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… zum Logos XCIX

Tagesmail vom 12.08.2022

… zum Logos XCIX,

was haben sie gemeinsam – die Schröders und Schlesingers?

Oben angekommen, sind sie unfehlbar geworden und kämpfen unerbittlich um ihre Sonderrechte. Das lutherische Syndrom ist über sie gekommen:

Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.

Möglich, dass sie alle geschriebenen Paragraphen beachtet haben. Verstehen sie aber auch, was Geist ist – die vitale Atmosphäre einer Demokratie, von der sie lebt, webt und ist?

Das Herz einer lebendigen Polis ist Leidenschaft für Menschenfreundschaft, Verträglichkeit und Homonoia, die „Vereinigung der Herzen“.

Demokraten benötigen keine Macht, um Humanität mit Gewalt durchzusetzen, sondern um die Mächte der Inhumanität so lange zu bekämpfen, bis diese sich zu demokratischen Regeln entschließen werden.

Deutsche Aufsteiger aalen sich in feudaler Arroganz, die in den oberen Etagen zur pflichtgemäßen Imponierausstattung wurde. Sie zeigen es allen, dass sie – im Brei der Gleichheit – Besondere sind. Was auch immer geschieht, den Makel ihrer Herkunft haben sie abgestreift.

Um nicht unterzugehen im Fluss des Verderbens, halten sich die Deutschen einige Selbstbewunderer, an denen sie sich neidisch abarbeiten können, um ihre eigene Erfolglosigkeit zu vergessen.

Streng genommen sind die Ankläger von ihren eigenen Anklagen gar nicht so überzeugt. Denn ihre Kritik bleibt so oberflächlich, dass die Kritisierten keine Probleme haben, sie auseinanderzunehmen. Ist denn Schröder aus der Partei rausgeworfen worden? Wetten, dass er seine Klage gegen den Bundestag gewinnen wird?

So wichtig meinen es die Angreifer nun auch wieder nicht. Meistens gehören sie zu den Biederen, die ihre Meinung als Ausdruck ihres gesunden Menschenverstandes betrachten.

Dabei übersehen sie, dass es in ihrer Partei erfolgreiche Gesinnungsgenossen des Angeklagten gibt, die das Moralgeschwätz der Basis mit einer einzigen Handbewegung vom Tisch wischen. Wie hießen nochmal jene Vornehmen, die gegen den Ausschluss des Genossen Sarrazin votierten? Hörte man nicht die Namen eines Helmut Schmidt und eines Klaus von Dohnanyi?

Die Erfolgreichen der Partei, die Karrieristen, mögen die simple Moral der Basis nicht mehr. Sie haben bewiesen, dass die Parteimoral mit pfiffiger Machtstrategie durchmischt werden muss, um den politischen Gegnern Paroli zu bieten.

Gezielte Prisen von Machiavelli machen eine Partei erst erfolgreich. Dass es dabei um flagrante Widersprüche geht, schert niemanden. Denn jeder Karrierist muss das Gleiche tun, sonst kann er seine Größenphantasien beerdigen.

Am Beginn der Neuzeit entdeckte der Westen nicht nur die doppelte Wahrheit, sondern auch die doppelte Moral. Damals waren sie noch so ehrlich, dass sie die doppelte Moral als Dogma ihrer Religion vertraten. Sie sprachen von der Antinomie Gottes.

Sie ist die Widersprüchlichkeit der göttlichen Moral in sich selbst. Gott spricht: Mensch, tu das Gute oder das Böse, das ist dir überlassen. Aber, was immer du tust, tu es in meinem Namen. In meinen Augen ist das Gute nur gut, wenn es nicht aus eigener Kraft getan wird, sondern in meinem Namen.

Dasselbe gilt für das Böse: wenn du es in meinem Auftrag tust, ist es ebenso geheiligt wie das Gute. Schuld auf sich zu nehmen in meinem Namen ist eine glückliche Schuld, eine felix culpa.

Diese Botschaft versteht kein Ungläubiger auf der Welt. Gott selbst soll der Urheber eines Bösen sein, das sich als Gehorsam Gottes versteht? Ist denn der Teufel Bestandteil Gottes?

Antwort: Ja.

