werden, damit der Herr wiederkommen kann. Doch was, wenn sich die Ankunft des Herrn, von vielen Amerikanern noch zu ihren Lebzeiten erwartet, bis zum Sankt Nimmerleinstag verzieht und die zutiefst enttäuschten Endzeit-Erwarter die Schuld den verstockten Juden in die Schuhe schieben werden?

Wie viel multikulturelle Toleranz kann es zwischen den alleinseligmachenden Erlösungsreligionen der Juden und Christen geben, die sich heute als problemlos-kompatible Religionen gebärden und alle dogmatischen Unverträglichkeiten kollektiv verdrängen?

Solange der jüdisch-christliche Westen sich einig war, die politisch ohnmächtigen Nahoststaaten der Muslime ressourcenmäßig mit vereinten Kräften zu berauben, hatte der Islam keine Chance, eine gleichberechtigte Rolle im Trio infernale der absolutistischen Religionen zu spielen. Erst, als sie reich genug waren, um Technik und Machtspiele des Westens zu importieren und zu verinnerlichen, begann der Kampf des Korans gegen Bibel und Talmud.

Vorbei die mittelalterlichen Zeiten, als die muslimische Kultur die weltführende war und den jüdisch-christlichen Bücherreligionen großzügig gewisse Privilegien einräumte. Der Eintritt der Muslime in die Moderne war noch durchaus westenfreundlich. Dabei eher hoffnungsvoll sozialistisch gen Moskau als kapitalistisch gen London und Washington gerichtet. Der Kalte Krieg, in dem West und Ost um die Vorherrschaft der Welt rangen, gab den Progressiven der Dritten Welt die Möglichkeit, östliche gegen westliche Zusagen auszuspielen.

Nach dem Diktat ihrer imperialen Herren organisierten sich die muslimischen Staaten als Nationen, die durch religiöse und rassische Unterschiede zur Kollision angestachelt wurden. Aleviten gegen Orthodoxe, Sunniten gegen Schiiten, Perser gegen Araber, Fortschrittliche gegen Rückwärtsgewandte, reiche gegen arme Regimes. Der muslimische Archipel wiederholte die Spaltungen und Zerklüftungen seiner christlich-jüdischen Fernausbeuter.

Nach anfänglich militärischer Gewalt wurden wirtschaftliche Aussaugmethoden die effektivsten Instrumente der westlichen Herrschaft über den Orient und den Rest der Welt.

Der terroristische Abwehrkampf der Muslime gegen den Westen ist der verzweifelte Kampf verschwindend kleiner Minoritäten gegen die Omnipotenz des Westens. Gewiss, das psychische Anfangsmotiv zu terroristischem Tun ist zumeist ein persönliches Versagen. Doch der Loser, der seine Niederlage durch Rückwendung zur Religion nobilitieren will, erfindet nicht die primären Ursachen im dschihadistischen Buchstaben seiner heiligen Schriften. Er findet sie vor. Sekundäre Anlässe werden zu primären Ursachen im heiligen Untergrund.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens sind in der globalen Wirtschaft integriert und haben – offiziell – der militärischen Rache am Westen entsagt. Was nicht bedeuten muss, dass sie hinter den Kulissen – siehe die Wahabiten in Saudi Arabien – nicht den hasserfüllten Glaubenskampf gegen den ungläubigen und dekadenten Westen anheizen.

Die gigantische Mehrheit der Muslime hat der Feuer-und-Schwert-Mentalität ihres fundamentalistischen Glaubens den Abschied gegeben. Insofern erlebten sie tatsächlich eine Form der Aufklärung, die sie bereits in den frühen Zeiten ihres Glaubens durch Übernahme griechischer Philosophie praktiziert hatten. Das dunkle Mittelalter Europas wurde erst heller durch den Import griechischer Vernunftideen, die über Bagdad und Toledo nach Italien und Frankreich drangen und die Frührenaissance begründeten. Die arabische Zivilisation war der germanischen um Welten überlegen. Unsinn, den muslimischen Staaten jegliche Verwandtschaft mit der europäischen Aufklärung apodiktisch abzusprechen.

