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… zum Logos XX

Tagesmail vom 17.01.2022

… zum Logos XX,

der Mensch hat die Natur noch nicht erreicht. Weshalb er die schützende Kultur entwickelte, mit der er sie überflügeln wollte. Ihre Überlegenheit war für ihn zur Bedrohung geworden.

Der Schutz wurde zur Gefahr. Die Kultur ist dabei, die Natur zu beseitigen – womit der Mensch sich selbst gefährdet. Der schützende Kokon droht, zum kulturellen Leichensack zu werden.

Plötzlich drang aus den Tiefen Afrikas die Weltsensation: eine neue Botschaft war gefunden worden. Nicht als Buch in göttlicher Schrift oder in mathematischen Macht-Formeln, nicht als Offenbarung höherer Weisheiten. Sondern als fürsorgliche Ansprache der Natur an die Menschen:

Wollt ihr mit mir im Einklang leben, müsst ihr meine Ursprache lernen, mit der alle Lebewesen sich verständigen.

Ich verkündige euch keine doktrinären Lehrsätze und erteile keine Befehle, sondern gebe euch Hinweise, die ihr prüfen könnt, ob sie eurem Zusammenleben förderlich sind.

Lernt vom Mycel der Pilze, lernt von der Solidarität der Tiere. Kämpfe sind Randerscheinungen und dienen nicht der Aggression, sondern gegenseitiger Ernährung.

Meine Ursprache ist Verständigung. Ihr lebt besser, wenn ihr leben lasst. Ob ihr die Sprache des Lebens verstanden habt, könnt ihr daran erkennen: lebt ihr im Dasein zur Angst und zur Sorge – oder in der heiteren Meeresstille eurer Seelen?

Bevor ihr begonnen habt, euch durch Abgase zu vergiften, habt ihr euch durch eure Ängste und Befürchtungen vergiftet. Seitdem ihr euch in Städten zusammenballt, stehen die Nebelschwaden eurer Sorgen und Schrecken über euren Machtzentren und wissen nicht, wohin sie entweichen sollen.

Eure stinkenden Hinterlassenschaften habe ich eine Zeit lang entsorgt. Doch jetzt ist Schluss mit meiner Überfürsorglichkeit. Ab jetzt müsst ihr selbst für euren Leichtsinn aufkommen. Nun kommt über euch, was ihr selbst produziert habt.

Eure Kultur – oder wenn ihr lieber wollt: eure Zivilisation – stinkt gen Himmel. Woran werdet ihr erkennen, dass ihr überleben werdet? Daran, dass ihr wieder frei atmen könnt. Dass ihr im kalten Norden die Düfte des Südens schnuppern könnt.

Wie ist euer jetziger Zustand? Ihr hasst und bekämpft euch, wollt euch in allen Dingen übertrumpfen. Ihr versteht euch nicht, macht euch gegenseitig nieder, triumphiert, wenn eure Rivalen krepieren.

Unter dem Vorwand gerechter Tauschverhältnisse raubt ihr euch aus, bereichert euch auf Kosten anderer, stehlt die Früchte fremder Arbeit. Und ihr wollt die Spitze der Evolution sein?

Früher gab es Kulturen der Scham. Heute gibt es nur Emissionen dreister Schamlosigkeit. Über alle Regeln eines gütlichen Zusammenlebens seid ihr hinaus. Wenn‘s andern schlecht geht, beginnt ihr zu vibrieren. Wie eure Augen glitzern, wenn andere darben und leiden, weil ihr ihnen wegnehmt, was sie sich mühsam verdienten.

Eure Think Tanks – eure Denkerknechte – waren höchst erfolgreich im lächerlich-machen aller menschlichen Verhaltensregeln. Für euch gibt es nur ein Kriterium der Vorbildlichkeit: hat sich euer Tun in Heller und Pfennig rentiert? Wie einst im Ablasshandel ist eure Moral identisch geworden mit Geld. Das war die quantifizierte Zerstückelung des Geistes in schnöden Mammon.

„Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich verschärft. Laut Oxfam wuchs das Vermögen der zehn reichsten Männer in der Pandemie auf 1,5 Billionen Dollar. Für Milliardäre gleiche die Krise einem Goldrausch – auch in Deutschland. »Für Milliardäre gleicht die Pandemie einem Goldrausch«, wird der Oxfam-Referent für soziale Ungleichheit, Manuel Schmitt, zitiert. »Regierungen haben Milliarden in die Wirtschaft gepumpt, doch ein Großteil ist bei Menschen hängengeblieben, die von steigenden Aktienkursen besonders profitieren.«“ (SPIEGEL.de)

Krisen der Menschheit sind die ertragsreichsten Zeiten für die reichen Absauger. Je mehr Gelder in die Behebung der Notlagen gepumpt werden, je mehr gibt’s für sie zu fischen. Ihre Netze sind omnipräsent: wo auch immer in der Welt etwas geschieht, sie angeln mit.

Wartet, wartet noch ein Weilchen: dann werden die Tycoons auch noch die wenigen Notgroschen der Überflüssigen in ihre Tresore geschleppt haben. Dann sind die Vermögensverhältnisse auf Erden einfach und übersichtlich: diejenigen, die hatten, haben nun alles, diejenigen, die nichts hatten, haben nix. Womit sie, unbelastet von Börsenspielen, in den Tag hinein leben können.

Den Großen stehen die Groschen der Kleinen zu: sie sind die genialsten, wagemutigsten und risikofreudigsten des Menschengeschlechts. Wer, wenn nicht sie, soll den Trip ins Universum wagen? Ergo brauchen sie das Kleingeld der Menschheit, damit sie eines Tages unter Jubelchören die Erde als Müllkippe verlassen können, um den plastikfreien Mars zu erobern, auf dass er in wenigen Jahren so aussehe wie die Erde!

Dann endlich das Planetenhopping, bis sie eines Tages in den Schwarzen Löchern verschwunden sein werden.

Da sie am meisten von der Pandemie profitieren, darf die passende Verschwörungstheorie nicht fehlen: ergo werden sie daran beteiligt gewesen sein, dass in Wuhan und anderswo die richtigen Viren das Licht der Welt erblickten.

Das ist das neucalvinistische Profitsystem, das in Amerika entwickelt und unter dem Vorwand einer globalen Wirtschaft der Welt aufoktroyiert wurde: Neoliberalismus mit dem Segen des Herrn.

Für Hayek war der Markt ein geheimnisvolles Ding, das vom vorwitzigen Verstand der Menschen nicht durchschaut werden konnte. Gott musste selbst dafür sorgen, dass die Seinen ihre Riesenhappen im Schlaf erhielten.

„Hayek erwähnt lobend spanische Gelehrte aus dem 16. Jahrhundert, die den mathematischen Preis betont hätten, „der von so vielen partikularen Umständen abhinge, die vom Menschen nie durchschaut werden konnten – außer von Gott.“ Nur Gott kennt die Marktordnung, denn es ist seine geschaffene Ordnung. Der Mensch kennt sie nicht. Der Markt verlangt vom Menschen Unterordnung, unter Androhung katastrophaler Strafen. Wer gehört zu den Seinen? Das weiß nur Gott allein, der es durch Verteilung der Gelder zu erkennen gibt. Dem Markt soll man vertrauen, auch wenn man ihn nicht versteht.“ (Dellwing, Globalisierung und religiöse Rhetorik)

Verstehen wir nun, warum eine deutsche Kanzlerin nie das System des herrschenden Neoliberalismus angriff, ja, nie das kleinste Wörtchen darüber verlor? Zwar war sie Lutheranerin und heute geht’s um Luthers Rivale Calvin. Doch was soll‘s? Glaube ist Glaube, alles andere Wortklauberei.

Womit sie – horribile dictu – im selben Boot saß wie der amerikanische Rüpel Trump, der in seinem Sünderherzen die Sache Gottes vertrat.

Calvinismus ist Griff nach der Macht der Welt. Er muss nicht warten, bis der Herr kommt, um das gloriose Endreich der Frommen auf Erden zu errichten. Das Goldene Reich beginnt schon jetzt:

„Das Christentum wird Macht haben. Wenn ich da bin, habt ihr viel Macht, ihr braucht niemanden anderen. Ihr werdet jemanden haben, der euch sehr, sehr gut repräsentiert. Merkt euch das.“ (Trump)

In einem Manifest seiner frommen Gefolgsleute hieß es:

