Eigentum, Naturrecht und Religion – Entwicklung des Kapitalismus
von Fritz Gebhardt Manuskript (Auszug)
Eigentumstheorien
Es gibt zwei Eigentumstheorien: die ältere Okkupationstheorie – und die moderne, von Locke formulierte, Arbeitstheorie.
Locke war der erste, der die Behauptung aufstellte, Eigentum werde durch Arbeit und eigene Leistung erworben. Als unmittelbares Naturrecht, begründet durch direkte körperliche Intervention des Menschen in der Natur. Ein Gesellschaftskonsens, eine vertragliche Zustimmung anderer Personen ist nicht notwendig.
Nicht enthalten in dieser Theorie ist die Frage der „ursprünglichen Erwerbung“ (acquisitio originaria), also die Frage: wie ist ursprünglich Besitz in die Hände der Menschen gelangt.
Also ungleiche Startchancen von vorneherein. Der Status quo ante wird nicht problematisiert. Wer hat, der hat. Natürlich müsste man die gesamte Weltgeschichte aufrollen, um gerechte Zustände herzustellen: das wäre Chaos. Was allerdings ein Beweis für hochgradig ungerechte Zustände ist. Wärs anders, könnte es nicht diesen Widerstand geben. Letztendlich gibt es einen untrüglichen Lackmustest für Gerechtigkeit: würden die Privilegierten – vor die Wahl gestellt, sich ihr Erdenschicksal mit Bewusstsein wählen zu dürfen – das Geschick der Unterprivilegierten aussuchen?
Zu Locke. Ich erwerbe Besitz, indem ich „herrenlose Gegenstände“ durch Arbeit meines Körpers, das Werk meiner Hände, zu den meinen mache. Das kann nur bedeuten, der Strafcharakter des Sündenfall muss ersetzt werden durch widerborstige Selbstbelobung. Im Schweisse deines Angesichtes sollst du dein Brot essen? Die Strafe wird zur Belohnung. Je mehr du arbeitest, je mehr Schweiss du vergiesst, je reicher wirst du.
Sollte Locke dies wortwörtlich gemeint haben – ich vermute, er hat – würde das für moderne Verhältnisse – in denen kaum noch jemand, und gewiss nicht die Reichen, malochen muss – bedeuten, dass alle Besitztümer nicht rechtens wären. Die Legitimität der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse wäre außer Kraft gesetzt. Dabei gilt die Lockesche Besitztheorie als Fundament des Kapitalismus! Schon mit der ersten Definition des Eigentums ist erwiesen, dass die Fundamente der Moderne – gemessen an ihren eigenen Maßstäben – nicht nur porös, sondern atomisiert sind.
Seltsam, dass Marx diesen so einfach scheinenden Weg, den Kapitalismus zu zertrümmern, nicht gegangen ist. Stattdessen krutzt er am Mehrwert herum, den er gleichzeitig für gerecht und ungerecht halten muß. Wär er nicht ungerecht, gäbs kein Grund zur Empörung. Alles wäre paletti. Gleichzeitig muß er gerecht sein, denn sonst wär der Grund zur Revolution ein moralischer: Revolte gegen unmoralische Verhältnisse. Das darf nicht sein.
Marx will Wissenschaftler sein. Kühl rechnender Zukunftsprognostiker. Kein utopischer Moralist. Der Kapitalist, der dem Arbeiter den erwirtschafteten Mehrwert nicht gönnt, ist schnöder Ausbeuter wie unschuldig-neutraler Agent eines unabänderlich historischen Gesetzes. Wär’s anders, würde es ja genügen, dem Arbeiter den Mehrwert auszuzahlen – und gerechte Verhältnisse wären hergestellt. Wozu dann der riesige Aufwand mit chiliastischen Geschichtsabläufen? Die einfachsten Argumente liest man nirgends.
