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… zum Logos LXXXV

Tagesmail vom 24.06.2022

… zum Logos LXXXV,

und alle Fragen offen.

Wahrhaftig: gibt es keine dringlicheren Probleme auf der Welt – als Fragen nach der Kunst?

Ist die Kasseler Documenta nicht eine Veranstaltung feinsinniger Eliten, die sich von Polit- und Moralfragen abgestoßen fühlen?

Ist Kunst etwas, das wir uns noch leisten können?

Wo bleiben denn die vorlauten FFF-Aktivisten, wenn es um Fragen der Kunst geht? Ist Ästhetik keine Urdisziplin deutscher Geschichte seit der Romantik? Haben jene nichts anderes im Sinn, als den Verantwortlichen auf den Wecker zu fallen, um großmäulig die Welt zu retten?

„Liebe G7-Regierungschefs, Ihr wollt „globale Verantwortung“ übernehmen, hat Olaf Scholz gesagt. So weit, so schön – wäre da nicht Scholz’ hartnäckige Arbeit an einem langfristigen Gaseinstieg, den er international vorantreiben möchte. Statt des angekündigten Ende fossiler Energien plant Scholz den erneuten Ausbau und ignoriert so alle wissenschaftlichen Warnungen. Um globale Verantwortung ernst zu nehmen und allen Ländern Klimaschutz- sowie Anpassungs-maßnahmen zu ermöglichen, braucht es einen sofortigen Schuldenerlass für die Länder des globalen Südens! Ohne einen Schuldenschnitt kann es weder echte Maßnahmen gegen die Klima-Katastrophe, noch soziale Gerechtigkeit geben.2021 haben die 34 ärmsten Länder der Welt fünfmal mehr für Schuldenzahlungen ausgegeben, als für den Schutz ihrer Bevölkerung vor den Folgen der Klimakrise. Dieses Geld fehlt für öffentliche Institutionen und die Bewältigung der Klimakatastrophe. Denn während ihr für zwei Drittel der globalen Emissionen verantwortlich seid, trägt der globale Süden über 80 Prozent der Kosten zur Folgenbewältigung.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Wird in der gegenwärtigen Kunst der unästhetische, ja, körperfressende Hunger jener Völker dargestellt, die von den reichen Ländern noch immer ausgenommen und ausgeblutet werden?

Soll das etwa PostKolonialismus sein, wenn Machtverhältnisse und Überlebenschancen seit 100en von Jahren unverändert sind?

„Hunger wird in der schöngeistigen Literatur kaum behandelt. Vielleicht weil Hungernde selten schreiben und Schreibende selten hungern. Hungerkünstler waren entgegen dem Wortsinn geschäftstüchtige Schaustellerinnen. Das Verhungern wird noch seltener dargestellt. Es ist eine grausame Todesart. Während die allerletzten Fettreste im Unterhautzellgewebe aufgebraucht werden, verwandelt sich der Mensch in ein mit Haut überzogenes Gerippe. In der Folge beginnt der Körper sich selbst aufzufressen, der Organismus zehrt das eigene Eiweiß auf, die Muskulatur schwindet, die Leber schrumpft, ebenso Nieren und Milz. Weil sich Wasser einlagert, schwillt der Körper zu dem berühmt-berüchtigten Hungerbauch an. Drückt man den Arm eines Verhungernden, bleibt der Abdruck der Finger stundenlang zu sehen. Wir erfahren wenig über Hunger, weil die Menschen, die hungern, in den Medien kaum repräsentiert sind.“ (TAZ.de)

Die Kunst begann als Darstellung des Wahren und Vorbildlichen, das man einst schön nannte. Es sollte vollkommener sein als alles, was man sehen und erleben konnte – um den Menschen anzuregen, über sich hinauszuwachsen und immer wahrer und vorbildlicher zu werden. Der Mensch galt als lern- und entwicklungsfähig.

Heute, kurz vor seinem Suizid, kann der Mensch solche Parolen nicht mehr hören. Er reagiert mit Hohn und Spott – oder fuchsteufelswild.

Als die Naturwissenschaften begannen, das Regiment zu übernehmen, wurde der schöne und gute Mensch endgültig aus dem Rennen genommen.

Er hatte nur noch die Chance, sich als Maschinist, Techniker oder Natureroberer ins Grenzenlose zu entwickeln. Das war das definite Ende des Wahren und Schönen, kurz nach der Renaissance, als die Italiener die Schönheiten der Griechen wiederentdeckt und wider das Unschöne des christlichen Mittelalters gesetzt hatten.