Die unvereinbaren Erlöserreligionen haben im Verlauf ihrer Geschichte durch vieldimensionalen Einfluss griechischer Freiheitsideen eine fortschreitende Humanisierung „erleiden“ müssen. Erleiden deshalb, weil die despotische Priesterschaft Europas sich mit schrecklichen Gewaltmethoden – von Ketzer-Autodafes über Inquisition bis zu Hexenprozessen – gegen den Geist der Vernunft und Selbstbestimmung des Menschen zur Wehr setzte. Erst der westlichen Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert gelang es, Sklaverei und Hexenprozesse zu beenden und nach und nach demokratische Republiken zu installieren.

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Französische Revolution waren die weltbewegenden Trompetenstöße des freiheitlichen Menschen. Das Heraufkommen der Vernunft war aber beileibe nicht das Ende des Glaubens. Dieser verwandelte sich durch Übernahme der zuvor bekämpften Elemente griechischer Rationalität und biederte sich an, selbst rational und human zu werden. Der antinome Charakter der Religionen, niedergelegt in Buchstaben heiliger Schriften, wurde durch willkürliche Textdeutungen seiner heiligen Brutalitäten entkleidet und menschlicheren Weltdeutungen zugeführt.

Es entstand eine Doppelbödigkeit aus nach wie vor bestehenden Fundamenten göttlich-barbarischer Allmacht – und willkürlichen Deutungen im Geiste jeweiliger Zeitgeistphilosophien. Je mehr die Macht der Kirchen schwand, je mehr mussten sie sich dem säkularen Geist der Moderne anpassen. Das Pendel wandte sich durch erzwungene Akkommodation auf die Seite des scheinbar Humanen. Gelang es dem Klerus, den Zeitgeist zur Rückwendung unter die Knute des Glaubens zu zwingen und zu verlocken, vergaßen die Priester ihre „erpresste Modernität“ und kehrten zurück zur theokratischen Despotie des Buchstabens.

Heute ist die Perversion des Bewusstseins so weit vorangeschritten, dass Kritiker des schändlichen Buchstabens selbst als Fundamentalisten beschimpft werden. Der Kritiker des Unheils wird als Urheber desselben hingerichtet.

Die Willkürdeutungen der heiligen Buchstaben fingen an in der Zeit der Romantik, die als Kritikerin der Aufklärung begann und in den weit geöffneten Armen der Priester endete. Friedrich Schleiermacher, wichtigster Theologe der Romantik, fühlte sich in keiner Weise mehr an den Buchstaben der Heiligen Schrift gebunden. Ein wiedergeborener Christ sei mystisch mit dem Heiligen Geist verbunden und ergo fähig, seine eigene heilige Schrift zu verfassen. Jeder Mensch ist unvergleichlich und kann seine eigene Meinung über das Heilige in unantastbarer Doktrin verfassen.

Ab jetzt sprach jeder Mensch seine eigene Sprache. Eine rationale Verständigung zwischen den Sprachen war so unmöglich wie überflüssig geworden. Die Postmoderne ist das Spätprodukt der romantischen Individualisierung und Relativierung aller Wahrheit, die gleichwohl in absolutistischer Manier die Welt eroberte. Der Neoliberalismus, Ableger der Postmoderne, gibt sich wahrheitsfeindlich, relativierend – und dennoch alternativlos infallibel.

