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… zum Logos LXXXII

Tagesmail vom 17.06.2022

… zum Logos LXXXII,

Und nun die Kunst. Wir sehen eine indonesische Künstlergruppe im Sturmangriff gegen deutsche Kunst.

Schon der Begriff „Gruppe“ lässt aufhorchen. Er bedeutet, das geniale Individuum der deutschen Kunst hat ausgedient: ergo runter vom Sockel.

Deutsche Himmelsstürmer haben fertig, Horden aus Asien und anderen „unterentwickelten“ Ländern rächen sich an ihren einstigen Eroberern. Ab jetzt wird heimgezahlt.

„Immerhin wurde nun erstmals in der Geschichte der Documenta ein Kuratorenteam verpflichtet, das nicht mit dem Kunstbegriff des Westens sozialisiert ist.“ (SPIEGEL.de)

Wo ist der Unterschied?

„Zwar agiert Ruangrupa nicht als Gruppe von Revolutionären, die eine bestehende Ordnung stürzen wollen. Aber sie praktizieren ihre Auffassung von Kunst mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der bei den bisherigen 14 Ausgaben der Documenta eine westliche Idee von Kunst vertreten wurde. Bei Ruangrupa spielen Begriffe wie Humor, Großzügigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und lokale Verankerung eine wichtige Rolle, die man hierzulande bisher kaum mit Kunst assoziiert hat. Für sie wurde ganz im Gegenteil oft und gern heiliger Ernst in Anspruch genommen, und erst recht zelebrierte man Exklusivität und Exzess.

Exklusivität schließt aus, Exzess schweift aus, heiliger Ernst schickt Andersgläubige ins Fegefeuer.

Ist das keine Degradierung der Kunst, eine pöbelhafte Erniedrigung und Nivellierung?

In der Tat. Man könnte auch von Demokratisierung sprechen, vom Abschied anmaßender Eliten, von der Flucht in die Masse. Von der Einsamkeit der Gottgleichen zum Lärm des Pöbels, der seine ordinären Freuden an die Stelle kreativer Geburtsschmerzen und überschäumender Schöpferlust setzt.

„Jene anderen Begriffe gehören zu den von Ruangrupa propagierten »Lumbung«-Werten, die darauf ausgerichtet sind, gemeinsam Erwirtschaftetes möglichst vielen zugutekommen zu lassen. Kunst wird hier von vornherein als sozialeAngelegenheit betrachtet.“

Soll hier mit Hilfe der Kunst eine Art kommunistische Gleichheit der Menschen propagiert werden? Ist das ein Angriff gegen westlichen Kapitalismus aus dem asiatischen Hinterhalt? Soll nivellierende Gerechtigkeit über den Schleichweg der Kunst in die Hochburgen des Wohlstandes eingeschleust werden?

„Statt sie primär daran zu messen, ob sie ästhetisch innovativ oder eine interessante Antwort auf einen früheren Ismus ist, achtet man vermehrt darauf, wie gut und komplex sie in ihr Umfeld integriert ist, wie sie dieses verändert und wie sehr sie anderen Menschen zu helfen vermag. Dass »die Trennung von Kunst und Leben überwunden werden« solle, heißt es daher bei Ruangrupa. Vor allem aber dokumentieren die Künstler(-gruppen) – passend zum Namen »Documenta«! – ihre Projekte; sie stellen ihre Arbeitsweisen vor, werben für ihre politischen Anliegen. Insgesamt entsteht das für alle, die mit dem westlichen Kunstbegriff vertraut sind, provozierende Bild, es sei mittlerweile nicht mehr genug, einfach nur Kunst zu machen.“

Kunst soll nicht mehr autonom sein. Den Massen wird sie vor die Füße geworfen. Einer solch radikalen Veränderung des Kunstbegriffs wäre der Verfasser des Artikels offenbar gar nicht abgeneigt. Droht jetzt der Untergang des Abendlands?

„Und wer weiß? Vielleicht gelingt es dieser Documenta ja wirklich, über den westlichen Kunstbetrieb hinauszuführen, der sich zwischen dem Sammlerkunst-Spektakel und der dazugehörigen Feier des Geldes und einer routiniert kritischen Institutionenkunst festgefahren hat.“

Sammlerkunst-Spektakel? Feier des Geldes? Routiniert-erstarrte institutionelle Kunst?