„Der Erfolg der USA ist Teil von Gottes Plan.“

Im Wahlkampf hatte Trump versprochen, sein Land zurückzuführen in ein goldenes Zeitalter unter dem bekannten Motto: „Let’s Make America Great Again“. „Wir kämpfen einen Heiligen Krieg. In Amerika herrschen die Bösen. Wir müssen die Nation zurückbringen zur moralischen Haltung, die Amerika groß gemacht hat.“ (Annika Brockschmidt, Amerikas Gotteskrieger)

Brockschmidt beschreibt in ihrem fulminanten Buch die stetig wachsende, gigantische Rolle der Fundamentalisten. Erstaunt muss man zur Kenntnis nehmen, dass gediegene Informationen über diese mächtige Bewegung bei uns kaum vorhanden sind.

Auslandskorrespondenten scheinen unfähig, zu berichten, was ist. Hemmungslos selektieren sie nach subjektiver Wichtigkeit. Religion gehört für Deutsche nie zu den politischen Wichtigkeiten. Ein Totalversagen des deutschen Journalismus. Die Macht der göttlichen Kreuzzügler (wie sie sich nennen), verwandelt die einst vorbildliche Demokratie immer mehr in eine verhängnisvolle Theokratie.

Hat Berlin diese Entwicklung je zur Kenntnis genommen? Wenn ja, hat keine Pastorentochter vor dieser planetarischen Gefahr gewarnt. Nicht nur die gottlosen Großmächte gehören zu den Gefahrenquellen der Welt, inzwischen gehört God’s own Land ebenso dazu.

John Seymour, einer der eindrucksvollsten Ökologen der ersten Welle, hatte einst in seinem Buch: „Und dachten, sie wären die Herren“, eine Liste erstellt mit allen wichtigen Maßnahmen zur Rettung der Welt. Darunter die Punkte:

„Nicht versuchen, Menschen auf den Mars zu schicken.
Unsere Städte kleiner machen.
Die menschliche Bevölkerung nicht auf Kosten anderer Tiere und Pflanzen anwachsen zu lassen.
Die Erforschung des Weltraums unterlassen.
Verbieten, dass die Menschen alle großen Säugetiere ausrotten.
Die Landwirtschaft nicht weiter mechanisieren und mit Chemie vollpumpen.
Wenn wir dennoch in den Weltraum vordringen, würde das im Endeffekt bedeuten, dass wir die Erde verwüsten.“

Was davon ist inzwischen verwirklicht worden? Nichts, nicht mal theoretisch wurden diese Punkte debattiert. Das wirft ein Licht auf die Qualität unserer Ökodebatte. Deutschland ist, nach vielen Jahren pastoraler Betäubung, zur geistesabwesenden Nation geworden, die keine Rolle mehr im internationalen Kontext spielen wird – wenn die neue Regierung nicht entschlossen die Fenster aufreißen und frische Luft hereinlassen wird.

Im Urwald lernte Seymour einen jungen Buschmann kennen, den er Joseph nannte. Zusammen pirschten sie durch den Urwald und Seymour beobachtet akribisch, wie Joseph fast lautlos und spurenlos durch den Dschungel strich:

„Joseph hat nie auch nur den kleinsten Zweig abgebrochen. Er bewegte sich durch den Busch wie ein Fisch durch das Wasser – er war ein Teil davon. Während er ging, verändere er nichts. Ich musste fast nichts reden und hatte dennoch den Eindruck, dass Joseph die fast unheimliche Gabe hatte, seine Gedanken zu übermitteln und zu verstehen, was ich auszudrücken versuchte. Joseph verstand sich völlig als Teil der Natur. Keinen Augenblick wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er über der Natur stünde. Er fühlte sich als Teil der Natur, genauso wie er Schakale und Löwen als Teile von ihr betrachtete. Für die Sterne interessierte er sich, als seien sie seine Brüder und Schwestern. Solange man diese Urwaldbewohner leben lässt, wie sie es für richtig halten, solange schwimmen sie im Strom der Natur – sie sind Natur, empfinden sich so und kämen keinen Augenblick auf die Idee, etwas anderes zu sein.

