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… zum Logos XXXII

Tagesmail vom 14.02.2022

… zum Logos XXXII,

wie gehen Weltreiche unter?

Wie gehen Demokratien unter?

Wie gehen wir unter? Klimakrise? Ach was, niemals! Bestünde die Gefahr des Untergangs wirklich – würden wir uns nicht alle reinhängen, um den Untergang zu verhindern?

Tun wir das? Nein, also können wir gar nicht untergehen. Untergangsapostel, die anderen Menschen das Leben vermiesen, hat es zu allen Zeiten gegeben. Sie sind Versager, die es nicht ertragen, dass sie allein unfähig und lebensuntüchtig sein sollen.

Eins aber ist sonnenklar: wir werden todsicher untergehen. Die Zeichen trügen nicht:

Worüber ließ Anne Will gestern schwatzen? In Zeiten, wo ein europäischer Krieg droht, der sogar zum Weltkrieg werden könnte? Zum 100.sten Mal über Corona. Keine Streitgespräche über den brüchigen Zustand Amerikas, der EU, der rasant ansteigenden Zahl der Milliardäre, der unbezahlbaren Wohnungen, der immer größeren Gefahren durch Demokratiegegner – nicht von den Rändern der Gesellschaft, sondern aus der Mitte der Erfolgreichen, Intellektuellen, der Medien und gelangweilten Politiker?

Mathias Döpfner agitiert hemmungslos für den deutsch-amerikanischen Silicon-Valley-Unternehmer Peter Thiel, der weltweit die Demokratie bekämpft. Wie sind die Reaktionen auf dieses belesene und erfolgreiche Genie? „Oh, wie interessant! Frischer Wind aus der Etage der Kreativen.“

Alles Nichtdemokratische ist, mit Verlaub, faschistisch oder faschistoid. Der Springer-Verlag propagiert einen faschistoiden oder faschistischen Unternehmer, der offensichtlich davon träumt, die Reichen in exklusiven Autokratien über den ordinären Massen zu sammeln. Kein Widerstand in deutschen Gauen, weder von der Politik noch der Vierten Gewalt.

Warum wird Hart aber fair in die Nacht verschoben? Wegen Karneval. Endlose Sportübertragungen vertreiben jede Politsendung. In endlosen Quizshows müssen die Deutschen den belanglosesten Unsinn wissen: über die Zerstörung der deutsch-russischen Beziehungen hingegen müssen sie nichts wissen.

Wegen Brot und Spielen ging roma aeterna unter. Noch stimmt es heute mit dem Brot. Bald aber könnte eine internationale Wirtschaftskrise über uns kommen.

Klamauk und Allotria nehmen überhand. Die Zeichen der Zeit will niemand erkennen: der Ruf nach mütterlichen Heiligen schwillt an. Bald wird es organisierte Pilgerfahrten zum Ruhesitz einer Ex-Kanzlerin geben. Die Vorbereitungen in BILD laufen bereits:

„Was für ein Wiedersehen in dieser dunklen Zeit! Es war wie die Erscheinung einer Mutter am Bett ihrer verängstigten Kinder. Ach, hätten wir Sie noch als Kanzlerin … Angela Merkel ist eine Welt-Persönlichkeit – sie ist eine Waffe. Wie Mütter Waffen sind, um ihre Kinder zu beschützen.“ (BILD.de)

Still hatte sie ihre Tagespflichten erledigt, gekocht und geputzt – als das Gebäude längst in Flammen stand. Wortlos verließ sie das zusammenbrechende Haus durch den sicheren Hinterausgang.

Freiheit wird als Erlaubnis zur Zerstörung gepriesen: zur Selbst- und Weltzerstörung; Fortschritt als Zauberformel zur Lösung aller Probleme gerühmt. Wuchernde Wirtschaft als alleinseligmachende Befriedung aller Übersatten, die nie zufrieden sein dürfen. Die Flucht ins All als Rettung der Erde, die man als Ruine hinter sich lassen kann. Die Stummheit der Politiker als Heilformel für alle Verwirrten und Betäubten.

Vieldeutige Begriffe haben Argumente verjagt. Mit Rhetorik kann jeder Versager seine Reputation retten. Jeder weiß, dass den Worten nichts folgt – aber es war doch eine Suada glänzender Begriffe. Worte sind völlig entleert und beliebig geworden, doch der pathetische Rahmen der Rituale beeindruckt immer noch.