Das ist, vorsichtig formuliert, ein Generalverriss der gegenwärtigen Kunstszene, in der nur Steinreiche beim Fuggern mit sündhaft teuren Kunstwerken die Schlagzeilen der Feuilletons erringen. Sonst spielt Kunst keine Rolle mehr. Weder als Musik, noch als Theater, geschweige denn als Malerei.

Wo liegen die Wurzeln der deutschen Genieästhetik?

In der Auseinandersetzung mit dem griechischen Dreiklang aus Schönem, Wahrem und Gutem. Es ging um die Auseinandersetzung des modernen Europa mit der griechischen Kultur, die bis zur Renaissance (partiell sogar in der mittelalterlichen Theologie) als vorbildlich galt, dann aber die Schnauze voll hatte mit all dem Schönen, das auch noch gut und wahr sein sollte.

Es begann ein Wettbewerb mit den Hellenen in allen Dingen. Francis Bacon hatte die Abwendung von den Griechen begonnen, sie hatten es nicht geschafft, ihre Naturphilosophie – von der auch die Europäer abhängig waren – in naturbeherrschende Technik zu verwandeln.

Dem Engländer folgten in kurzem Abstand französische Literaten, die einen generellen Streit zwischen Alten und Modernen begannen. (Querelle des Anciens et des Modernes)

„Charles Perrault – anlässlich der Genesung Ludwigs XIV. – trug sein Gedicht Le siècle de Louis le Grand vor, in dem er das Zeitalter Ludwigs XIV. als Ideal pries und zugleich mit Hinweis auf das augusteische Zeitalter die Vorbildfunktion der Antike in Frage stellte:

„Die schöne Antike verdiente immer Verehrung,
Doch nie, glaubte ich, Anbetung.
Ich sehe die Menschen der Antike, ohne die Knie zu beugen,
Sie sind groß, das ist wahr, doch Menschen wie wir;
Und man kann den Vergleich anstellen, ohne ungerecht zu sein,
Zwischen dem Zeitalter von LOUIS und dem schönen des Augustus.“

Das war die große Wende in der Entwicklung des Abendlands. Die italienische Renaissance war noch berauscht gewesen von neu entdeckten griechischen Urkunden. Die Schüler in den humanistischen Schulen studierten derart hingerissen die Sprache Platons, dass sie abends übermüdet vom Hocker fielen.

Freilich, da gab es ein Land im Norden jenseits der Alpen, das keinerlei Faszination durch autonom denkende Heiden zuließ und sich der Wiederentdeckung des Urchristentums verschrieb. Luther hasste griechischen Geist und aristotelische Logik.

Wider Erasmus, den führenden Humanisten, schrieb er seine Streitschrift „Vom Unfreien Willen“. Dieser unfreie Wille beherrschte die ganze neuzeitliche Entwicklung – mit Ausnahme der Aufklärung – über Hegels Objektiven Geist, Marxens materielle Verhältnisse bis zum Neoliberalismus der Gegenwart.

Heute ist alle persönliche Schuld abgeschafft. Vorsichtshalber werden keine anspruchsvollen Ziele ansteuert, bei denen man versagen könnte. Unisono könnten die Versager deklamieren: Entschuldigen werden wir uns bei niemandem, wir taten, was wir konnten.

Gottlob waren sie nur fähig, den Karren im immer gleichen Takt weiterzuschieben. Gottlob hatten sie seit Jahrzehnten Denkfähigkeit und Willen derart ramponiert, dass sie heute vor den gigantischen Herausforderungen der Gegenwart hilflos kapitulieren dürfen. Kurz vor einer der größten Katastrophe der Menschheit beten sie still vor sich hin: mit uns sind wir im Reinen.

Luther nahm Abschied vom aristotelisch verseuchten Mittelalter und regredierte zum unverfälschten Urchristentum.

Bacon nahm Abschied vom antitechnischen Aristoteles der Scholastik und erfand ein neues Christentum. Weg vom erbsündigen, kopfhängenden Demutsglauben, vorwärts zurück in jenes Paradies, aus dem Eva und Adam rausgeworfen worden waren.

Mit einem technisch aufgerüsteten Aristoteles wollte Bacon das durch Ursünde verlorene Paradies zurückerobern, um damit den Sündenfall ungeschehen zu machen. Ein kühner Verstoß gegen die Sündenschuld des Urpaares.

Das war die zweite schroffe Ablöseaktion Europas von den bislang so hoch gepriesenen Denkern Athens. Mit den Querelles kam die dritte aus dem Gebiet der Kunst.