»Deutschland löste sich von der Allgemeingültigkeit und Gleichheit der Vernunft und ihrer Ideale und Gebote und begann die individuelle Mannigfaltigkeit aller Lebensmächte, dass in jeder von ihnen eine besondere individuelle Vernunft walte. In prägnantester Weise hat Schleiermacher in seinen Monologen von 1800 diesen Umschwung ausgesprochen. „Lange genügte es auch mir, nur die Vernunft gefunden zu haben; und die Gleichheit des Einen Daseins als das Einzige und Höchste verehrend, glaubte ich, es gebe nur Ein Rechtes für jeden Fall, es müsse das Handeln in allen dasselbe sein“. Nun aber habe ihn der „Gedanke der Eigentümlichkeit des Einzelwesens“ ergriffen, nun dränge es ihn, ein höheres Sittliches zu suchen, nun wolle ihm nicht mehr genügen, dass die Menschheit nur da sein sollte als eine gleichförmige Masse, die zwar äußerlich zerstückelt erschiene, doch so, dass alles innerlich dasselbe sei. „So ist mir aufgegangen, was seitdem am meisten mich erhebt; so ist mir klar geworden, dass jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstellen soll, in eigener Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare und alles wirklich werde in der Fülle des Raumes und der Zeit, was irgend Verschiedenes aus ihrem Schosse hervorgehen kann. Der bisher herrschende Glaube an eine fassbare Einheit und Gleichheit, an eine Allgemeingültigkeit der Vernunft und ihrer Aussprüche wurde erschüttert und abgelöst durch die Erkenntnis, dass die Vernunft sich in unendlich mannigfaltigen Formen offenbare, individuelle, nicht generelle Lebensgebote gebe und ihre letztliche Einheit nur in einem unsichtbaren metaphysischen Weltgrunde habe. Alles, was bislang in der Geschichte einfach und übersehbar aussah, wurde perspektivisch mit unausmessbaren Hintergründen.“« (Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson)

Auch Merkel betont immer wieder, dass nicht Massen von Flüchtlingen kämen, sondern nur Einzelne. Womit sie sagen will, Massen seien Erfindungen heidnischer Pöbeldemokratien, bei Gott hingegen gebe es nur Einzelne als unvergleichliche Erwählte.

Multikulturelle Verständigung kann es nur geben, wenn Massen nicht als pöbelhafte Horden betrachtet werden. Sie müssen nicht von Gott Erwählte sein, um Menschen zu heißen. Mit unterschwelligen und dreisten Assoziationen betont Merkel stets die christliche Struktur der deutschen Theo-Demokratie.

Sprechen Menschen keine gemeinsame Sprache mehr, können sie keine multikulturelle Vielfalt auf dem stählernen Boden des Grundgesetzes einüben. Also muss Multikulti gelöscht werden zugunsten einer monolithischen Mutti-Kulti. Wenn allgemeine Vernunft nicht mehr die Brücke der Verständigung sein darf, muss die Gesellschaft trotz atomistischer Individualitäten in „einem unsichtbaren metaphysischen Weltgrunde“ ihre Einheit haben.

Leibnizens Monadenlehre, wonach jeder Mensch eine autistisch abgeschlossene Kugel sei, die nur durch Gott mit anderen Monaden verbunden sein kann, hat über Schleiermacher und die Romantiker die gegenwärtige Demokratie von innen her ausgehöhlt, um sie peu à peu ihres Weges zu Gott zu führen.

Unter alleinseligmachenden Religionen kann es kein Multikulti geben. Zwar geben sie sich solange human, solange ihre Macht über die Menschen schwach bleibt. Doch sehnsüchtig warten sie auf Rückkehr in alte Zeiten unumschränkter Dominanz, wo sie die Unvergleichlichen unter das gemeinsame Joch des Glaubens nötigen konnten.

Der Gott der Erlöser spaltet per divide et impera die Menschheit in atomistisch Vereinzelte, um sie unterschiedslos unter seinen absoluten Willen zu zwingen. John Bunyans Himmelssucher war ein Vereinzelter, der Weib und Kinder verließ, um das goldene Jerusalem zu erreichen.

Es sind Männer, die unvergleichlich sein wollen, um als triumphierende Einzelne auf dem Treppchen der Heilsgeschichte zu landen. Sie lehnen es ab, sich in Frauen und Kindern wiederzuerkennen, die auf menschliche Nähe und Verbundenheit angewiesen sind.

Ein rationales Multikulti wäre das gemeinsame Bemühen aller Menschen um eine überlebenswerte Existenz im Schoße der Natur.

 

Fortsetzung folgt.