So wie beides, Gut und Böse moralisch sein kann – wenn es dem Willen des Höchsten entspricht, so könnte beides auch amoralisch und sündhaft sein – wenn der Mensch Gutes und Böses in eigenem Namen definiert.

Daraus gibt es nur ein Fazit: wahrhaft gut ist nur der blinde Gehorsam gegenüber Gottes Befehlen, mögen sie gut oder böse sein.

Wahrhaft böse ist allein der Widerstand gegen Gottes Willen, der Gutes oder Böses befohlen hat.

Autonomie, Selbstgesetzgebung des Menschen, ist für den Himmel das wahrhaft Böse. Das Leben des Gläubigen muss durchgängig vom göttlichen Willen geleitet sein, dann ist er gut, gehorsam und fromm.

Folgt er hingegen seinem eigenen Willen, ist er von Grund auf verdorben und von einem teuflischen Willen beseelt.

Theologen und Prediger lügen durchweg, wenn sie eindeutige Zitate aus der Schrift auswählen, um den Eindruck zu erwecken, die Moral des Bergpredigers sei die beste der Welt, weil sie nur das selbstlose Gute predige.

Davon kann keine Rede sein. Alles, was die Gläubigen tun, bleibt nicht ohne Lohn und Strafe. Handeln sie im Gehorsam gegen Gott, werden sie selig gesprochen. Handeln sie eigenmächtig, wartet die Hölle auf sie.

Das ist keine selbstbewusste Moral, sondern knechtische Duckmäuserei. Hier prallen die beiden Urkulturen des Abendlands unversöhnlich aufeinander. Für die Griechen war Autonomie die Zierde des erwachsenen Menschen, für die Frommen ist Demut das A und O eines Christen, der auf ewige Seligpreisung hoffen kann.

Mit dieser Doppelmoral eroberten die Christen die ganze Welt – und verstehen bis heute nicht den Widerstand dieser Welt. Deren Widerstand halten sie für böse, weil die Welt die Doppelmoral des christlichen Westens als Scheinheiligkeit betrachtet und keineswegs als überzeugende Moral.

Widerspruchslosigkeit ist für die nicht-christliche Welt die conditio sine qua non jeder Moral – und natürlich jeder Aussage, die auf Wahrheit Wert legt. Alles, was wahr sein will, muss den Ansprüchen der logischen Widerspruchslosigkeit genügen. Kein Gott darf sich widersprechen – wenn er ein Gott der Vernunft sein will. Will er es nicht, verliert er alle göttlichen Qualitäten.

Griechen waren überzeugte Logiker, logische Folgerichtigkeit war für sie das Mindestkennzeichen jeder Wahrheit.

Offenbarungsgläubige verachteten die Logik der Heiden. Für sie galt nur das gehörte und geoffenbarte Wort des Gottes. Das musste wortwörtlich befolgt werden – ob es dem menschlichen Geist entspricht oder nicht.

Griechen hingegen entdeckten die Fähigkeiten des menschlichen Denkens, die sich unabhängig von Offenbarungen entfalten konnten. Ihr Selbstbewusstsein war so hoch, dass es auf Offenbarungen von Oben verzichten konnte.

Ergo lösten sich die Selbstdenker von allen Göttern, die sich ungefragt in alle menschlichen Angelegenheiten einmischen wollten.

Als das Christentum das Abendland, somit auch das griechisch-römische Denken überwältigt hatte, musste es mit Aristoteles, Platon & Co viele Kompromisse eingehen, weil das griechische Denken – trotz klerikaler Widerstände – bereits einen zu großen Einfluss in Europa hatte.

Es kam zu unendlich vielen Kompromissen, die ins alltägliche Bewusstsein eingingen – und das Denken des Abendlandes mit Zweideutigkeiten vergiftete. Ein Hauptgrund für die zweideutige Sprache des heutigen Zeitgeistes.