„Der Weiße Mann hingegen will die Natur erobern. Und da Buschmänner ein Teil dieser Natur sind, müssen sie selbst erobert und weggeräumt werden. Vielleicht wird man ein paar in zoologischen Gärten halten, falls sie den Ortswechsel überhaupt überleben.“

Josephs Verschmelzung mit der Natur würde man bei uns als esoterische Naturanbetung vom Tisch wischen. Hierzulande darf man nur Gott anbeten, wer Natur als heilig erklärt, wird des Schamanismus geziehen. Die Macht des intoleranten Glaubens steckt in allen Winkeln unseres Daseins.

Naturmenschen lassen die Natur, wie sie ist. Nichts wollen sie verändern, alles soll bleiben, wie es war und wie sie Natur immer kannten. Das war auch die Haltung der Griechen zum unveränderlichen Kosmos.

Ist Empathie der Eingeborenen mit der Natur genau das, was Popper als geschlossene Gesellschaft bezeichnet hatte? War sie der offenen Gesellschaft der Moderne nicht hoffnungslos unterlegen?

Die athenische Demokratie war ein letzter Reflex der intakten Einheit mit der Natur. Wer Eintracht und Verständigung mit seinen Mitmenschen will, dem ist das Reich der Mütter nicht unbekannt.

Debatten sind notwendig, wenn Streit herrscht und die Gesellschaft in Arme und Reiche, Gebildete und Ungebildete gespalten ist. Das war nicht der Normalzustand der Anfänge des Menschengeschlechts oder jener Stämme, die die Symbiose mit der Natur nie gekündigt haben.

Wozu die Erinnerung an Idyllen, zu denen wir niemals zurückkehren können?

Um in Erfahrung zu bringen, wohin wir wollen. Lernen können wir nur aus der Vergangenheit. Das Ideal einer naturverbundenen Gesellschaft wäre keineswegs wissenschafts- und technikfeindlich. Es käme darauf an, jene Errungenschaften der Fortschrittskulturen mit der Symbiose der Frühe so zu verbinden, dass die Natur nicht geschädigt würde und der Mensch prüfen könnte, was von seinem Höhenrausch übrig bleibt, wenn er alle Geniestreiche unter dem Aspekt der Naturverträglichkeit prüft.

Wir müssen die Wahrheit unseres Überlebens herausfinden.

In der neuen Botschaft an die Menschen, die ihre naturfeindliche Offenbarung ersetzen soll, standen die bemerkenswerten Sätze:

Am Anfang war kein männliches Wort, sondern die allesschaffende Natur. Kein Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, sondern die Menschen waren Geschöpfe der Natur. Und niemand sprach:

„Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und alle Tiere.“

Vielmehr sollte der Mensch mündig werden und selbst herausfinden, wie viele Kinder er zeugen will, um der Natur nicht die Haare vom Kopf zu fressen.

Schon gar nicht sollte er sich die Natur untertänig machen und sich etwa als Despot der Natur aufspielen. Er sollte sich einreihen und Pflanzen und Tiere als gleichberechtigte Wesen achten.

Der Mensch hat die Natur noch nicht eingeholt. Er bewundert sie und hat Angst vor ihrer Überlegenheit. Weil er sich minderwertig fühlt, will er sie in rasender Geschwindigkeit überholen und sich untertan machen durch technisches Wissen. Er will sie beherrschen.

Sein Fortschritt in Wissenschaft und Technik rast ins Maßlose, um die begrenzte Natur zu überholen. Aus Angst, sein Ziel nicht zu erreichen, erfand er einst die Religion, um mit seiner Phantasie einen göttlichen Schöpfer zu kreieren, der ihm den Auftrag gab, sich die Erde untertan zu machen. Diesem Gott gab er Allmacht und Allwissenheit, damit er selbst – durch den Akt der Gottwerdung – allmächtig und allwissend werde.

Das war ein irrealer Ritt in die Sackgasse. Je mächtiger er wurde, umso mehr verlor er den Kontakt zur wirklichen Natur. Jetzt, im Endspiel der Klimakatastrophe, erkennt er mit Schrecken, dass sein Streben nach Macht in absoluter Ohnmacht endet. Seine Träumereien, einem phantastischen Gott immer ähnlicher zu werden, machten ihn zum Irrläufer der Evolution.

Was bleibt? Vorwärts, Menschen, wir müssen zurück und aus der selbstverschuldeten Sackgasse verschwinden. Es gibt nur einen Weg, um zu überleben: wenn wir an die Weisheit der Natur andocken und eine friedfertige Liaison mit ihr schließen.

Fortsetzung folgt.