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… zum Logos XVIII

Tagesmail vom 12.01.2022

… zum Logos XVIII,

Berlin, freue dich. Ein Herrscher des Universums, Hochstapler und Milliardär – also ein Menschheitsbeglücker – wird dir das letzte Wasser abgraben. Damit du auch in Zukunft sorgenlos Auto fahren kannst.

17 Genehmigungen erhielt ER bereits von den Behörden. Doch die entscheidende steht noch aus – die alles kippen könnte. Welch geniales Genehmigungsverfahren: erst alles bewilligen, die Wälder abholzen und das Wasser abgraben lassen Dann die finale Erlaubnis – oder nicht.

Wenn nicht, macht nüscht, dann darf die Ruine von der Bevölkerung als sterbliches Kunstwerk erwandert werden.

Eigentlich war der Wasserfrevel von den Behörden schon abgesegnet – durch peinliche Verwechslung einiger Papiere. Kann in Berlin ja mal vorkommen.

Oder war es das Charisma des Schaumschlägers, der vor den Kameras lachend um sich blickte: gäbe es diese putzigen Krüppelgewächse, wenn es kein Wasser mehr gäbe?

Völker der Erde, schaut auf diese Stadt. Hier wird der irdische Progress zu Grabe getragen. Fortsetzung im All. Und jetzt alle im Chor:

Auf der Grünheider Heide,
Da gab’s ‘ne Keilerei,
Und Elon, gar nicht feige,
War mittenmang dabei,
Hats Kleingeld rausgezogen
Und das Wasser massakriert,
Aber dennoch hat sich Elon
Janz köstlich amüsiert.

Womit wir Berlins Entertainment verlassen und erleichtert das politische Minenfeld betreten.

Wie umgehen mit der Vergangenheit? Vergraben und vergessen, wie der Himmel befiehlt – oder dem edlen Richard von Weizsäcker folgen, einem ehemaligen Berliner Bürgermeister? Zuerst das unfehlbare Wort:

„Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde.“

„Rette dich! Es gilt dein Leben! Sieh nicht hinter dich und bleibe nirgends stehen im ganzen Umkreis!“

Dann Weizsäckers große Rede zum Kriegsende , die wesentlich anders klingt:

„Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren. »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«“

Muss ja nicht gerade Erlösung sein. Auch Versöhnung gibt es nicht ohne Bewusstwerden der Vergangenheit. Wer seine Gegenwart verstehen will, muss verstanden haben, wie sie entstand. Ohne Benennung von Schuld und Unschuld wird es nicht gehen. Aus der Geschichte kann man nur lernen, wenn man seine Fehler erkannt hat.

Erinnerung im Falle des Holocaust haben die Deutschen – widerwillig – akzeptiert. Eine tiefempfundene, durch die Jahrhunderte gehende Erinnerung aber ist bei ihnen nicht entstanden. Sie beschränken sich auf das Memorieren von Zahlen und Fakten. Wie diese in der abendländischen Geschichte möglich wurden, entzieht sich ihrer erkenntnis- und emotionslosen Fleißarbeit.

Vollends der heutige Zeitgeist verschmäht alles Erinnern und Zurückschauen in das Gewesene. Von Lasten der Vergangenheit wollen die Fortschrittsstürmer nichts wissen. Unbelastet wollen sie am Punkte Null beginnen und stets ein Neues erschaffen.

Die Erleuchteten haben ihre schuldige Vergangenheit hinter sich gelassen. In der Taufe, dem Urquell des Lebens, tilgten sie alle Spuren ihrer Sünden. Dieser Geist hat sich in der Politik der Erlöserreligionen durchgesetzt. Besonders in Amerika, aber auch in Deutschland, das sich den Amerikanern im Guten wie im Bösen untergeordnet hat.

Nie mehr zurück, immer nach vorne schauen, das ist die Devise des christlichen Westens:

„Sein Glaube hilft Dabbelju Bush, einen Weg einzuschlagen und nicht rückwärts zu blicken.“ (in Peter Singer, „Der Präsident des Guten und Bösen“)

Diese Devise ist jahrhundertealt und wurde zu Beginn der Neuzeit von einem französischen Denker formuliert:

„Gott schafft die Natur und ihre Gesetze und erhält beide dadurch in ihrem Sein, dass er in jedem Augenblick die Welt neu erschafft.“ (Descartes)

Das bedeutet nicht, die Gesetze der Natur seien beliebig veränderlich und unerklärbar. Die sind, wie sie sind und so bleiben sie. Das ständige Neuerfinden bezieht sich nur auf das Denken und Tun der Menschen.