„Das fast fünfjährige Warten auf den Sohn wird in Ellipsen erzählt. Jedes neue Kapitel zeigt die Tage an, die Murat bereits in Guantanamo festgehalten wird. Schon diese Zahlen haben etwas Schockierendes. Noch schockierender aber ist das Verhalten der deutschen Behörden und der Politik. Murat soll seine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland entzogen bekommen, weil er sich nicht um deren Verlängerung gekümmert habe. Wie sollte er auch von Guantanamo aus? Es ist ihm, das spürt man in diesem Film in jeder Szene, ein großes Anliegen, dass zumindest das Kino den Fall Kurnaz sowie das Versagen der damaligen rot-grünen Regierung, die dessen Freilassung um Jahre verzögert hatte, wieder ins Scheinwerferlicht rückt.“ (ZEIT.de)

Am selben Tag, als ein beeindruckender Film über den Murat-Skandal gezeigt wird, wählt die Bundesversammlung einen der Hauptverantwortlichen des Skandals mit großer Mehrheit zum obersten Repräsentanten der Republik. Als Vertreter einer sozialen Partei wirkte er mit, in neoliberaler Kälte die Reste ihrer einstigen Solidarität mit Schwachen in Straf- und Beschämungsgesetze zu verwandeln.

„Zweite Amtszeit: Der Bundespräsident wird als nett und warmherzig empfunden. Doch der Sozialdemokrat ist ein neoliberaler Machtmensch. Steinmeiers soziale Kälte war stets nur Mittel zum Zweck. Er war von keinerlei theoretischen Erkenntnissen geleitet, sondern es ging allein um Machterhalt. Binnen Tagen konnte sich die Taktik ändern – was dann Folgen für Millionen hatte. Eine gute Begründung gab es nicht, warum die Reichen und Unternehmer so dringend entlastet werden mussten. Die Bundestagswahl war nur drei Monate vorbei, da planten die beiden plötzlich Einschnitte bei den Arbeitslosen, gegen die sich das SPD-Wahlprogramm noch explizit verwahrt hatte. Dieser Wählerbetrug erhielt den Namen „Agenda 2010“ und war von einem sehr seltsamen Paradox geleitet: Ausgerechnet Armut und niedrige Löhne sollten ganz Deutschland reich machen. Steinmeiers einstige Fehler sind keine ollen Kamellen, sondern machen bis heute die Reichen reicher und die Armen ärmer.“ (TAZ.de)

Wie gehen mächtige Staaten unter? Wer war schuld am Untergang des Römischen Reichs? Wen interessieren solche Fragen? Wer ist kompetent, sie zu beantworten?

Journalisten interessieren sich nur für den Tag. Bleiben die Historiker, die alle Tatsachen der Vergangenheit trefflich zu rekapitulieren wissen. Ist die Kenntnis von Tatsachen zugleich das Wissen ihrer Ursachen?

Nach welchen Maßstäben wollen sie urteilen, wenn sie alle Maßstäbe ablehnen? Kann man Vergangenheit und Gegenwart beurteilend vergleichen, wenn selbst die Gegenwart keine objektiven Werte und Urteilsbildungen kennt?

„Der Wissenschaftler malt ein düsteres Porträt des Alten Roms, das aus heutiger Sicht alle Kriterien eines gescheiterten Staates erfüllte. Mafiös muteten viele Strukturen der römischen Gesellschaft an, analysiert der Wissenschaftler. Der Unterschied zur Gegenwart: Damals konkurrierte das organisierte Verbrechen nicht mit dem Staat, sondern der Staat selbst war die Mafia. Sommers Buch ist der jüngste Beleg dafür, wie sehr Historiker noch immer um eine Erklärung ringen, warum die unangefochtene Weltmacht der Antike kollabierte. Wurde das Imperium durch eine unüberschaubare Vielzahl von Bürgerkriegen zermürbt? Waren womöglich der Klimawandel und Seuchen schuld, so eine neuere These? Oder ließ doch die sprichwörtliche römische Dekadenz das einst so schlagkräftige Reich auf fatale Weise verfetten. »Giftmischer, Serienmörder, Betrüger, Brandstifter, Geldfälscher, Falschmünzer, Erpresser, Räuberbanden – sie alle trieben ihr Unwesen im Untergrund«, schreibt Sommer. Die Repräsentanten des Staates trieben ihr eigenes Unwesen derweil kaum verschleiert. Nach dem Befund von Autor Sommer war im Alten Rom die große Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit die Regel. Sicher ist hingegen, dass Rom vor über 2000 Jahren keine Musterdemokratie war, die heute noch als Vorbild taugt. Historiker Sommer: War das römische System »eine verkappte Oligarchie, die Herrschaft Weniger? War die Republik in Wahrheit gar die Beute mafiöser Clans?“ (SPIEGEL.de)