„Im Streit der „Anciens“ und „Modernes“ ging es vor allem um ein neues ästhetisches Bewusstsein, in dem die schöpferische Tätigkeit des Künstlers eine besondere Rolle spielte. So hat Jauss gezeigt, wie sich von Anfang an das Prinzip der „inventio“ (Erfindung) gegen das aristotelische Kunstideal der „imitatio naturae“ durchsetzte. Ein anderer hatte schon gezeigt, dass die Überlegenheit der christlichen Dichtung gegenüber der Antike darin bestanden hatte, dass der Künstler nicht mehr unmittelbar die Natur, sondern Gott als Schöpfer nachahme. Der Schöpfer hatte niemanden und nichts imitiert, als er die Natur erschuf. Alles hatte er aus Nichts geschaffen. Der Antike waren die Modernen dadurch überlegen, dass sie in Epos und Malerei Erfindungen hervorbrachten, für die es in der Natur kein Vorbild gab. Da Natur immer gleich bleibe, könne Nachahmung zu nichts Neuem führen. Erst die Neuschöpfung des Geistes begründe die moderne Kunstepoche.“ (Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung)

Zu nichts Neuem? Eben darum ging es: um das Neue, das allein gottesebenbildlich war. Kreativität, Genialität wollten gottgleich werden. Das war nur möglich durch Verwerfung des Bekannten und Alten. Je mehr Neues erfunden wurde, je mehr wurde das Alte hässlich, abstoßend und naturschädlich.

Es begann die Spaltung der Welt in Neues und Altes, das zum Müll wurde und die Welt in einen einzigen Abfallhaufen verwandelte. Das war die Fortsetzung der Spaltung der Welt in wenige Erwählte und in die Masse der Verworfenen, die heute zur Masse der Schwachen und Überflüssigen geworden ist. Bei Pfarrersohn Schelling wurde die Schöpfung selbst zum Ab-Fall des Seins.

Bei Bacon müssen wir genauer hinschauen. Das Experiment hatte auch er noch als Nachahmung der Natur definiert. „Die Kunst des Experimentators besteht darin, die Naturerscheinungen mit technischen Mitteln nachzuahmen.“ Imitatio und Inventio gehören hier noch zusammen. Der Mensch erlangt nur technische Macht, wenn er sich den Naturgesetzen beugt. Das war eine partielle Imitation, im Bereich der Theologie hingegen räumte der englische Kanzler auf.

Seine revolutionäre Theologie war ein Faustschlag gegen die Demutsrolle der Christen, die erst am Ende der Heilsgeschichte erfahren, wo sie landen würden: in Gottes Schoß – oder in Teufels Rachen?

Die Wiedereroberung des Paradieses war eine Sünde wider den Geist, eine freche Verballhornung der Heilsgeschichte. Sie musste nicht in die Apokalypse münden, sondern im Paradies des Anfangs, das aus eigener Kraft – der Kraft naturwissenschaftlichen Erkennens – vom entsündigten Sünder zurückerobert werden würde.

Das unvergleichliche Genie, das einmalige Individuum, wurde zum Vorbild aller neuzeitlichen Fortschrittskoryphäen. Das Genie imitierte die Natur nicht durch objektives Erkennen, es erschuf im Rausch der Kreativität eine neue Natur, die in der Welt bislang unbekannt war.

Hier gründet das Fortschritts-Bekenntnis der Moderne: in allen Dingen das Neue! Immer in die Zukunft schauen! Sich stets neu erfinden!

Die Aufklärung hatte nicht das Neue per se gewollt, sondern das Wahre, das sie in der Natur objektiv erkennen konnte. Das war keine Unterwerfung unter eine minderwertige Natur, sondern ein Gleichklang von Mutter Natur mit dem erkennenden Naturwesen Mensch.

Dieses Losreißen von der Natur, um von ihr nicht durch „passives Erkennen“ abhängig zu sein, betraf nicht nur die Kunst, sondern fast die gesamte Philosophie des deutschen Idealismus.

Kant konnte nur erkennen, was er durch apriorische Erkenntnisorgane selbst geprägt hatte. Die Natur an sich blieb dem Menschen ein Rätsel. Nur, was er mit seinen Erkenntnisorganen erkennbar gemacht hatte, konnte er auch erkennen.

Fichte setzte noch eins drauf und ernannte das omnipotente Ich quasi zum Schöpfer der Natur. Nur was dieser selbst erschaffen hatte, konnte er auch erkennen. Hier wandelte Fichte auf den Spuren des italienischen Philosophen Vico.

