Kategorien
Tagesmail

… zum Logos LXXVII

Tagesmail vom 03.06.2022

… zum Logos LXXVII,

„Der soziale Rechtsstaat sei darauf angewiesen, dass Mittel der Allgemeinheit nur bei aktueller Bedürftigkeit in Anspruch genommen würden, betonte das Gericht.“ (WELT.de)

Hartz4-Empfänger, die ein Haus besitzen, müssen dieses verscherbeln, wenn die Kinder das Haus verlassen, die Eltern somit über Nacht in luxuriösen Verhältnissen wohnen und nicht mehr berechtigt sind, dem „Staat“ zur Last zu fallen.

Raus aus dem selbstgemachten Häusle, ihr ihr … ja, soll man euch Sozialschmarotzer nennen?

Faust hätte von den drei wilden Gesellen „Raufebold, Habebald und Haltefest“ gesprochen. Sie stehen für nackte Gewalt, Gier und Geiz.“ (FAZ-NET)

Jetzt gaaanz langsam. Harzt4-ler gleichsetzen mit millionenschweren Ausbeutern: schreien solche Vergleiche nicht zum Himmel?

Es geht nicht um Quantitäten, es geht ums Prinzip; wer gegen Gesetze verstößt, muss die Knute des Rechts spüren. Das Recht ist nicht machtlos, es ist wehrhaft und kann sich gegen Verletzungen schützen. Vor dem Gesetz sind alle gleich, vor Gesetzesverstößen ebenso.

Keine Kritik der Medien am Beschluss des höchsten deutschen Gerichts. Die kam vom Sozialverband VdK:

„Der VdK machte deutlich, dass zum Beispiel ältere Menschen ihre Kinder in den Wohnungen oder Häusern großgezogen hätten. „Wenn die Kinder dann ausziehen, ist es oft völlig illusorisch, in eine kleinere bezahlbare Wohnung zu ziehen, denn die gibt es einfach nicht“, hieß es. „Die Betroffenen haben angesichts des angespannten Wohnungsmarktes keine Chance, sich zu verkleinern, und werden somit noch indirekt dafür bestraft, dass sie Kinder großgezogen haben.“

Öffentliche Demütigung, sozialer Abstieg, Verlust aller Freundschaften und nachbarlicher Beziehungen und Zerstörung der Familie: wo sollen die Kinder wohnen, wenn sie die Eltern besuchen? Eltern werden bestraft, weil sie so leichtsinnig waren, sich Kinder zuzulegen.

Wieder einmal sorgt der „Staat“ dafür, dass Menschen auseinandergerissen und isoliert werden. Nicht diese entscheiden, ob sie ihre Familienbeziehungen bewahren und erweitern wollen, wieder einmal wird über sie bestimmt. Die Letzten beißen die Hunde, wieder einmal sind Kinder die Opfer der beziehungszersetzenden Politik des Staates.

Ist das ein Sozialstaat, der alles tut, um gleiche Aufstiegschancen zu schaffen? Der Menschen degradiert, weil sie keine Arbeitsplätze erhielten? Wer ist schuld, wenn jemand seine Arbeit verliert, die auf lebenslänglicher Abhängigkeit beruht?

Auf der Teilung der Gesellschaft in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeit-nehmer beruht der Kapitalismus. Die einen müssen malochen, die anderen tun, als ob sie arbeiteten. Vor allem kassieren sie den Profit der Arbeit – der Anderen. Das gilt von Anfang an bis heute.

Warum gab es im Richterkollegium keine Sachverständigen, die, über die Einhaltung der Paragraphen hinweg, auf die psychosozialen Folgen eines emotionslosen, kaltschnäuzigen, aber buchstabengetreuen Urteils hinwiesen?

Ist das Recht ein mechanisches System, das sich der Gesellschaftsmaschine anpassen muss? Warum wird in unserer Gesellschaft nie über Recht gesprochen? Ist es so perfekt, dass es schlechterdings gegen Kritik immun ist? Sind nicht jene Demokratien allein vital, die ihre Regeln und Gesetze ständig überprüfen?

Wer nur für gleiche Aufstiegschancen sorgen will, ohne den vernichtenden Wettbewerb um höhere Plätze abzuschaffen und ohne die Gesellschaft in eine gerechte zu verwandeln, die kein Gerangel um beste Plätze nötig hat, sollte sich das Geschwätz um angebliche Chancengleichheit sparen.

Gemessen am kalten System, könnte das Urteil des höchsten Gerichts durchaus gerecht sein. Was aber, wenn es aus sozialen und emotionalen Gründen gegen alle Instinkte der Gerechtigkeit verstieße?