Genauso war auch die Begriffsverwirrung der ersten Jahrhunderte gewesen. Hier der Bericht eines wachen Zeitgenossen:
„Die Stadt ist voll von Leuten, die unbegreifliche und unverständliche Dinge reden, auf allen Straßen, Markthallen, Plätzen und Kreuzungen. Gehe ich in einen Laden und frage, wieviel ich zu zahlen habe, bekomme ich zur Antwort einen philosophischen Vortrag über den gezeugten oder nicht gezeugten Sohn (Jesus) des Vaters. Erkundige ich mich in der Bäckerei nach dem Brotpreis, so antwortet mir der Bäcker: der Vater ist zweifellos größer als der Sohn. Und frage ich in den Thermen, ob ich ein Bad bekommen kann, versucht mir der Bademeister zu beweisen, dass der Sohn ohne Zweifel aus dem Nichts hervorgegangen ist.“ (Bei Werner Raith, Das verlassene Imperium)

Die Begriffsverwirrung jener ersten Jahrhunderte des christlichen Abendlands ist auch der Grund der gegenwärtigen „Überkomplexheit“, die Neunmalkluge benutzen, um den Pöbel davon abzuhalten, sich über die Ereignisse der Weltpolitik ein klares Urteil zu bilden.

Mit dieser uralten Technik gelingt es den Eliten noch immer, sich allzu strenger Kritik an ihren Schwurbeleien zu entziehen.

Noch immer ist es die Absicht der Oberen, den Pöbel nicht allzu sehr in die Geheimnisse ihrer Verdunkelungen einzuweihen. Ihr Image könnte verloren gehen.

Hat irgendjemand den Eindruck, die europäischen Christenvölker hätten den Durchblick über die Ursachen der gegenwärtigen Krisen? Wäre dem so, müssten die öffentlichen Streitgespräche dann nicht ganz anders verlaufen – nämlich rationaler und verständlicher?

Nein, die Bildung der abendländischen Schulen und Unis hat lediglich den Zweck, die Menschen für die Erhaltung der Staatsmaschine funktionsfähig zu machen. Um wahre Bildung als Erkenntnis der Welt geht es nicht.

Wie viele Studenten gehen im ersten Semester erkenntnishungrig in die Einleitungsvorlesungen – und werden mit der Frage geschockt: Sie wollen wissen, wie das menschliche Erkennen funktioniert, doch können Sie mir beweisen, dass es Sie überhaupt gibt? Werden auf diese Weise die meisten Neugierigen verscheucht, atmen die akademischen Denker auf. Abschreckung war das Ziel ihrer ersten Begegnung.

Bei Physikern nicht anders, wo in der ersten Vorlesung ein Nachwuchs-Einstein an die Tafel eilt und vor sich hinmurmelt: ich definiere einen x-dimensionalen Raum. Wenn alle ratlos schauen, hat er seine Pflicht erledigt: den Weizen hat er von der Spreu getrennt.

Warum gibt es so viele Wissenschaftler, die es für unverantwortlich halten, sich als ökologische Aktivisten zu betätigen? Die Begründung eines Wissenschaftlers:

„Was kann Wissenschaft? Die schlichte Antwort: Sie kann von Haus aus Wissen schaffen. Und zwar präzises, überprüfbares und überprüftes, zuverlässiges Wissen mit transparenter Herkunft. Besseres Wissen besitzen wir nicht. Doch kann sie mehr liefern als verlässliche Beschreibungen der vergangenen und gegenwärtigen Welt sowie Voraussagen zur zukünftigen? Nicht als Wissenschaft! Nicht zuletzt Max Weber hat darauf verwiesen, dass Wissenschaft die Welt erfolgreich beschreiben, die Gültigkeit von Normen oder Werten jedoch nicht autorisieren kann. Insofern kann sie als Wissenschaft nicht sagen, ob und in welcher Weise man die Welt verändern soll. Dazu besitzt sie weder die moralische noch die politische Autorität. Auf Normen oder Werte kann Wissenschaft zwar zurückgreifen, deren Geltung aber nicht anordnen. Konkret für den Klimawandel bedeutet das: Die Klimatologie kann den Wandel des Klimas sowie Kosten und Auswirkungen von Gegenmaßnahmen prognostizieren. Die Sozialwissenschaften können Reaktionen der Gesellschaft beschreiben, die Politikwissenschaften den politischen Prozess. Aber keine Wissenschaft kann als Wissenschaft sagen, dass man den Klimawandel stoppen soll.“ (ZEIT.de)