All das war der gottgleiche Höhepunkt der deutschen Philosophie. Danach ging‘s bergab. Schopenhauer wurde zum Propheten des Pessimismus, Stirner zum Trompeter des allmächtig-egoistischen Ichs, Nietzsche zum Vernichter alles Lebendigen, um in gekünstelter Wiederholung des Gleichen die Leiden des Sisyphos vorwegzunehmen.

All die Spuren des genialen Wahnsinns mündeten in die Ideologie des Nationalsozialismus, der, geführt vom einmaligen Genie eines gottgesandten Führers, das Fass zumachen sollte. Von Gott erwählte Deutsche müssen das schlechte Vorhandene vernichten, um das gute Neue vom Himmel auf die Erde zu holen.

Das unvergleichliche Ich fand seine erste Krönung in der Ästhetik der Romantik. Goethe empfand noch eine „gesunde Abneigung“ gegenüber den romantischen Jüngelchen, die die Welt nicht realistisch erkennen und ästhetisch darstellen konnten, sondern sie in ein Zauberreich des Neuen transformieren wollten.

„Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke“.

Doch auch der Olympier war nicht frei von romantischen Vernichtungs- und Neuschöpfungsobsessionen:

„Und freilich ist nicht viel damit getan.
Was sich dem Nichts entgegenstellt,
Das Etwas, diese plumpe Welt,
So viel als ich schon unternommen,
Ich wußte nicht ihr beizukommen,
Mit Wellen, Stürmen, Schütteln, Brand –
Geruhig bleibt am Ende Meer und Land!
Und dem verdammten Zeug, der Tier- und Menschenbrut
Dem ist nun gar nichts anzuhaben:
Wie viele hab‘ ich schon begraben!
Und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut.
So geht es fort, man möchte rasend werden!
Der Luft, dem Wasser, wie der Erden
Entwinden tausend Keime sich,
Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten!
Hätt‘ ich mir nicht die Flamme vorbehalten,
Ich hätte nichts Aparts für mich.“

Der Teufel, das Alter Ego des deutschen Professors, sollte erst alles vernichten, um alles neu zu errichten. 100 Jahre, nachdem Goethes Werk erschienen war, marschierten deutsche Satans- Kolonnen quer durch Europa, um die alte Welt zu vernichten und eine nagelneue aus Nichts zu errichten.

Goethes Nachfolger wollten die ganze Welt romantisieren. Doch das Neue, Geheimnisvolle und Übernatürliche misslang ihnen so gründlich, dass sie in einer „Ästhetik der Ruine“ verkamen. Das Heidelberger Schloss wurde zum Inbegriff einer magischen Hinfälligkeit und Endlichkeit alles Irdischen.

Was war der Unterschied zwischen der rationalen Vernunft der Aufklärung und der irrational-unbegrenzten Schwärmerei der Romantiker?

„Klassik war Streben nach Vollendung, Ruhe, fester Ordnung, Klarheit, Maß und Harmonie, nach Objektivität, Typisierung, Gesetz, Vernunft, Gleichgewicht.“

„Romantik war Drang nach Unendlichkeit, Leidenschaftlich-Bewegtem, Dunklem, maß- und regellosem Sprengenwollen aller Grenzen, zerbricht die klassischen Grenzen; will Herrschaft der frei schöpferischen Phantasie, die wichtiger ist als „edle“ Form und hochgeistiger Inhalt; will Grenzen sprengen: Grenzen des Verstandes, Grenzen zwischen Wissenschaft und Poesie.“

Von Novalis stammt die bekannteste Definition der Romantik:

„Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzen-Reihe sind. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man andere nie wahrhaft verstehen lernen.“

Aufklärung ist Orientierung am Begrenzten, Maßvollen, Überprüf- und Nachvollziehbaren: am Natürlichen und Humanen.

Romantik entzieht sich jeder demokratischen Streitkultur. Sie nebelt sich ein in gottähnliche Unendlichkeit oder eine unangreifbare Natur- und Menschenfeindschaft.

Just dieses Geniegehabe der deutschen Kunst greift die indonesische Künstlergruppe vehement an.

Antisemitische Vorwürfe gegen die Gruppe müssen gesondert geprüft werden, um das Thema Kunst nicht zu verdrängen. Werden sie aber nicht. Weshalb das universalistische Element ihrer humanen Wirtschafts- und Klimapolitik mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt werden kann.

In der deutschen Politik gibt es keine Vernunft. Es herrscht die Ästhetik der Ruine und des unrettbaren Verfalls.

Fortsetzung folgt.