Die Okkupationstheorie galt von Cicero bis Locke. Sie hat als Grundlage die Überzeugung, dass Gott (welcher?) alle Gegenstände der Welt allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung gestellt hat. Am Anfang herrschte Gütergemeinschaft. Wie aber kam es dann zur exclusiven Aufteilung in individuelle Güter? Wie kam Privateigentum zustande? Durch Okkupation. Wer zuerst irgendwelche Güter – durch körperliche Aneignung und Ergreifung – sich zu eigen machte, der war deren legitimer Besitzer.
Das wurde durch sozialen Konsens, durch einen allgemeinen Vertrag besiegelt. Das bedeutete, Privateigentum bestand – nach Auffassung der Okkupationstheoretiker – nicht von Natur aus. Es war eine Erfindung des Menschen, mithin wandelbar. Privateigentum war sekundär, dem Güterkommunismus nachgeordnet. Etwas Minderwertiges, Defizitäres. Eingeführt nur deshalb, weil’s mit der Menschheit abwärts gegangen war. Ihre moralische Verrohung und Verwilderung hatte den ursprünglichen Gemeinbesitz unmöglich gemacht. Weiterhin bedeutete dies, dass jederzeit wieder ein neuer Vertrag geschlossen werden konnte. Wenn sich eine Mehrheit für eine Wiederherstellung des anfänglichen Güterkommunismus entscheiden würde.
Mönche beispielsweise praktizierten den ursprünglichen Güterkommunismus. Sie mussten besonders vorbildlich sein. Um mehr gute Werke zu erwirtschaften, als zu ihrer Seligkeit nötig waren. Diesen Surplus verwaltete die Kirche wie ein Kreditinstitut seinen Tresorschatz. Sünder, die ihr Soll an guten Werken verfehlten, konnten – gegen Cash natürlich, Ablass genannt – von dem Vorrat profitieren. So wurde die Kirche zu einem Bankunternehmen, das mit guten Werken schacherte und wucherte – wie eine moderne Bank mit Aktien oder Staatsanleihen. Sie wollten dem Vorwurf im Jüngsten Gericht entgehen, sie hätten mit ihren Pfunden nicht gewuchert.
Das Privatvermögen erinnerte die Vermögenden allaweil daran, dass sie – wenn sie vorbildlich sein wollten – jederzeit zum Kommunismus zurückkehren müssten. Die Einführung des Privateigentums war also nur unter Vorbehalt sozialer Bindung und Verpflichtung erlaubt.
In Zeiten der Not sollte die ursprüngliche Gütergemeinschaft wieder aufleben, dergestalt, dass die Notleidenden jederzeit Zugriff haben durften auf das Eigentum anderer, sofern die im Überfluss lebten. Nach Vorstellung der Okkupationstheorie war die Summe aller – von Gott oder der Natur – gegebenen Güter endlich und konstant. Das bedeutete, wer sich vom Gesamtkuchen ein zu großes Stück angeeignet hatte, hatte es einem Zuspätgekommenen weggenommen – oder geklaut.
Der frühsozialistische Slogan: Eigentum ist Diebstahl, könnte hier seine Wurzeln haben. Die Vorstellung einer ewig begrenzten Gütermenge wurde ab Locke ad acta gelegt. Die Gesamtmenge wurde unendlich. Wer mit privaten Pfunden wucherte, nahm einem anderen nichts mehr weg. Im Gegenteil: er fügte der Menge etwas zu. Aus einem statischen Nullsummenspiel wurde ein dynamisches Unendlichkeitsspiel. Dieser Dynamisierung fiel die Sozialverpflichtung zum Opfer. Eigentum konnte kein Diebstahl mehr sein. Also musste niemand mehr etwas abgeben. Er hatte es ja von niemandem genommen. Im Gegenteil, er hatte die Volkswirtschaft angekurbelt, den allgemeinen Wohlstand vermehrt.
Hier wiederholte sich im Ökonomischen, was sich ab Kopernikus im Naturwissenschaftlichen ereignet hatte: die Welt wurde allmählich in allen Aspekten – unendlich. Das Mittelalter war noch, unter der Dominanz des Aristoteles, statisch und endlich gewesen. Jetzt erst verabschiedet sich das christianisierte Abendland von Maß und Grenze der Griechen und übertrug das biblisch Unendliche in allen Perspektiven auf die Erde.
