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… zum Logos LXXV

Tagesmail vom 30.05.2022

… zum Logos LXXV,

wenn selbst die UN-Menschenrechtsbeauftragte sich den unerträglichen Phrasen Chinas beugt …?

Sind wir berechtigt, optimistisch in die Zukunft zu blicken – oder müssen wir uns realistisch eingestehen: das wird nichts mehr mit dem „weisen Menschen“, dem homo sapiens?

Selten gab es optimistische Epochen in Deutschland. Die Aufklärung war die Ausnahme:

„Ich rufe allem Geschöpfe zu, welches sich nicht selbst unwürdig macht, so zu heißen: Heil uns, wir sind und der Schöpfer hat an uns Wohlgefallen.“ (Kant)

Was jedoch, wenn der Schöpfer abhandenkam – oder nie existent war? Dürften wir dann Wohlgefallen an uns selbst entwickeln? Oder muss es das Urteilsvermögen eines Gottes sein – das unsere fehlbare Selbsteinschätzung aus dem Felde schlägt?

Die Aufklärer leugneten wohl das unveränderliche, angeborene Böse des Menschen – ein absoluter Glaubensartikel der Gottesgelehrten – nicht aber das Übel, das in gemeinsamer Arbeit der Menschheit überwunden werden sollte.

„Die Geschichtsphilosophie des späten 18. Und frühen 19. Jahrhunderts (Condorcet in Frankreich, Herder und Hegel in Deutschland) hat das geschichtliche Geschehen prinzipiell auf Überwindung des Übels, auf Höherentwicklung der Welt durch die Prozesse der Vernunft begriffen.“ (Hoffmeister)

Niemand in Deutschland will heute ein „seichter Aufklärer“ sein. Wer mit Vernunft eine philanthropische Weltepoche als Ziel seiner Bemühungen ansteuern wollte, wäre ein Hansnarr.

Was aber wollen diejenigen, die ein humanes Ziel ablehnen? Das wissen sie nicht, Hauptsache, die technische Entwicklung geht ins Universum und das Wirtschaftswachstum immer brav hinterdrein.

Es muss, so sagen sie, das Unendliche sein, das wir in den Blick nehmen müssen – gleichgültig, ob wir ankommen oder nicht. Unterwegssein ist alles, das Ziel ist nichts. Für Anbeter des Unendlichen gibt es nichts Höheres als das Unendliche. Was bedeuten würde, auch sie wollen das höchste Ziel, das dem Menschen zustünde.

Die ewige Bewegung auf der Linie des Endlosen wäre das Äquivalent des vollkommenen Ziels auf Erden, welches das Grenzenlose entschieden ablehnt.

Im Eiltempo nähert sich die Menschheit ihren Grenzen mit der ständig wachsenden Gefahr der Selbstauslöschung. Sollte man da nicht vermuten, dass alle Völker eifrig dabei wären, die Frage zu beantworten: wohin soll die gemeinsame Reise gehen? Zumal, wenn es unvereinbare Zielvorstellungen gibt? Denn wenn sie sich nicht einigen, werden sie sich gegenseitig in Stücke reißen.

Sollte es den Endlosen gelingen, sich rechtzeitig ins Universum abzusetzen, würden sie die Massen der Völker hinter sich dem Verderben überlassen. Selbst, wenn es ihnen gelingen sollte, im Weltall eine neue Geschichte der Menschheit zu beginnen, stünde ihr Erfolg noch lange nicht fest.

Viel wahrscheinlicher wird es sein, dass der Neuanfang sang- und klanglos fehlschlagen wird. Was bedeuten würde, die End- und Maßlosen wären die aktivsten Totengräber der Menschheit, die zudem – durch Einkassieren des irdischen Reichtums – den auf Erden Verbliebenen jede Möglichkeit der Erdenrettung vermasselt würden. Sie wären doppelte Totschläger: die sich selbst und zugleich alle anderen hätten hopsgehen lassen.

Würden die Endlichen sich durchsetzen, könnten sie hingegen die ganze Menschheit und die Natur retten.

Die Unendlichen müssen keine Rechtfertigung ihrer Erd- und Menschenschändung ablegen. Es genügt, wenn sie auf die Genialität ihrer Phantasterei verweisen – verbunden mit ihren gigantischen Reichtümern und ihrem spitzbübischen Grinsen: eine unschlagbare messianische Verführungskraft, besonders für Medien und Politiker, die vom Glanz des Unendlichen profitieren wollen.