Fragen über Fragen, nicht die geringste Andeutung einer Antwort. Wissen wir jetzt mehr? Können wir am Beispiel Roms Schlüsse auf unsere Gegenwart ziehen? Dürfen wir überhaupt Vergangenheit und Gegenwart vergleichen? Sind es nicht gerade die Historiker, die jeden Vergleich der Zeiten verbieten mit dem kategorischen Hinweis: historische Epochen seien einmalig und nicht miteinander zu vergleichen? Hätten sie Recht, wäre der Versuch, den Niedergang Roms zu erklären, sinnlos. Wozu dann das Buch? Brillieren mit Detailkenntnissen? Haben Historiker und Journalisten sich inzwischen auf dasselbe Niveau geeinigt: schreiben, was ist und war? Doch Lehren daraus zu ziehen, ist unmöglich?

Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Welcher Anspruch? Welche Wirklichkeit?

Musterdemokratie? Wurde irgendwo eine solche vorgestellt? Wäre eine musterhafte Demokratie gegen Dekadenz und Niedergang gefeit? Die athenische Polis war eine gewisse Zeit nicht nur die erste, sondern eine mustergültige Demokratie. Warum ging es mit ihr bergab?

Keinerlei Hinweise des Verfassers, wie er methodisch seine selbstgestellten Fragen beantworten will. Wollte er etwa das Verbot seiner Zunft ignorieren, die Epochen der Geschichte seien nicht zu vergleichen – weil sie eben unvergleichlich sind?

Wären die Dinge der Welt unvergleichlich, wären sie unerkennbar. Erkennen heißt, miteinander vergleichen, Unterschiede und Ähnlichkeiten sorgfältig notieren und versuchen, Gründe der Verschiedenheit und Ähnlichkeit zu finden.

Bei materiellen Dingen leisten das die Naturwissenschaften mit vergleichendem Erkennen. Beide Aufgaben beherrschen sie grandios mit präzisem, stets wiederholbarem Messen und Berechnen. Wie viel schwerer ist Paket A, verglichen mit Paket B? Welche Nationen sind die reichsten der Welt? Alles Materielle kann durch Messen und Berechnen erfasst und quantitativ exakt definiert werden.

In geistigen Fragen hingegen tappen wir erst mal im Dunkeln. Bist du intelligenter, mein Freund, als ich? Kannst du das begründen? Kann er nicht – solange er keine quantitativen Tests erfunden hat, mit deren Hilfe er das Wissen quantifizieren kann.

Das war der Trick aller Geisteswissenschaften, die sich nicht länger vor den Naturwissenschaften ducken wollten. Also versuchten sie, deren Messen und Berechnen zu imitieren. Seitdem erstellen sie endlose Untersuchungen, stellen Einzelfragen und vergleichen die Testergebnisse statistisch miteinander.

„Untersuchungen haben ergeben“: so lautet seitdem ihre Eröffnung, dass x % der Untersuchten Linkshänder und y % Rechtshänder sind. Die fehlenden natürlichen Quantitäten werden durch statistisch-ungefähre ersetzt. Seitdem fühlen sich die Geisteswissenschaften fast schon gleichberechtigt.

Alles, was unvergleichlich ist, ist wissenschaftlich unerkennbar. Höchstens ästhetisch könnte jeder seinen Eindruck subjektiv wiedergeben. Aber auch hier haben sich Schlaumeier etwas ausgedacht. Sie bieten die Kunstwerke zum Verkauf und je mehr ein Bild erzielt, umso „wertvoller“ ist es. Wenn die Kunstwerke Gerhard Richters die höchsten Gewinne erzielen, ist er unbestritten der beste Künstler der Welt.

Was ist der Sinn dieser quantifizierenden Orgien? Dass alles seinen Preis hat und durch den, der das nötige Kleingeld besitzt, erworben werden kann. Quantifizieren heißt, Macht erringen durch die Herrschaft des Geldes. Eine perfekt durchquantifizierte Welt ist beherrschbar durch Mogule, die sich „alles leisten“ können.