Wenn das Eigentum im Grunde kommunistisch oder sozialverpflichtend war, hatte der Staat das Recht, zur Beförderung des Gemeinwohls und des öffentlichen Nutzens (utilitas publica), in das Eigentum der Bürger einzugreifen, Güter umzuverteilen. Zugunsten des bonum commune. Anders, so argumentierten die „Urkommunisten“, hätten die Vertragspartner dem Übergang ins Privateigentum nie zugestimmt. Auch nach Individualisierung des Eigentums müsse letzteres dem gemeinsamen Wohl aller verpflichtet bleiben.
Fünf Punkte also bilden den Kern der von der Antike bis kurz vor Locke reichenden Okkupationstheorie: 1) Verteilung der Güter nach dem Kriterium der „Priorität der Zeit“. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. 2) Vertrag als Selbstverpflichtung. 3) soziale Pflicht. 4) Eingriffsbefugnisse des Staates. Beinahe hätte ich 5) vergessen: den Ursprungs-Kommunismus.
Bei Locke änderte ich alles. Lockes’ Arbeitstheorie des Eigentums war eine Revolution des Naturrechts, die sich binnen kurzer Zeit zur alleingültigen Theorie durchsetzte, bis zum heutigen Tag als Fundament des kapitalistischen Eigentumsbegriffs gilt. Ich erwerbe mir den exclusiven Besitz von Gütern, indem ich sie durch Arbeit und Leistung erwerbe. Also erarbeite.
Christliche Straf-Arbeit wird sowohl festgehalten – wie ins Gegenteil verkehrt. Sie wird Schlüssel zum Reichtum. Arbeit ist nicht mehr allein Fluch – und wird es durch Entwicklung der Technik immer weniger. Sie wird umfunktioniert zum unendlichen Segen. Wie immer in der Entwicklung des christlichen Dogmas wird aus Not eine Tugend. Gehorsam und Emanzipation in einem. Gehorsam deshalb, weil man sich nicht traut, sich vom Buchstaben des Gesetzes zu lösen. Emanzipation, weil man sich – bestärkt durch wachsende griechische Einflüsse – immer mehr traut, die einst himmelwärts gerichteten Glückssehnsüchte auf die Erde herunter zu ziehen.
Für den, der das Christentum im Jenseits verankert, ist das Irdischwerden seiner Verheissungen eine Blasphemie – oder säkulare Emanzipation. Für den, der wie Joachim di Fiore den Himmel als zeitliches Endziel der Heilsgeschichte betrachtet, ist vollkommenes Glück auf Erden die Verifizierung des Glaubens.
Lockes’ Arbeitstheorie ersetzt vollständig die bisher geltende Okkupationstheorie. Obwohl sie meines Erachtens durch nichts mehr zu halten ist, wurde sie zum fundamentum inconcussum der heutigen Ökonomie. Sie hat von der alten Theorie nichts mehr übrig gelassen. Alles, was bis dahin galt, wurde auf den Kopf gestellt.
An die Stelle der ursprünglichen Gütergemeinschaft setzt sie auf das isolierte Individuum. Das sich inmitten von wertlosen Rohstoffen und Ressourcen vorfindet, die nur durch die ihnen zugefügte Arbeit des Menschen einen Wert erhalten. Indem sie verarbeitet werden, sind sie.
Das ist das exakte Pendant zur Entjungferung: nur durch Sexual“arbeit“ des Mannes wird aus einer unfruchtbaren Jungfrau eine gebärfähige Vollfrau. Natur, die an sich wertlose Mutter, wird erst durch männliche Penetrationsarbeit zur werthaltig-ausbeutbaren Matrone, dem Gegenstück zur Patrone. Da es nach Locke keinen ursprünglichen Gemeinbesitz gegeben hat, gibt es auch keine Pflicht zu sozialem Handeln. Was es nie gegeben hat, kann nicht wieder hergestellt werden.