Gewiss, Wissenschaftler erkennen nur, was ist: die Gesetze der Natur. Moralische Normen fallen nicht unter ihre Kompetenz. Gleichwohl treten sie noch immer so auf, als wären sie als Wissenschaftler auch politisch-moralisch am kompetentesten. Das ist eine Grenzüberschreitung, die schon viel Unheil in der Geschichte der angewandten Technik angerichtet hat. Aber …

…. dennoch haben Wissenschaftler die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich als Demokraten am Willensprozess ihrer Gesellschaft zu beteiligen. Man stelle sich vor, die Welt geht unter und die gesamte Naturwissenschaft steht abseits und schaut zu, wie die Menschheit vor die Hunde geht.

Was würden die Kinder dieser Wissenschaftler sagen? Ob man‘s glaubt oder nicht: auch Wissenschaftler sind normale Demokraten und haben ihre politische Pflicht zu tun.

Es ist richtig, in einer Welt, in der Gewalt noch immer als letztes Mittel gilt, um bestimmte Probleme zu lösen, kann dogmatischer Pazifismus nicht das ultimative Heilmittel sein. Politik, die für umfassende Humanität eintritt, muss auch fähig sein, feindliche Gewalten mit einer rationalen Dosis von Gegengewalt einzudämmen. Auch Sokrates diente seiner Polis als tapferer Soldat, obgleich sein Motto lautete: besser Unrecht erleiden, als Unrecht tun.

Es ist keine doppelte Moral, wenn man seine Kompromisse offen darlegt und begründet.

Anders ist das Beispiel Amerikas, das sich als Licht der Welt darstellt – und dennoch jedem Staat seinen Willen aufzwingen darf, wenn es dies für nötig hält.

„Amerika, das die Macht von Europa übernommen hat, sei der aufrichtigen Überzeugung, nur wenn es der Welt seinen Willen aufzwinge, könne sie gerettet werden.“ (bei Pankaj Mishra, Aus den Ruinen des Empires)

Wenn Amerika glaubt, ein Land müsse zu dessen eigenem Heil erobert und demokratisiert werden, kennen die Amerikaner kein Halten mehr: dieses Land werden sie mit aller Gewalt „missionieren“ und zu seinem Heil zwingen.

Das „Manifest Destiny“ der Amerikaner lässt keine Zweifel daran, dass die beste Demokratie der Welt auch die erwählteste ist, um die Heidenstaaten zu ihrem Glück zu nötigen.

Ganz anders die Politik Chinas über viele Jahrhunderte hinweg. Die damals mächtigste Nation der Welt dachte nicht daran, ihre Macht zu nutzen, um die Welt zu erobern.

„Weitaus älter als der Islam, hatte der Konfuzianismus bereits seit 2000 Jahren dem Staat und der Gesellschaft Chinas als Grundlage gedient. Seine Grundwerte „Mitmenschlichkeit, Tugendhaftigkeit, kindliche Pietät und Treue“ beschrieben das rechte Handeln im privaten wie im politischen Leben.“ (ebenda)

China vermied den grundsätzlichen Fehler, eine antinomische Moral als Leitstern der Politik einzusetzen. Bei uns hingegen werden den Kindern Anstand und Tugenden gepredigt, die sie beim Eintritt in den Kapitalismus wie heiße Kartoffeln fallen lassen müssen.

Eindeutige Moral gilt bei uns als Zeichen einer primitiven Kultur. In einer Hochkultur wie der unseren müssen immer zwei Moralen mit einander in den Clinch, um eine hochkomplexe und undurchschaubare Doppelmoral zu entwickeln.

Der Westen ist unschlagbar in der Technik, welterlösende Parolen zu predigen, aber das Gegenteil zu tun.

Schröder und Schlesinger mögen juristisch Recht haben, von demokratischen Kriterien wissen sie nichts.

Nur durch universelle Moral kann die Welt zum planetarischen Frieden finden. Vorbedingung wäre das Gegenteil einer wetteifernden Aufrüstung: intensive Gespräche über eine menschheitsverbindende Politik.

Religiöse Doppelmoralen mit einem totalitären Gott führen stets ins Verderben.

Fortsetzung folgt.