Der Traum der Ökonomen wie Ludwig von Mises ist es, sich alle Gefühle, Sympathien und Zuverlässigkeiten der Menschen durch Mammon kaufen zu können. Gefällt ihnen eine Landschaft, fragen sie nach dem Preis – und erwerben ein Stück Natur. Wollen sie von einer Frau geliebt werden, fragen sie dezent nach dem Preis, den sie entrichten müssten. Eine durchquantifizierte Welt hat keinen anderen Wert als den, der in Heller und Pfennig entrichtet werden kann.

Francis Bacons Parole „Wissen ist Macht“, beruht auf der Quantifizierung allen Wissens. Der unquantifizierbare Geist hat das Nachsehen. Geistig und quantitativ zugleich kann er nicht verglichen werden, weil Geist qualitativ ist. Hier helfen keine Zahlen und Figuren, hier gibt es nur Gedanken, die durchdacht werden müssen. Nur was zu Zahlen degradiert werden kann, wird beherrschbar.

Der Gegenstoß gegen die beginnende Quantifizierung aller Dinge wurde ab Leibniz die Individualisierung, die das Einmalige und Unvergleichliche hervorhob. Individuum est ineffabile (= unvergleichlich). Gegen das quantifizierende Plattwalzen aller Dinge wehrte sich alles, was nicht in Heller und Pfennig aufgewogen werden wollte.

Hier sehen wir die Geburtsphase des kommenden Kapitalismus im Geist grenzenloser Quantifizierung aller Dinge – und der Widerstand im Geist unberechenbarer Einmaligkeit.

Gleichzeitig erhielt die Einmaligkeit noch eine ganz andere Wurzel. Sie verband sich mit der Religion.

„Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!“

Wäre Gott vergleichbar, würde alles auf Erden göttlich werden, was mit ihm verglichen werden kann. Das Göttliche verlöre jede einmalige Aura und würde zu einem ordinären Ding unter vielen Dingen.

Alles Irdische ist vergleichbar und somit erkennbar. Was erkannt werden kann, wird beherrschbar, denn Wissen ist Macht. Ein unvergleichlicher Mensch wäre undurchschaubar und somit unbeherrschbar. Er würde zur Gefahr für das System werden, das nur beherrschen kann, was es messen und vergleichen kann.

Ein vollkommenes Individuum wäre ein Gott und entzöge sich allen Zwängen gesellschaftlicher Herrschaft.

Die zwei Wurzeln der Individualisierung führten zu zwei unterschiedlichen Folgen. Der Widerstand gegen die uniformierende Quantifizierung führte zur Erstarkung des Einzelnen, zur autonomen Persönlichkeit, die sich anschickte, sich die Demokratie zu erkämpfen.

Individualisierung als Prozess des Gottähnlichwerdens hingegen führte zur Grandiosität des Ichs, das keine Hemmungen mehr kannte, sich Natur und Mensch untertan zu machen. Hier entstand auch das gottähnliche Ich Fichtes, das sich über alle Natur erhob und Silicon Valley vorwegnahm, das die Gottähnlichkeit des Ichs technifizieren und mit unbegrenzter Macht ausstatten will.

Was hat das alles mit dem Untergang Roms zu tun? Ein Reich geht nicht unter, weil zufällig Mafiabanden oder ähnliche Verbrecher ihr Unwesen treiben. Auch diese haben ihre Ursachen, wonach in dem SPIEGEL-Artikel überhaupt nicht gefragt wird.

Sehen wir von Naturgewalten und überlegenen Feinden ab, kann es nur einen Generalgrund geben, weshalb eine staatliche Gemeinschaft in sich zusammen stürzen kann. Eine Bevölkerung, die in der Urzeit mit ihrer Gemeinschaft glücklich und zufrieden war – ist es nicht mehr, weil dieses ursprüngliche Wohlbefinden durch Veränderung allzu sehr aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. Es mögen äußere Gründe wie Bevölkerungswachstum gewesen sein, die zur Veränderung geführt hatten.

Dass diese Veränderungen sich schleichend und fast unbemerkt ereigneten, war der Grund für den bewusstseinslosen Verlust der Urzufriedenheit. Es wird schon wieder, beruhigte man sich gegenseitig, wenn wir ein neues Gleichgewicht gefunden haben. Doch dieser neue Status quo stellte sich nicht ein, weil die äußeren Verhältnisse sich nicht stabilisieren konnten. Der Abstand zum Ursprung – oder der Verlust des Paradieses – wurde immer flagranter und schmerzhafter.

