Sokratische Ironie und Postmoderne
Wie war das mit Sokrates? War er nicht einer der größten Ironiker der Denkergeschichte, der mit seinen Überzeugungen klaglos in den Tod ging? „Besser, Unrecht erleiden als Unrecht tun“ stammt nicht von dem bekannten Galiläer. Es war die Leit-Direktive des Sohnes einer Hebamme, der seine Zeitgenossen mit ironischen Streitgesprächen zur Verzweiflung brachte. Seine Dialogpartner sollten sich prüfen, ob sie wirklich wissen, was sie tun und reden, um nicht arrogant und scheinwissend die athenische Demokratie zu gefährden. Worin bestand seine Ironie?
Sokratische Ironie – mit der romantischen nicht zu verwechseln, der es um nichts ernst ist – sucht nicht das Neue, sondern das Wahre, das sie mit Klauen und Zähnen verteidigt – um von der Postmoderne gehörig verspottet zu werden. Deren Geist zu jeglichem seriösen Widerstand unfähig macht. Die auf der ewigen Suche nach dem Neuen nichts festhalten, bewahren und verteidigen kann. Die kampflos alles preisgibt, was ihr eben noch wichtig schien, immer auf der Hatz nach dem Unbekannten.
Die Sokratische Ironie stellt alles in Frage, nur nicht die Suche nach der Wahrheit, sie soll die Spreu vom Weizen des täglichen Geredes trennen: um den Kern herausarbeiten, der das Wohlergehen des Gemeinwesens mit dem Glück des Individuums verbindet.
Das eigene Nichtwissen ist keine Tändelei. Es verweist auf die zwiegerichtete Überprüfungsarbeit im mäeutischen Gespräch. Wer schon alles wüsste, könnte nichts mehr lernen. Philosophieren ist lernen mit Leidenschaft. Wer andere unter die Lupe nimmt, …
… darf sich selbst nicht ausklammern. Mit jeder Frage an seinen Partner stellt er sich selbst in Frage. Ich weiß, dass ich nichts weiß, ist kein zynisches Lavieren, kein flunkernder Gag.
Heiterkeit ist gelassene Distanz zum Dasein, das nicht unter allen Bedingungen liebens- und lebenswert sein kann und angstfreier Abstand zum Tod, den nur fürchten muss, wer sein Leben verpfuschen will. Vor dem Jenseits zittern nur jene, die die kindische Mär strafender Götter glauben müssen. Memento mori, gedenke des Todes, nicht um des Todes, sondern um des angstfreien Lebens willen.
Im spielerischen Fragen, Nachbohren, Widerlegen verbirgt sich die unerbittliche Logik eines folgerichtigen Denkens, das den andern zwingt, seine Ignoranz zu gestehen – oder mich nötigt, meine Inkompetenz zuzugeben. Wie viele platonische Frühdialoge enden in Ratlosigkeit beider Kontrahenten?
Der Nötigung sokratischen Überprüfens entzieht sich die Postmoderne, indem sie abdriftet in die Unfehlbarkeit ihrer subjektiven Meinungen. Und nicht davor zurückschrickt, Wahrheitssuche und Logik als totalitär zu verunglimpfen. Nötigen aber heißt nicht zwingen. Es überlässt dem Einzelnen, sich der Kraft der Gedankenführung zu überlassen oder den Diskurs für beendet zu erklären.
Postmodern ist, wer eine sakralisierte Neuerungssucht für das letzte Wort des Zeitgeistes hält. Nichts Verbisseneres und Intoleranteres als postmoderne Beliebigkeit. Platons totalitäre Philosophie war keine Konsequenz aus der gedanklichen Strenge seines Lehrers. Sondern Flucht in eine zeitlos-allmächtige Weisheit, die das Schicksal des ohnmächtigen Ironikers vermeiden sollte. Wer seine Weisheit mit Macht stützen muss, hat alle Ironie verraten.
Sokrates verließ sich auf die Kraft seiner einsicht-erweckenden Folgerichtigkeit, die Unbeugsamkeit seiner moralischen Haltung. Jeder Demokrat sollte mit eigenem Kopfe denken und unbefragten Autoritäten eine Absage erteilen. Ironie diente der Warnung, unter keinen Umständen Experten und Rhetorikern zu vertrauen, sondern der Überzeugungskraft von Argumenten, mögen sie kommen, woher sie wollen.
Sein bester Schüler verschmähte weder Gehirnwäsche noch Todesstrafe, um seinen perfekten Staat abzusichern. Der Postmoderne ist alles beliebig, nur nicht der elitär festgelegte Gang der Dinge in den Abgrund. Den sie mit der Frage des Pilatus verteidigt: was ist schon Wahrheit? Dort könnte ihr das Lachen vergehen.