Das Mittelalter kannte nicht die Schönheit des Leibes, das autonome Wahre und Gute. Der Gekreuzigte war ohne Gestalt und Schöne, das Irdische Inbegriff des Verruchten und Bösen. Erst im Jenseits glaubte man, die Umrisse des Perfekten und Vollendeten zu erahnen.

Der Rausch des Schönen am Ende des Mittelalters war von kurzer Dauer. Die rasante Entwicklung der Wissenschaften und Technik, die Eroberung einer neuen Welt, die unermesslich, aber nicht schön war, trug zum schnellen Verfall des Schönen bei.

Das Schöne war Maß und Grenze, weil alles Vollendete maßvoll und begrenzt war.

„Die Ab-Grenzung, das ins Maß-Bringen des Unbegrenzten ist der Ursprung jeder Art von Schönheit.“ (Grassi, Die Theorie des Schönen in der Antike)

Die Wiederkehr des antiken Schönen hatte keine Chance. Die wissenschaftliche Entwicklung ging ins Unbegrenzte. Die Kunst geriet ins Abseits und musste sich der neuen Grenzenlosigkeit unterordnen. Das Schöne und Maßvolle wurde geschreddert und verwandelte sich – ins Hässliche.

Das Hässliche ist das Konturen- und Grenzenlose, der unstillbare Hunger nach immer mehr, nach allem, was nie ans Ziel gelangt. Hier beginnt die moderne Tyrannei der Formel: Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts.

Ruhe, heitere Zu-Friedenheit wurden zu Hauptsünden des Menschen, der aus eigener Kraft kein gutes Leben auf Erden leben kann. Denn das würde bedeuten, das Hässliche, das Böse könnte er aus eigener Kraft überwinden.

„Zur Wissenschaft gehört der Fortschritt, während die bildende Kunst ihr Endziel mit der Verwirklichung des klassischen Schönheitsideals erfüllt sah.“ (Gombrich, Kunst und Fortschritt)

Die Epoche der Schönheit von Michelangelo und Leonardo da Vinci ging nach kurzer Hoch-zeit zu Ende. Die Gestalten auf den Bildern wurden immer länger und unproportionierter. Schon stand Goya vor der Tür, der hemmungslos das bislang Verbotene malte: dazu gehörte das verlockende, nackte Weib:

„Die nackte Maja war das erste Aktbild der spanischen Kunst, auf dem Schamhaar zu sehen ist. Nicht nur diese Gemälde erregten Anstoß, sondern auch die Caprichos und Desastres, in denen Goya die Verfehlungen und Laster der damaligen Kirchenvertreter kritisch anprangerte. Als letzter der großen Radierzyklen Goyas entstand die 1816 veröffentlichte Tauromaquia, eine Folge über die Kunst des Stierkampfs, die aus 33 Radierungen besteht. Sie setzt den Stil der Desastres mit den tumultartigen Einzelkämpfen fort.“

Die Kunst verbot sich die Rolle der Lobpreisung des Irdischen und verkehrte sich ins Gegenteil: das bisherige Schöne empfand sie immer mehr als heuchelnde Verklärung des zunehmenden Elends auf Erden – die sie radikal ihres schönen Scheins berauben musste, um die immer trostlosere Realität der Moderne oder die Kehrseite des auftrumpfenden Fortschritts zu entlarven.

Die desillusionierende Funktion der Kunst wurde zur Vorläuferin Freuds, der von drei Kränkungen der Neuzeit sprach:

„Die kosmologische Kränkung: Die erste Erschütterung sei die mit dem Namen Kopernikus verknüpfte Entdeckung gewesen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist (vgl. Kopernikanische Wende).

Die biologische Kränkung: Die zweite Kränkung lag in der Entdeckung, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen ist (Charles Darwin und andere).

Die psychologische Kränkung: Die dritte Kränkung sei die von ihm entwickelte Libidotheorie des Unbewussten; ein beträchtlicher Teil des Seelenlebens entziehe sich der Kenntnis und der Herrschaft des bewussten Willens. Die Psychoanalyse konfrontiere das Bewusstsein mit der peinlichen Einsicht, (…) daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.“

Der Mensch der Moderne sieht sich gern im Glanz des Fortschritts, vorangetrieben durch Technik und Wissenschaft, die sich die Natur gnadenlos unterwerfen.