Instinkte gegen den Wortlaut der Gesetze? Du scheinst immer noch an das gesunde Volksempfinden zu glauben? Nein, an das kranke Volksempfinden glaube ich aber auch nicht. Kollektive Empfindungen einer Gesellschaft hängen von uralten Traditionen, politischen Erfahrungen und eingedrillten Glaubenssystemen ab. Instinkte sind nicht starr und unbeweglich, sondern entwicklungs- und lernfähig. „Bauchgefühle“ in einer intakten Demokratie sind anders als die in einer menschenfeindlichen Autokratenherrschaft.

Ist das Recht, wie alle Geisteswissenschaften, auch zu einem mechanischen System verkommen? Müsste es nicht die Übersetzung des Rechtsempfindens eines Volkes in geschriebenes Recht sein – wie es am Anfang der Demokratie der Fall war?

Im Rechtspositivismus siegte, wie in allen Positivismen, naturwissenschaftliche Determiniertheit über das selbstbestimmte Recht und die Moral freier Menschen, die ihr autonomes Rechtsverständnis in der Polis durchstreiten und in mehrheitlicher Abstimmung bestimmen wollen.

Alles andere wäre die unerwünschte Moral einer Elite, die sich einbildet, abgehobene Sondererkenntnisse zu besitzen.

„Kennzeichen des Rechtspositivismus ist die strikte Trennung von Recht und Moral.“ (Brockhaus, Fachlexikon Recht)

Die Überhebung einer Fachelite über die Meinungen der Gesellschaft konnte nicht ohne Kritik bleiben.

„Erik Wolf begreift den Positivismus als Zersetzungsprozess … der in wachsendem Maß der Mechanisierung und Materialisierung verfiel. Nach Walzel hat der Positivismus die Vernunft zum technischen und instrumentellen Verstand destruiert. Für das Recht bedeute diese Destruktion seine Auslieferung an die bestehende Macht. Recht sei, was von der kompetenten Behörde bestimmt werde. Die Krise des Positivismus ist in Wahrheit eine Krise der legitimierenden Kraft des demokratischen Gemeinwillens.“ (ebenda)

Wir müssen folgern: der Spruch aus Karlsruhe war an positivistischer Kaltschnäuzigkeit und sozialer Blindheit kaum zu überbieten. Misst man die Stabilität einer Demokratie an der Übereinstimmung des mehrheitlichen Rechtsbewusstseins mit dem Buchstaben des Gesetzes, müssen wir konstatieren: auch an dieser Stelle ist unsere Volksdemokratie defekt und gibt sich als System, das in Verachtung der Mündigen nicht mehr zu übertreffen ist.

An allen Ecken und Enden obsiegen selbsternannte Experten, die sich erhaben fühlen über die Simplizitäten des Volkes: haltet euch raus, das ist zu komplex für euch.

Dabei will unsere Gesellschaft eine soziale Marktwirtschaft sein.

„Da die Bundesrepublik Deutschland sich am Sozialstaatsprinzip orientiert, wird ihr Wirtschaftssystem/Wirtschaft auch als soziale Marktwirtschaft bezeichnet. Der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ wurde von Alfred Müller-Armack geprägt, der in den fünfziger Jahren unter Ludwig Erhardt als Staatssekretär tätig war. Damit ist gemeint, dass in der Bundesrepublik Deutschland zwar die Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem im Vordergrund steht, die negativen Auswirkungen dieses Systems jedoch durch die sozialen Sicherungssysteme des Sozialstaates wieder aufgefangen werden sollen. Der Sozialstaat dient in Deutschland dazu, benachteiligte Bürger, wie z.B. finanziell Benachteiligte, Kranke oder anderweitig schutzbedürftige Personen zu unterstützen.“ (Juraforum.de)

Lange Zeit war Deutschland dem englischen Kapitalismus gegenüber ablehnend eingestellt. Fontane hatte die england-feindliche Stimmung auf die berühmten Sätze gebracht:

„Sie sind drüben schrecklich runtergekommen, weil der Kult vor dem goldenen Kalbe beständig wächst; lauter Jobber und die vornehme Welt obenan. Und dabei so heuchlerisch; sie sagen „Christus“ und meinen Kattun.“

Was bedeutet, zwar werde in England christlich gedacht, aber unchristlich gehandelt: eigensüchtig und fremdschädigend.

Martin Dibelius, der spätere EKD-Vorsitzende, hatte noch im Jahre 1940 seine Auseinandersetzung mit den Briten in der Schrift „Britisches Christentum und britische Weltmacht“ vorgelegt.

Die Deutschen, behauptete er, seien ein wirklich christliches Volk, im Gegensatz zu den Briten, bei denen Glauben und Tun sich widersprächen.