Würde die Welt in jedem Augenblick neu erschaffen, gäbe es nichts, woran man sich erinnern könnte. Kierkegaard ging einen Schritt weiter und erfand den Existentialismus, die Lehre, dass es ein zeitloses Menschsein nicht gibt. Regelmäßig müsse sich jedes Individuum eine neue Existenz geben.

Je zeitloser die Natur wurde, umso augenblicksverfallener wurde der Mensch. Wieder einmal ging es um den Protest des qualitativen Denkens gegen die um sich greifende „Diktatur“ der Mathematik. Quantität, das Gesetz der Natur – wider Qualität, die Freiheit des Geistes.

Marx war an der Unterjochung des Geistes nicht unschuldig. Das Sein war Inbegriff materieller Gesetzmäßigkeit, das Bewusstsein der Abklatsch des Seins. Für Naturwissenschaftler scheint es unbegreifbar, dass der Mensch Bürger zweier Welten sein kann: der quantitativen Natur wie der qualitativen Geisteswahrheit.

Der Protest der Impfgegner gehört zum Widerstand jener Anhänger des freien Lebens, die der Natur vertrauen, aber nicht den künstlichen Erfindungen der Menschen, die die Natur auf trostlose Gesetze reduzieren wollen.

Ohne Erforschen der Vergangenheit keine Erkenntnisse über die Entstehung des Antisemitismus. Die Vergangenheitsallergie der westlichen Kultur ist ein antisemitisches Gift, das sich keiner Schuld bewusst sein will.

Ein wesentlicher Grund der Erinnerungsphobie ist das Abschütteln aller Schuld, theologisch: der Tilgung verhasster Sünden. Wer keine belastete Vergangenheit hat, darf sich einer strahlend-weißen Weste rühmen. Das ist die conditio sine qua non, ohne welche die Zukunftsstürmer nicht nach vorne stürmen könnten. So elegant also schafft man seine Gewissensbisse ab und glaubt, jeden Augenblick von vorne zu beginnen.

Auch die deutschen Intellektuellen und Eliten gehören zu den Vergangenheitsleugnern. Wie sich ihre anamnestische Blindheit aber mit ihrer Holocaust-Erinnerung verträgt: das ist für sie kein Problem. Das Erinnern deutscher Schuld ist für sie eine Sache staatlicher Parolen und Drohgesten.

Nun stelle man sich vor, die erste Nachkriegsgeneration hätte sich zum ersten Mal affektiv mit der Schuld ihrer Väter auseinandergesetzt. Mit welchem Ergebnis? Reuelose NS-Täter hätten die Schuldzuweisung zurückgewiesen – und ihren Anklägern in die Schuhe geschoben. Wäre das nicht pervers gewesen?

Eben dies jedoch, wenn auch auf harmloserer Ebene, geschieht regelmäßig in der Bestandsaufnahme deutscher Nachkriegspolitik.

Täglich wächst die Liste gravierender Fehlleistungen der vergangenen Regierung. Doch was geschieht? Sie werden nicht jenen als Schuld angerechnet, die sie begingen, sondern der neuen Regierung als Pflichtenprogramm vorgeschrieben. Die wirklichen Sünder sollen geschont, die neue Regierung mit ihnen belastet werden.

Habeck stellte sein ökologisches Regierungsprogramm vor, indem er Soll und Haben der Situation sorgfältig notierte. Wie reagieren die Medien? Sie denken nicht daran, die Defizite jenen vorzuwerfen, die sie verübten, sondern lasten sie den Neuen an, die die Defizite der alten Regierung korrigieren müssen.

Besonders Habeck wird mit jener Art Medioanalyse durchleuchtet, die sich die Medien in vielen Jahren angeeignet haben: eine Mischung aus entlarvenden Tiefenvermutungen und Schadenfreude. Politiker sind Blender, die ihre dunkle Seele verbergen wollen.