Das Stiften von Eigentum erfolgt durch Bearbeiten. Arbeit legt in den wertlosen Rohstoff die substanzielle Werthaftigkeit des Menschen, just wie der Mann seinen wertvollen Samen in das hohle Gefäß der Frau. Rohstoffe sind im Überfluss vorhanden. Erst, wenn sie „getauft“ worden sind durch menschlich-männliches Zutun, werden sie satisfaktionsfähig. Werden legitimes – und exclusives – Eigentum. Werden domestiziert. Alle anderen, Neider und Besitzlose, müssen sich fernhalten. Eine Zustimmung Dritter – also ein Vertrag – ist überflüssig.
Wa erst durch Arbeit entstanden ist, kann vorher kein gemeinsames Eigentum gewesen sein. Der Gesamtkuchen ist auch kein Nullsummenspiel: wer mehr hat, nimmt dem, der weniger hat. Sondern der Arbeitende verwandelt die statische Summe in einen dynamischen Prozess, der sich ins Unendliche ausdehnt. Also gibt es auch keinen Grund, das Aneignen der Güter abhängig zu machen vom Einverständnis Dritter. Auch die – mit Hinweis auf die endliche und knappe Gütermenge – Hilfspflicht zur Unterstützung der Armen und Schwachen wird damit hinfällig.
Der „amor sceleratus habendi“, das Begehren, immer mehr besitzen zu wollen (seit der Antike als Habgier verurteilt), wird durch Locke ins Positive gewendet. Zum einen, weil jedes Mehr-Besitzen-Wollen mehr Arbeit erfordert. Und Arbeit ist per se tugendhaft. Zum anderen, weil Vergrößern eigenen Reichtums gleichzeitig Vergrößern allgemeinen Reichtums bedeutet. Der letztendlich allen zugute kommt.
Der Arbeitende und daher Reicherwerdende wurde seit Locke nicht mehr geschmäht. Er wurde moralisches Vorbild. Durch seinen ungehemmten Erwerbstrieb vermehrte er den Gesamtreichtum der Menschheit. Vor allem nahm er niemandem etwas weg. Soziale Betätigung ist nicht länger eine moralische Verpflichtung, sondern freiwilliger Willkürakt: Barmherzigkeit, Gnade.
Damit verliert das Eigentum jede Dimension des Sozialen. An die Stelle der Gemeinnützigkeit tritt private Nützlichkeit.
Damit entfällt auch das Recht des Staates, zur Beförderung des Gemeinwohls in die Eigentümer seiner Untertanen einzugreifen, Steuern zu erheben etc. Es gibt nur noch die Pflicht des Staates, das hochmoralisch erworbene Besitztum seiner Begüterten durch Polizei etc. zu schützen.
Umverteilungen jedweder Art sind undenkbar. Wozu auch? Da die Reichen den Armen nichts wegnahmen, gibt es nicht den geringsten Grund, ihnen zugunsten der letzteren etwas wegzunehmen. Da jeder die Chance hat, es durch seiner Hände Arbeit zu etwas zu bringen, bedeutet das bloße Faktum des Armseins ein moralisches Versagen. Arme sind faule Arbeitsverweigerer. Armut ist gerechte Quittung für Bequemlichkeit und Passivität. Das meint nicht nur Locke, sondern auch Hegel. Heute meinen das selbst und vor allem die „sozialen Demokraten“.
Privateigentum ist sakrosankt geworden. Zu deutsch: heilig. Es ist ein unmittelbares, von Gott selbst gewolltes, durch nichts und niemanden abzuschaffendes Naturrecht. Durch menschliche, auch demokratische Beschlüsse, so wenig aufzuheben wie das Gravitationsgesetz. Der Eigentümer ist – wie Gott über die Erde – absoluter Herr seines Erarbeiteten. Weder der Staat noch irgendwelche Hungerleider haben das Recht, von seinem heiligen Schatz etwas abzuzweigen. Alles wird relativ, nur Eigentum ist absolut.