Die hasserfüllte Abneigung zwischen den beiden Völkern war nicht der geringste Grund für den Ersten Weltkrieg und spielte noch eine Rolle beim Zweiten. Nach der Niederlage 1945 hatte Deutschland keine Chance mehr, den westlichen Kapitalismus abzulehnen, weshalb die vor-kriegerische Ablehnung an der Oberfläche verschwand, im Untergrund jedoch noch immer die Ausbeuter auf den Mond schießen will. Die SPD hat ihre Proleten im Regen stehen lassen, die anderen möchten lieber Weltmeister in Wirtschaftswachstum werden, als für grundsätzliche Gerechtigkeit zu sorgen.

Auf der Politebene wird die „soziale Frage“ vertuscht, stattdessen imitieren die deutschen Politiker bedenkenlos die Positionen der erfolgreichen Nationen. Schröder fährt zu Blair und kopiert dessen kaum noch sozialen „Dritten Weg“ als die neue, weltläufige Meinung der SPD.

Maggy Thatchers heiße Liebe zum Neoliberalismus Hayeks riss die letzten Abwehrmauern nieder und machte Deutschland zur Spielwiese der Reichen. Alles, was privatisiert werden konnte, fiel in die Hände der Profitmacher.

Aus dem Satz: der Staat habe sich nicht in die Belange der Tüchtigen einzumischen, entwickelte sich die kapitalistische Herrschaft der Reichen, die sich fast aller lukrativen öffentlichen und staatlichen Dinge bemächtigten. Seitdem steigen die Preise und Lebenskosten ins Grenzenlose.

Obwohl heute alles täglich teurer wird, kennen die Raufebolde keine Hemmungen und unterlassen nichts, um das Leben der Verachteten und Schwachen noch unerträglicher zu gestalten.

Ausgerechnet die SPD importiert den kränksten Neoliberalismus mit wichtiger Miene als eigene Erfindung nach Deutschland.

Martin Dibelius konnte sich auf Max Weber berufen, der den Geist des Kapitalismus aus dem englischen Neocalvinismus abgeleitet hatte. Je mehr die Insulaner den Reibach machten, desto mehr fühlten sie sich als Gesegnete des Herrn.

Auch hier entdecken wir, wie die Erkenntnismethode strenger Naturgesetze mit dem Glauben an die Determiniertheit der Menschen zur Einheit verschmolz. Der Einzelne hatte weder die Chance, die göttliche Vorherbestimmung zu durchbrechen, noch die Chance, ewige Naturgesetze zu verändern.

Nicht nur die Deutschen, auch die Briten fühlten sich als auserwähltes Volk Gottes (nicht anders als Putins orthodoxes Russland oder das amerikanische Gods own land).

„Die Engländer seien das Salz der Erde. Auch die imperiale Ausdehnungspolitik der Engländer wurde christlich gedeutet. Manche fremden Länder habe Gott selbst für England reserviert. Andere Länder zu überfallen und christlich zu missionieren: das war Gottes inniger Befehl. Das Missionsvolk der Engländer hat den Eingeborenen das krasseste Beispiel der Unbrüderlichkeit vorgespielt.“ (Dibelius)

Nicht dass die Engländer den Völkern eine bewusste Heuchelpolitik vorgespielt hätten. Denn sie glaubten fest an die Einheit von Religion und Reichtum. Genau das unterschied sie von den Deutschen, deren lutherischer Glaube an die Zweireichelehre sie angeblich vor der Heuchelei bewahrte, zugleich christlich und ausbeuterisch zu sein.

Grund: die Kirche hatte im weltlichen Bereich nichts zu sagen. Hier regierte allein die Obrigkeit, deren Anordnungen die Frommen schweigend zu befolgen hatten. Die Kirche unterstand der unsichtbaren Hand Gottes und wartete sehnsüchtig auf das Ende der Heilsgeschichte. Weltliche Ambitionen waren verboten.

Mit anderen Worten: bei den Engländern bildeten beide Reiche eine Einheit, Glaube und Politik wurden identisch. Bei den Deutschen zerfielen die beiden Reiche. Was der Glaube sagte, ging die Obrigkeit nichts an, was die Obrigkeit politisch wollte, konnte durch kein Glaubensgebot eingeschränkt werden.

Bei den Engländern fielen geistliche und weltliche Gebote zusammen, bei den Deutschen hatten sie nichts miteinander zu tun:

„In England regiert das „man“, nicht das Ich oder Du. Der Engländer borgt sich die Hüllen der Religion, um seine Ziele zu verkleiden, doch er vergisst, dass er dabei Unvereinbares zu vereinen strebt und dass Gottes Reich nicht das Britische Reich ist. Der Engländer glaubt tatsächlich, dass seinem christlichen Land die Weltherrschaft zugesagt worden sei.“

In England ist die Säkularisation so weit vorangeschritten, dass Weltgeschichte und Heilsgeschichte zur kompletten Einheit wurden. Eschatologie und Sieg über alle Völker – wurden eins.