„»Habeck ist ein begnadeter politischer Verkäufer und fand auch heute wieder schöne Sprachbilder, um die Bürger vor einer Verfehlung der Klimaschutzziele zu warnen«, sagt mein Kollege Gerald Traufetter aus unserem Hauptstadtbüro. Ab sofort aber werde Habeck »nicht mehr an seinen Worten, sondern an seinen Taten gemessen«.“ (SPIEGEL.de)

Habeck wird – bis zum Beweis des Gegenteils – als eitler Selbstdarsteller entlarvt, der seinen eigenen „Versprechungen“ nie gerecht werden kann. Wetten, dass?

Die Neuen werden als rollenspielende Rhetoren dargestellt, die mehr scheinen wollen als wirklich sein.

Im Gegenteil zu Merkel, in deren Abschiedsreden nur Preisungen ihrer guten Taten zu hören waren. Nie wurden ihre Taten an ihren Versprechungen gemessen. Beispiel Flüchtlinge: einmal eine gute Tat der Nächstenliebe, dann das mitleidslose Gegenteil bis zum Ende ihrer Ära. Sie wird nur an ihren Absichten gemessen, nie an der Realisierung der Absichten durch ihre Taten. Ihre Antworten klangen alle stereotyp: Ich habe mich bemüht. Ihr Wollen genügte, was sie wirklich tat, war belanglos.

Der Grund dieser Kritiklosigkeit?

Merkels Kapitel ist abgeschlossen. Gott hat ein neues aufgeschlagen. Das Alte ist vergangen, siehe, Er macht alles neu. Über Nacht ist die Bilanz der vergangenen Regierung kein Thema mehr. Was interessiert die Zeitgenossen ihr Geschwätz und ihre Fehler von gestern? Jeden Augenblick, den Gott ihnen schenkt, beginnen sie am Punkte Null.

Der schöne Schein der neuen Regierung wird von den Röntgenblicken der Gazetten gnadenlos zur Kenntlichkeit entlarvt.

Im Widerspruch zur Beschreibung der Merkelpolitik, die stets auf ihr gutes Wollen hinausläuft, das leider von gegnerischen Mächten allzu oft zu Fall gebracht wurde.

 „In der Praxis gibt es drei einzelne Regierungsparteien, und von denen wirken die Grünen bislang am schwächsten. Das liegt auch an der Moral, die in der Opposition leichter zu pflegen ist. In der Regierung hat man es schwer damit, weil man auf Bündnispartner trifft, die andere Vorstellungen haben. Und der Moralist sieht besonders schlecht aus, wenn er Kompromisse verkaufen muss, denn dafür ist die Moral eigentlich nicht gemacht. Peter Altmaier hingegen notierte in grüner Tinte im Herbst auf eine Vorlage aus seinem Haus: »Wir können Kompromisse machen, sofern sichergestellt ist, dass Bau und Betrieb neuer Erdgaskraftwerke (…) möglich bleibt«. Kanzlerin Merkel hielt sich erst einmal raus, wie gewohnt. Niklas Höhne, Wissenschaftler am NewClimate Institute, sieht das ähnlich: »Gas als nachhaltig zu deklarieren, wäre katastrophal für den Klimaschutz. Es setzt das komplett falsche Signal und suggeriert, wir hätten noch Zeit. Für Gas als sogenannte Brückentechnologie haben wir aber einfach keine Zeit mehr.« Da zeichnet sich ein Grundkonflikt dieser Legislaturperiode ab. Die Klimabewegung ist eine außerparlamentarische Opposition, die alles fordern kann, weil sie nichts umsetzen oder mittragen muss. Die Grünen werden eingeklemmt sein zwischen den Ansprüchen der Aktivisten und den Erfordernissen des Regierens. Die Grünen brauchen eine neue Strategie, doch die ist nicht in Sicht. Sie werden sie finden müssen, wenn sie die Chance haben wollen, in vier Jahren aus der Regierung heraus nochmals einen Kanzlerkandidaten oder eine Kanzlerkandidatin aufzustellen. Dann können sie nicht die Dauerempörten sein, auch nicht die Dauerbeleidigten und erst recht nicht die, auf denen SPD und FDP andauernd herumtrampeln.“ (SPIEGEL.de)

Kritik an Merkel durch Messen ihrer Taten an ihren Worten: das wiesen die Medien mit Empörung zurück. Das sei impertinenter Moralismus.

Lehnt man diese einzig wirksame Möglichkeit der Kritik ab, bleibt nur noch ein überidentisches Mitfühlen mit der Mutterfigur, ein wirkliches Prüfen wird als kalte Überheblichkeit zurückgewiesen.