Die Kehrseite dieser Selbstberauschung wollte der neuzeitliche Mensch lange nicht sehen. Selbst als die Natur sich immer mehr von der Rolle der glückseligen Sklavin losriss und die hässlichen Seiten ihrer Unterwerfung zeigte, wollte das Ebenbild Gottes von seiner hybriden Rolle nicht lassen.

Selbst heute, wenn Hitzewellen, Ausrottung der Tiere und Pflanzen dem Menschen das Leben immer mehr zur Pein machen, verweigern sich die Mehrheiten noch immer der Erkenntnis: das Schöne und Wahre der Natur ist kollabiert, es beginnen die Schreckenszeiten des Hässlichen und Bösen.

In der Tat, das Hässliche wurde zum Bösen. Das war die umwerfende Erkenntnis des Karl Rosenkranz, eines Hegel-Schülers, der in seinem Werk „Ästhetik des Hässlichen“ aus dem Jahr 1853 folgendes schrieb:

„Die Hölle ist nicht bloß eine religiös-ethische, sie ist auch eine ästhetische. Wir stehen inmitten des Bösen und des Übels, aber auch inmitten des Hässlichen. Die Schrecken der Unform und der Missform, der Gemeinheit und Scheußlichkeit, umringen uns in zahllosen Gestalten von pygmäenhaften Anfängen bis zu jenen riesigen Verzerrungen, aus denen die infernale Bosheit zähnefletschend uns angrinst. In diese Hölle des Schönen wollen wir hier niedersteigen. Es ist unmöglich, ohne in die Hölle des Bösen, in die wirkliche Hölle, sich einzulassen, denn das hässliche Hässliche ist nicht das, was aus der Natur in Sümpfen, in verkrüppelten Bäumen, in Kröten und Molchen, in glotzenden Fischungeheuern und massiven Dickhäutern, in Ratten und Affen uns anwidert: es ist die Selbstsucht, die ihren Wahnsinn in den tückischen und frivolen Gebärden, in den Furchen der Leidenschaft, in dem Scheelblick des Auges und – im Verbrechen offenbart. Man wird es in Ordnung finden, dass nunmehr auch die Schattenseite der Lichtgestalt des Schönen ebenso ein Moment der ästhetischen Wissenschaft werde, als die Krankheit in der Pathologie, als das Böse in der Ethik.“

Kein Zufall, dass diese Erkenntnisse in jener Epoche entstanden, als in Deutschland die technische und kapitalistische Aufholjagd im Bismarckreich den Vorsprung der westlichen Nachbarn in rasender Beschleunigung zu eliminieren begann. Schon der alte Goethe hatte mit gemischten Gefühlen das Vordringen der frühkapitalistischen Menschenschinderei und Naturverwüstung wahrgenommen.

Die Kunst war die sensibelste unter allen Künsten gewesen, die die Rückseite des Fortschritts gespürt und dargestellt hatte. Daran könnte man erkennen, wie lange schon der wache Mensch die ersten Zeichen der Naturbeschädigung wahrnahm. Genau genommen, begann der Prozess schon in der Antike, wenn auch noch nicht systematisch.

„»Siegesgewiss blicken sie (die Menschen) auf den Zusammenbruch der Natur«: auf diese prägnante Formel hat der römische Naturforscher Plinius die Einstellung des sich überlegen dünkenden Menschen zu der von ihm – scheinbar – bezwungenen Natur gebracht. »Was für ein Ende soll die Ausbeutung der Erde in all den künftigen Jahrhunderten noch finden? Bis wohin soll unsere Habgier noch vordringen?«“ (K .W. Weeber, Smog über Attika)

Dabei waren diese Blessuren noch Lappalien, verglichen mit den klaffenden Wunden, die der Natur in der Neuzeit zugefügt wurden.

Seitdem die Kunst das Schöne als heuchlerische Tarnung des Hässlichen begriff und die Wahrheit des Verderblichen zur Darstellung brachte, wurde sie zu einer umstrittenen, ja skandalumwitterten Disziplin.

Die wahre Realität wurde zum Es, das verdrängt werden musste zugunsten eines perfekten Über-Ichs. Das Über-Ich wurde zum Paradies des Vollkommenen, das Es zur Domäne der abstoßenden Realität, die man – unter dem Druck des Fortschritts – als ungeschminkte Wahrheit nicht erkennen durfte.