Es ist nicht so, dass in der Moderne alles beliebig wird. Oder nichts vorhanden, an dem man sich orientieren könne. Je mehr das gesamte Ambiente des Eigentums verflüssigt und unstabil wird, je mehr entwickelt sich das Privateigentum zum Hochaltar derjenigen, die sich in ihrer Arbeit selbst anbeten. Geld in jedweder Erscheinungsweise wird die unauflösliche Achse des Guten und der Guten.
Wie in der Naturwissenschaft alles gemessen und berechnet werden muss, um als Faktum und Gesetz anerkannt zu werden, so in der Moral. Auch sie muss durch Quantifizieren nachprüfbar geworden sein, um in die Liga der achtbaren Wissenschaften aufgenommen zu werden. Der Index der Moralität ist direkt proportional zur Höhe des privaten Kontostands. Zeig mir, wie viel du hast und ich sage dir, wie ehrbar du bist. Quantität ist Qualität.
Der Mensch wird Ziffer, bedeutet nicht nur, dass ihm eine bestimmte Zahl – im Ausweis, Pass etc. – zugewiesen wird. Sein Kontostand wird zum Index, an welcher Stelle des irdisch-himmlischen Ranking er eingeordnet wird. Wer der Größte unter euch sein will, der habe das entsprechende Bankkonto. Jeder hat es selbst in der Hand, sich sein Plätzchen auf der goldenen Himmelsleiter zu erkiesen.
Man muß sich nur einmal die politischen Banketts in Washington anschauen, wo diejenigen, die am meisten im Wahlkampf gespendet haben, dem Präsidenten am nächsten sitzen dürfen. In Amerika wird ja auch nicht, wie in Deutschland, ein Geheimnis aus seinem Einkommen gemacht. Jeder fragt sofort jeden, womit er sein Geld macht – und wieviel.
Weitere Themen:
Cicero: Seine Anfangsthese: Zu Beginn seien alle Güter der Erde gemeinsamer Besitz aller Menschen gewesen (natura fuerant communia). Von Natur gebe es kein Privateigentum (sunt autem privata nulla natura). Erst im Lauf der Zeit haben Einzelne oder Gruppen unbewohnte Gebiete dauerhaft besiedelt („okkupiert“), somit zu ihrem Eigentum gemacht. Dieser ersten Okkupation unbewohnter Gebiete 1) folgt die Okkupation bewohnter Gebiete – durch Krieg. Diese 2.te Okkupation fällt flach, wenn ein Imperium, wie das römische, alle bekannten Erdteile bereits erobert hat. Dann folgt 3): der Erwerb durch Privatrecht, also Kauf, Tausch, Miete etc.
Mittelalter – Kirchenväter: Die Väter der Kirche vermengen – was sonst – Antike und Bibel. In allen möglichen Variationen. Immer passend zu ihrer jeweiligen ökonomischen Lage. Zuerst beginnen sie mit Ciceros Urkommunismus. Den sie aus zwei Quellen ableiten: aus Cicero, dem Heiden und aus dem Neuen Testament. Apg. 4,32 ff erzählt die Geschichte vom – gescheiterten – Urkommunismus der ersten Christen. Wahrscheinlich von Platon übernommen, wollten sich die Urchristen nicht von den Heiden und Ungläubigen lumpen oder übertreffen lassen. Sie schmissen alles zusammen – und waren in kürzester Zeit pleite. Doofer geht’s ja nicht. Zu ihrer Verteidigung liesse sich höchstens sagen, dass sie eh keine nachhaltige Ökonomie aufbauen wollten. Denn: die Ankunft des Herrn stand in jeder Minute ins Haus. Wozu also für die Zukunft sorgen, wenn morgen alles vorbei ist? Die Probleme entstanden erst, als die Parusie verzog und die Kirche zu einer irdischen Machtinstitution anwuchs.