Die neue Regierung hingegen wird plötzlich auf ihre moralischen Ansprüche angesprochen, denen sie mit Sicherheit nicht gerecht werden würde. Wetten, dass?

In der Opposition sei es einfach, mit Moral zu brillieren, schließlich müsse man keine Taten vorweisen. Übernähme man hingegen Verantwortung, würde man schnell erkennen, dass man seine Ansprüche gar nicht realisieren könne – außer in kläglichen Kompromissformeln.

Eine arrogante Analyse ohne Substanz. Politische Moral wird von fast allen Politikern abgelehnt. Habeck verbittet sich jedes Moralisieren in der Politik. Ohne Begründung.

Der vermutete Grund: Politik gilt heute als mechanisches Geschäft mit Machtinteressen, nicht als Verwirklichung der Menschenrechte. Der freie Westen ist stolz auf die UN-Charta, aber mit realer Politik hätte sie nichts zu tun. Eliten definieren sich als rechnende Vertreter des eigenen Egoismus. Alles andere seien Sonntagsreden, nicht ernst zu nehmen.

Den Klimaaktivisten wird vorgeworfen, sie hätten leicht reden mit kategorischer Moral, schließlich trügen sie ja keine Verantwortung. Auch Greta und die FFF-Jugend seien nicht besser als ihre Kontrahenten: Lobbyisten. Lobbyisten der Natur. Geht’s noch jugendfeindlicher und reformblinder?

Die mediale Kritik klingt nach Goethe: Prophete links, Prophete rechts, das Weltkind in der Mitten. Geldlobby rechts, Naturlobby links, die unbefleckte Beobachterkaste in der neutralen Mitte.

Wahrheit aber ist nicht die Mitte beliebiger Widersprüche. Dann wäre ein wahrer Christ derjenige, der sich in gleichem Abstand von Gott und Teufel befände.

Auch die Mitte zwischen Trug und Richtigkeit ist nicht automatisch wahr. Eins und eins ist weder drei noch fünf, aber auch nicht vier, die Mitte zwischen beiden.

Der Widerwille der Journalisten gegen Aktivisten ist neurotisch. Zwanghaft müssen sie sich vor sich selbst rechtfertigen, da sie nur schreiben, Worte machen und in allen Dingen abseits stehen.

Welch verantwortungsloses Verhalten: die Welt geht unter und eine ganze Kaste will nichts anderes, als den Untergang aus neutraler Distanz beschreiben. Was, um Himmels willen, ist so schwer daran, objektive Tatsachen mit subjektiver Bewertung zu verbinden? Erstens spürt man ohnehin, was die Schreiber denken, weil ihre Meinungen ihnen aus allen Poren dringen. Zweitens können die Artikel viel besser beurteilt werden, wenn Tatsachen und Meinungen offen liegen.

Der Positivismus deutscher Eliten wurde in vordemokratischen Zeiten entwickelt.

Längst wäre es an der Zeit, dass die deutsche Unfähigkeit zum Streiten von der Suche nach der Wahrheit profitieren könnte:

„Die liberale Demokratie braucht die regulative Idee der Wahrheit und die Institutionalisierung von Instanzen für die Ermittlung von vorübergehenden, falsifizierbaren Wahrheiten. Ohne sie kann die liberale Demokratie nicht langfristig funktionieren. Die öffentliche Debatte macht ohne die Prämisse, dass es als wahr anzusehende Zusammenhänge und richtige Überzeugungen geben kann, keinen Sinn. Wenn alle empirischen Behauptungen und alle moralischen Überzeugungen gleichermaßen gültig oder ungültig sind, wird die öffentliche Debatte und die Suche nach dem Gemeinwohl zum fake.
Die Gefahren, die sich mit der Infragestellung der liberalen Erkenntnislehre verbinden, hat Thomas Mann in Pacific Palisades bei der Abfassung seiner Rede über Deutschland und die Deutschen nachgezeichnet. Demnach beruhe die „Tiefe“ der deutschen Seele, auf dem „was man Innerlichkeit nennt, das heißt: dem Auseinanderfallen des spekulativen und des gesellschaftlich-politischen Elements menschlicher Energie und der völligen Prävalenz der ersten vor dem zweiten.““ (Sueddeutsche.de)

Thomas Mann hat die Spaltung der deutschen Seele trefflich auf den Punkt gebracht: emotionale Innerlichkeit und politisches Denken (sofern vorhanden) haben sich nie in der Vernunft gefunden. Ihr Denken spekulierte wild über Gott und die Welt, ihre Gefühle schwärmten für die unerreichbare blaue Blume, doch mit schmutziger Politik wollte sich kein Deutscher beflecken. Das änderte sich erst, als ein Umschlag stattfand und Machiavelli zum Leitstern deutscher Machtpolitik avancierte.