Dibelius warf den insularen Rivalen blanke Heuchelei – oder cant – vor. Die Engländer glaubten an das, was sie taten und taten, was sie glaubten.

Die deutschen Lutheraner hingegen wurden zum Gehorsam gegen die Obrigkeit getrimmt. Das Schicksal der sündigen Welt interessierte sie nicht. Sie waren davon überzeugt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“

Die Politik der zwei Reiche, die nichts miteinander zu tun haben, spielen sie noch heute. Merkel unterwarf sich vollständig dem Drehbuch der Welt, mit ihrem Glauben hatte das nichts zu tun. Also schwieg sie. Wie hätte sie ihren törichten Untertanen verklickern sollen, dass ihr Tun und ihr Glauben nichts miteinander zu tun haben müssen. In der Welt hatte sie schweigend und demütig wie eine Magd Gottes zu gehorchen. ihr Glaube spielte in einer anderen Liga.

Recht und Geld bilden zwei Subsysteme im Maschinenraum der Gesellschaft. In allen drei Maschinen regieren Gesetze, die vom Menschen nicht gemacht waren. Maschinen gehorchen keinen moralischen Appellen.

Leider hatte Dibelius den englischen Kapitalismus nicht verstanden. Die Engländer wussten sehr wohl, dass die Sünde oder das Böse in der Welt regiert. Genau dieses Böse aber brauchten sie als Energie, um die Weltherrschaft zu erobern.

Mandeville, ihr geheimer Ideengeber, propagierte nichts anderes als just das, was Goethes Mephisto als Leitmotiv betrachtete: es war von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Die Engländer wussten sehr wohl, dass das Böse in der Welt regiert, natürlich auch in der Wirtschaft. Dieses Böse aber benötigten sie, nicht nur, um die Weltgeschichte voranzubringen, sondern um zu beweisen, dass sie als Auserwählte die Fähigkeiten erhalten hatten, das Böse für ihre Interessen wirken zu lassen und somit als Böses unschädlich zu machen.

„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es zum Guten zu wenden, dass er täte, was jetzt am Tage ist: ein großes Volk am Leben zu erhalten.“

Das war, ohne dass die Engländer es wussten, auch die Erkenntnis Luthers: sündiget tapfer, wenn ihr nur glaubt. In Deutschland führte diese Gesinnung zur Anerkennung der weltlichen Politik als sündenlose. Wie auch immer Politik sei, der Fromme hatte sich der Obrigkeit zu unterwerfen.

Auch wenn Politik Böses tut: wenn Gott es benutzt, um seine Ziele zu realisieren, muss es sich zum Guten wenden.

Das konnten die Deutschen nicht verstehen, obgleich sie – nicht im Ökonomischen, aber im Politischen – dasselbe glaubten. Natürlich wussten sie, dass sie im Holocaust Böses taten. In ihrem Privatleben wären diese furchtbaren Taten unmöglich gewesen. Aber im Krieg gegen ihre Feinde war ihnen alles erlaubt: sündiget tapfer, wenn ihr nur glaubt.

Was die Engländer im Wirtschaftlichen, exekutierten die Deutschen im Politischen. Das Böse ist erlaubt, ja geboten, weil Gott es benutzt, um seine heilsgeschichtlichen Ziele zu vollenden.

Fazit: die Christentümer der Welt hatten ihren Glauben benutzt, um ihre weltlichen Ziele als religiöse zu erreichen. Die Deutschen mit der lutherischen Zweireichelehre, Engländer und neucalvinistische Amerikaner mit der Indienstnahme der Kapitalisten als Mägde und Knechte Gottes.

Das Recht ist keine Maschine, sondern besteht aus Verstehen und fair Beurteilen. Urteile dürfen, im Gehorsam gegen die Maschine, nicht kalt und unmenschlich errechnet werden. Wollen Richter gerecht und human sein, haben sie alle menschlichen Aspekte zu berücksichtigen.

Das Geld ist kein mechanisches System, sondern ein Mittel, um menschliches Miteinander gerecht zu gestalten. Es steht im Dienst aller Menschen und darf die Imperative der Gerechtigkeit und Fairness nicht mit Füßen treten.

Die Krisen häufen sich. Die Deutschen wissen nicht mal, von welchen Krisen sie überhaupt bedroht werden. Wie wollen sie es schaffen, die Krisen in solidarischer Anstrengung zu bekämpfen?

Fortsetzung folgt.