Das protestantische „Naturrecht“: Ein solches gibt s nicht. Bei Luther ist die Natur so verderbt, dass sie keinerlei Recht oder Vernunft aufweisen kann. Vernunft, die Hure. Natur, die Teufelsschlampe. Thomas von Aquin hielt Natur und Vernunft wenigstens in niedrigen, also weltlichen Dingen für ausreichend kompetent, um weltliche Dinge zu bewältigen. Luther verwarf alles – außer Gott und seine unergründliche Gnade. Da der Protestantismus kein Naturrecht anerkannte, anerkennte auch keinerlei Menschen- oder Völkerrechte. Deutsche Bewegung eben. Als sie nach Kriegsende diesen kleinen Notstand bemerkten, entwickelten sie mal eben aus der Gottebenbildlichkeit alle Menschenrechte. Die sie damit für immer erfunden hatten. Heureka.
England: Die Diggers waren radikal kommunistisch. Individuelles Eigentum war für sie „nur“ eine Vereinbarung zwischen Menschen, kein ursprüngliches Naturrecht. Im Gegensatz zu den Levellers kritisierten sie das Privateigentum als klaren Verstoß gegen die göttliche Rechtsordnung. Der jetzige Zustand sei nichts als Anmaßung und Eigenmacht. Nach Meinung der radikaleren Digger waren die Forderungen der Leveller (Gleichmacher) nicht weitgehend genug. Sie würden sich mit politischer Gleichberechtigung begnügen, ohne diese mit sozialer Gleichheit zu vervollständigen. (Dasselbe in der Französischen Revolution. Dieser interne Widerspruch der Demokratie ist bis heute nicht aufgelöst. In Griechenland war dies der Stoff ewiger Auseinandersetzungen: siehe Pöhlmann). Gott, so die frommen Digger, habe die Welt den Menschen gemeinsam übergeben, damit alle gleichermaßen ihren Lebensunterhalt bestreiten könnten. Die größte Sünde der Reichen sei, dass sie sich exclusiv den Reichtum dieser Welt angeeignet hätten und somit den Hungertod zahlreicher Mitmenschen mit verursacht hätten.
Thomas Hobbes: Hobbes ist ein gewaltiger Durcheinanderwerfer. Ein ursprünglich gutes Naturrecht verwarf er vollständig. Im Naturzustand herrschte der bellum omnium in omnes. Es war das Gegenteil eines paradiesischen Urzustandes. Vielmehr war der Mensch dem Menschen ein Wolf. Am Anfang war schreckliche Anarchie, übermäßige Freiheit, die die Menschen einzig dafür benutzten, um sich gegenseitig abzuschlachten. Leben im Naturzustand war ein Leben in beständiger Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes. Erst der Staat habe diesem Chaos ein Ende gemacht, indem er sich alle Menschen zu Untertanen gemacht habe. Nur der Staat garantiere, dass Verträge gehalten, dass die Unvollkommenheiten der Menschen durch absolute Gewalt unterdrückt werden könne. „Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte. “Der Staat ist Souverän. Ihm allein steht das alleinige Eigentumsrecht auf alle Güter zu. Der Staat also ist erste Ursache und Seinsgrund jeglichen Eigentums.
Robert Filmer (1588-1653): Filmer war ein Königstreuer. Ein Verteidiger der royalen Macht. Der Tradition. Deshalb bekämpfte er Hugo Grotius. Gegen dessen Annahme einer uranfänglichen Gleichheit und Freiheit aller Menschen verwies er auf das erste Buch Mose. In der Genesis könne man deutlich sehen, dass es schon von Erschaffung der Welt an Herrschaft und Politik gegeben habe. Eva verdanke ihre Existenz dem Adam, der kraft seiner Vaterschaft und des darin erkennbaren göttlichen Willens als erster legitimer Herrscher auf Erden anzusehen sei. Nicht Vertrag, Konsens und Zustimmung sie Grundlage aller politischen Herrschaft, sondern die biologische Vaterschaft. Sowenig man seinen Vater wählen könne, sowenig könne ein Volk seinen König aussuchen. Aus Genesis 1,28 gehe klar hervor, dass Gott die Erde allein dem Adam als alleinigem Universaleigentümer übergeben habe.