Welche Aufgabe hatte die Kunst? Alles Verdrängte und Unsagbare aus dem Bereich der Dunkelheit dem Zuschauer vor den Latz zu knallen: was ich, Kunst, dir, Mensch, ungeschönt zeige, ist genau das, was du versteckst und nicht sehen willst.

Ich zeige dir alles in Klarheit, was du als sündige Bedürfnisse ins Dunkel verschieben und hassen musst.

Trifft all dies nicht exakt auf die umstrittene Kunst der Documenta zu? Der indonesische Künstler spürte instinktiv eine der Hauptwunden der Gegenwart: die Abneigung der Völker gegen Israels Menschenrechtsverletzungen und bediente sich jener Symptome, die das Heilige Land des Unrechts am meisten treffen musste: jene, die schon jahrhundertelang der Christenheit dazu diente, das gehasste Volk der Juden zu verunglimpfen. Besonders im Dritten Reich, das die Juden vollends zu abscheulichen Untermenschen dämonisiert hatte.

Bedeutet die Darstellung eines Verbotenen und Tabuisierten automatisch, dass der Künstler das Dargestellte als Wahrheit vertritt? Keineswegs. Es bedeutet lediglich, dass er auf eine kollektive Wunde aufmerksam machen will. Er will seine Zuschauer dazu provozieren, sich das Verdrängte bewusst zu machen und sich eine Meinung im Lichte seines Ichs zu bilden.

Dass die Darstellung der Nazi-Symbole bedeuten muss, der Künstler habe sich als Parteigänger der Nazis und fanatischer Gegner der Juden verraten, ist unwahrscheinlich. Er musste damit rechnen, dass er in Deutschland mit judenfeindlichen Attacken sich selbst am meisten schaden würde.

Warum stellte man sich nicht die erstaunte Frage: was kann indonesische Künstler dazu bewogen haben, ausgerechnet im deutschen Mörderland die Juden erneut mit hässlichen Symbolen zu verteufeln?

Eine solche Vermutung verkennt nicht nur die Grundfunktion der Kunst – das Verdrängte und Verbotene sichtbar zu machen; sie ist auch psychologisch unwahrscheinlich. Anstatt des üblichen Aufschreis mit Entsetzen und reaktivem Verurteilen hätte man sich die Frage stellen sollen: will der Künstler tatsächlich die Opfer der Deutschen zu Tätern machen, um … ja was? Die Deutschen nachträglich zu entlasten und ihre früheren mörderischen Diffamierungen zu bestätigen?

Das wäre so dreist und unverfroren, dass man diese Vermutung getrost streichen sollte.

Warum glaubt man nicht der Künstlergruppe, wenn sie sich mit folgenden Worten entschuldigt:

„Die Wahrheit ist, dass wir kollektiv darin versagt haben, die Figur in dem Werk zu erkennen, die an klassische Stereotypen des Antisemitismus erinnert«, schreibt Ruangrupa dazu. »Wir räumen ein, dass dies unser Fehler war.« Man habe nun verstanden, heißt es weiter, dass diese Bildsprache »nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte anknüpfe, in der jüdische Menschen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verfolgt und ermordet wurden«. Man sei »schockiert«, dass vor diesem Hintergrund eine solche Figur in die betroffene Arbeit aufgenommen wurde. Das kollektiv hergestellte Banner beziehe sich auf die »ungelöste dunkle Geschichte Indonesiens«, erklärte Ruangrapa erneut. Gleichzeitig verwies das kuratierende Kollektiv in der Mitteilung darauf, »dass viele der Angriffe gegen uns nicht in guter Absicht erfolgt sind«. Vielmehr habe man den Eindruck, dass viele Anschuldigungen erhoben worden seien, »ohne dass zuvor ein offener Austausch und gegenseitiges Lernen« angestrebt worden sei.“ (SPIEGEL.de)

Hält man diese Entschuldigung etwa für eine glatte Lüge? Warum sprach niemand mit den Künstlern, bevor die überhitzten Attacken von der Leine gelassen wurden?

Oh, natürlich: im Land der Täter wird nicht gesprochen. Der Kanzler denkt nicht dran, den Ort des Malheurs zu besuchen und mit beiden Seiten ein Gespräch zu führen.

Wer spricht, macht sich angreifbar. Wer schweigt, ist unwiderlegbar.
(Einzelanalysen der Reaktionen demnächst.)

Fortsetzung folgt.