Man behalf sich mit notdürftigen Reparaturen. Aus der emotionalen Demokratie der Ursippe wurde nach und nach eine Klassengesellschaft, in der die Starken und Tüchtigen die Oberhand gewannen. Den weiteren Verlauf der Dinge als Entfremdung der Menschen voneinander und der Übermächtigung der Schwachen durch die Starken kann sich jeder selbst ausmalen. Es entstanden jene unerträglichen Zustände wie im alt gewordenen Rom, wo die Nutznießer verkamen und die Schwachen sie nicht länger ertrugen.

Der Artikel erwähnt nur die quantitativen Folgen des Verderbens: die Mafiakohorten oder Verbrecherbanden. Nach den Gründen der Entstehung dieser Banden wird nicht mal gefragt. Wenn Menschen, in welcher Weise auch immer, zu rebellieren beginnen, dann deshalb, weil sie in keiner Hinsicht mehr auf ihre Kosten kommen.

Heute nicht anders. Die Impfgegner & Co widersetzen sich nicht nur einem staatlichen Impfzwang, sondern dem beschleunigten politischen und moralischen Verfall ihrer Staaten. Ihr weltweiter Protest ist ein globaler Widerstand gegen die Erosion der Zivilisation. Das Impfen ist nur die Krücke, an der sie sich festhalten, weil sie tiefere Ursachen nicht erkennen und dingfest machen können.

Womit wir zur Hauptursache des Verfalls der Moderne kommen: die Menschheit verliert unablässig – wie im alten Rom – die Moral ihrer Urzeit, in der sie noch auf ihre Kosten kamen. Moral wurde zum meistgehassten Begriff heutiger Zeitgenossen, deren Macht über die Gesellschaft nur durch Abwesenheit der Moral erworben werden konnte.

Moral ist jene Verhaltensweise, die dem Menschen ein menschenwürdiges Dasein ermöglicht. Es gibt viele verschiedene Arten der Moral, weshalb die Demokraten zuerst den Kampf um die beste Moral ausfechten mussten, um sich die Grundlagen der Menschenwürde zu erarbeiten.

Es sind die Führungsschichten, die sich jedes „Moralisieren“ verbieten. Zu ihnen gehört auch die neue SPD-Regierung, die aber plötzlich bemerkte, dass eine entmoralisierte Gesellschaft sich nicht erneuern kann. Und plötzlich spricht sie von einer „werte-basierten“ Politik, die sie in Angriff nehmen wolle. Was aber ist werte-basiert, wenn es nicht moralisch ist?

Jeder hat seine Moral, auch die amoralischen Geiferer. Was nötig wäre, ist das Bewusstmachen der eigenen moralischen Prinzipien, um sie auf dem öffentlichen Marktplatz durchzustreiten. Das Ziel dieses Streits wäre eine Verständigung über die Frage, wie die Würde jedes Individuums auf der Welt bewahrt oder erkämpft werden kann.

Das demokratische Individuum ist weder gottähnlich, noch quantitativ nivellierbar. Eben diese beiden Formen der Individualisierung waren defekte Reaktionsbildungen auf die beginnende Demokratisierung zu Beginn der Aufklärung.

Das quantitative Individuum wurde zum Objekt äußerlicher Beeinflussung durch Propaganda und Werbung; das göttliche Ich hingegen zum Subjekt grenzenloser Herrschaft über die Natur, das durch Fortschritt nie zum Glück des Ankommens, der Ruhe und der Meeresstille der Seele werden kann.

Das gottgleiche Individuum wurde nicht nur zum Subjekt des Fortschritts, sondern zum uneinholbaren Gewinner des ökonomischen Wettbewerbs. Das Sieger-Ich, aufgewogen in Geld und Erfolg, verbittet sich jede nivellierende Gleichheit und denkt nicht daran, sich als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu verstehen. Seine Aura ist die eines Siegers, der von vielen moralisierenden Neidhämmeln bewundert werden will.

Ist er oben angekommen, erweitert sich sein gottähnliches Repertoire und er wird zum Spender guter Gaben, zum Almosengeber. Als gnädiger Freund der Menschheit will er in das Buch der Geschichte eingehen.

Diese Perversion aller solidarischen Fähigkeiten ist dabei, unsere Gemeinschaften zu zertrümmern. Menschen können viel leiden und ertragen. Doch jetzt ist die Grenze des Erträglichen gekommen. Es reicht.

Entweder werden sich die Verhältnisse humanisieren – oder sie werden explodieren. Ein Drittes gibt es nicht.

Fortsetzung folgt.