John Locke: Locke eliminiert eine fast 2000-jährige Besitztheorie, die davon ausging, dass es nur eine endlich-begrenzte Gütermenge auf Erden gibt, die nur verteilt, nicht vermehrt werden kann. Jetzt erst beginnt der Abendländer im wahrsten Sinne des Wortes „creativ“ zu werden. Bisher war er nur Erhalter des von Gott Gegebenen: Conservator. Jetzt wird er gottebenbildlicher Creator. Schöpfer aus dem Nichts, Vermehrer des Bestands ins Unendliche.Erst jetzt zog er mit Gott gleich. Vorher war er nur Verwalter, jetzt wird er Herr über das Seiende, das er nach Belieben vermehren kann. Die ganze Zeit des Unmündigseins hatte er die ihm anvertrauten Pfunde eins zu eins aufbewahrt. Jetzt erst verstand er, was es bedeutet, wenn ihm das Wuchern mit den Pfunden aufgetragen war.(Luk. 19,11 ff) Die Pfunde auf Erden mussten ins Unendliche, Maßlose vermehrt werden. Oder genauer: Gottes Maß war nicht des Menschen begrenztes Maß, das Endliche, sondern das Übermäßige und Unmäßige, das Unendliche. Seit Nikolaus von Cues das philosphisch Unendliche, Kopernikus das räumlich Unendliche postuliert und entdeckt hatten, war das griechische Maß, das Begrenzte, obsolet geworden. Insofern egalisierte Locke nur den bisherigen Vorsprung der naturwissenschaftlichen und philosophischen Fakultät, wenn er das Unendliche auch in die Ökonomie überführte. …
Max Weber: Calvinismus und Luthertum sind verschiedene Welten. Die unterschiedliche Entwicklung zwischen Deutschland und England begann – in einer tieferen Sicht – wahrscheinlich erst in dem Moment, als England dem französisch-schwyzerischen, Deutschland dem deutschen Reformator folgte. Seit dem Mittelalter hatten sich die stolzen Briten wesentlich demokratischer entwickelt als die zerrissenen Mitteleuropäer. Spätestens mit der Protestation gegen den Katholizismus hatte sich Luther von staatlichen Regionalmächten (der Kaiser war katholisch, meistens weit entfernt und gerade in Deutschland nicht sehr mächtig) abhängig gemacht, um den Bestand seiner Reformation nicht völlig zu gefährden. Dies führte zur „babylonischen Gefangenschaft“ des Luthertums, die ihre Untertänigkeit unter alle Obrigkeit (Röm.13) bis zum Exzess durchführte. Da es keine Obrigkeit gab, die nicht von Gott war, hatten die potentiellen Widerständler im 3. Reich erhebliche Mühe, ihren geplanten Tyrannenmord schriftmäßig zu begründen. Während die Deutschen in politischer Unselbstständigkeit versanken, war die englische Entwicklung die diametral andere: in zunehmend wachsende Freiheit und Autonomie ihrer Bürger.
Und nun dies, der Einbruch des Calvinismus, der in der schroffst-möglichen Form dem Menschen den freien Willen absprach. Weber zitiert aus der „Westminster Confession“ von 1647: „Der Mensch hat durch seinen Fall in den Stand der Sünde gänzlich alle Fähigkeit seines Willens zu irgend etwas geistlich Gutem … verloren, so sehr, dass ein natürlicher Mensch, als gänzlich abgewandt vom Guten und tot in Sünde, nicht fähig ist, sich zu bekehren oder sich nur dafür vorzubereiten.“ Wie konnte der stärkste Freiheitswille in Europa sich verbünden mit einer Ideologie der schlechthinnigen Unfreiheit des Willens?
Für Calvin waren Menschen nichts als Lotteriekugeln, die ein geheimnisvoller Gott vor Erschaffung der Welt aus einer Trommel zog, die Erwählten – in äußerst geringer Zahl – zu ewigem Heil, die Verworfenen (Reprobierten) zu ewiger Verdammnis. Gottes Macht war unumschränkt, sein Rat unerforschlich, seine Entscheidung unrevidierbar.
© Fritz Gebhardt