Habeck hielt sich vornehm zurück, die erschreckenden Klimadefizite jenen anzulasten, die sie verursacht haben. Schließlich gehörte die Nicht-Fisch-noch-Fleisch-Partei SPD auch zur Merkel-Regierung, die das heutige Desaster zu verantworten hat. Zudem weiß der neue starke Mann, dass er keine Chance bei der Bevölkerung hätte, wenn er ihre Herzensdame angreifen würde.

Die Deutschen wollten schon lange keine konfliktlösende Politik mehr. Sie wollen geräuschlose Verwaltung und das gewohnte Rattern der Gesellschaftsmaschine. Eben dies war das Durchwurschteln der Ex-Kanzlerin, die alles Denken als Ideologie verwarf. Inzwischen gibt es dafür das Verb „durchmerkeln“. Zu denken und zu streiten gab es nichts für die fromme Frau, die alles in Gottes Hand sieht.

Die Tücken des Fortschritts und der Digitalisierung, der Neoliberalismus als religiöse Gegenaufklärung, die verhängnisvollen Folgen der Ausbeutung per globaler Wirtschaft, die unerträgliche Wohnungsnot, die Kinder als Opfer denkfeindlicher Obrigkeitsschulen, die Flüchtlingsmassen in allen Erdteilen, die zunehmenden Kriegsgefahren zwischen den Großmächten: in keinem einzigen Punkt war die Lutheranerin fähig, ihre eigene Position zu erklären und zu rechtfertigen.

Merkels Position war religiös und positivistisch. Entscheidend für sie war (wie für ihren Vorgänger), „was hinten heraus kommt“. Alles, was ist, muss mit allen Mitteln augustinischer Ergebung verteidigt werden. Es wäre geistliche Hybris, selbst bestimmen zu wollen, wohin das Schifflein fahren soll.

Positivisten und Fromme machen keine selbstbestimmte Politik. Sie haben alle Hände voll zu tun, den irdischen Schrotthaufen dem Willen des Herrn zu empfehlen.

Deutschland musste sich den politischen Vorstellungen seiner Sieger und Befreier unterwerfen. Was Demokratie und Menschenrechte betrifft, war das ein unverdientes Glück, was aber die Probleme Religion, Dominanz über die Welt, endloser Fortschritt ua betrifft, hätten die Vorzeigeschüler irgendwann beweisen müssen, dass sie mit ihren Autoritäten einen sinnvollen Dialog hätten führen können.

Nur die TAZ ist fähig, das Naheliegende zu formulieren:

„Das Programm des Vizekanzlers ist die grüne Version einer Ruck-Rede, nur industriepolitisch unterlegt und ökonomisch wie ökologisch bitter nötig. Es tut gut, von der Regierung endlich mal eine ehrliche Bilanz des deutschen Klimaversagens zu hören – auch wenn es so zutreffend wie einfach ist, der Vorgängerregierung die Schuld zu geben.“ (TAZ.de)

Die Grundhaltung des SPIEGEL ist ein Noli me tangere mit undurchdachten philosophischen Überzeugungen, die einem Relotius-hoch-n-Effekt ähneln. Zwar beginnen sie, sich immer mehr in Frage zu stellen. Einzelne denken nicht daran, sich das Denken verbieten zu lassen. Am Grundtenor des Blattes aber ändert das noch nichts:

Wir schauen zu, wie andere unsere Demokratie voranbringen oder verschandeln. Stets bleiben wir cool und halten uns aus allem raus. Wir beobachten nur. Was wir denken, bleibt unser Geheimnis.

Bei Merkel klingt das seelenverwandt: alles in Gottes Hand. Merkel und Medien ähneln sich in hohem Maß. Was auch immer kommt: sie waschen ihre Hände in Unschuld.

Fortsetzung folgt.