Die Endlosen verhöhnen die konkreten Ziele der Endlichen als krankhafte Visionen, während sie ihre eigenen als Eingebungen ihrer kühnen futurischen Inspirationen deklarieren.

Nicht Putin wäre der größtmögliche Verbrecher an der Menschheit, denn er begnügt sich mit der Beute eines begrenzten Landes. Es wären die Genies, die mit Reichtümern, Macht und korrumpierter Naturwissenschaft der Menschheit die größtmöglichen Schäden antun würden – unter begeisterter Bewunderung ihrer Opfer.

Naturwissenschaft ist eine bewundernswerte Erkenntnismethode der Natur – als eines quantitativen Systems und einer entsprechenden Machtakkumulation. Nicht aber einer sinnlichen Ganzheitserfahrung der Natur. Die Naturwissenschaft verriet ihre partikulare Exzellenz, indem sie sich hybrid zum Maß aller Erkenntnis verklären ließ.

Beim ganzheitlichen Erkennen der Natur ist der Mensch das „unterlegene“ Wesen, das die Unfassbarkeit der Natur nur still bewundern kann. Beim kalten Berechnen hingegen schwingt er sich auf zum Beherrscher des Seins, der nur bewundert, was seine eigenen Fähigkeiten übersteigt. Er wird gottgleich.

Noch schwelt der Streit zwischen Unendlichen und Endlichen im Untergrund. Doch er ist es, der im Verlauf seiner Entwicklung die Menschheit spalten und den Planeten in zwei Teile zerreißen wird.

Es gibt einen Wettkampf, der das Schicksal der Erde und Menschen entscheiden wird. Den Wettkampf zwischen fortschreitenden Unendlichen und genügsamen Endlichen, die ihre Heimat auf Erden nicht gefährden wollen.

Poppers Bewunderung der freien Gesellschaft stellte alles auf den Kopf. Seine freie Gesellschaft war die unfreie, die sich mit der Erde als Heimat nicht begnügen konnte und in ihrem Drang zum Unendlichen alles Endliche dem Tod übergibt.

„Der Unterschied zwischen Natur- und Zivilisationsmensch beruht auf der tiefen Überzeugung des Indianers von einem lebendigen Weltverband, von der Verwandtschaft aller Erscheinungen bis hin zu den Felsen, Winden, Wolken und Morgenröten. Dagegen steht eingerammt das Wissen der Zivilisierten, Erleuchteten, das die Welterscheinungen nur facts sind, Funktionen von Atomwirbeln. »Für uns sind die großen weiten Ebenen, die herrlichen Prärien, die baumbekränzen Windungen der Flüsse nicht „wild“. Nur der Weiße hält die Natur für eine Wildnis, nur für ihn wird das Land beunruhigt von wilden Tieren und barbarischen Völkern. Für uns ist die Natur sanft und vertraut. Die Erde ist schön, und wir sind umgeben von den Segnungen des Großen Geheimnisses.«“ (in Werner Müller: Geliebte Erde)

Welchem Ziel gehen wir entgegen: dem Ziel einer bewundernswerten endlichen Erde, auf der wir ein erfülltes Leben führen können – oder einer Transiterde, die wir nur im Eiltempo durchrasen, um sie abzustoßen und ins Grenzenlose vorzudringen?

Der Krieg in der Ukraine ist nur ein Vorgeplänkel der Mächtigen, die es nicht ertragen, demnächst zum Abfall der Erde zu gehören. Lieber zerstören sie sich selbst, als zu warten, bis sie selbst zerstört werden.

Schon seit Jahrzehnten fühlen sich die Deutschen als demokratischer Nabel der Welt, der seine Vergangenheit bewältigt und die Welt mit Maschinen überschwemmt hat. Noch vor kurzem fühlten sie sich wie im Paradies, nun stehen sie plötzlich fassungslos, wie sie aus dem Pfuhl der Erfolgreichen hinausgeworfen werden konnten.

Solange sie eine führende Industrienation waren, empfanden sie ihren Erfolg als selbstverständlich. Einen bewussten Optimismus auszustrahlen, hielten sie für überflüssig. Den Tüchtigen ist Erfolg eine Selbstverständlichkeit. Weshalb sie es für richtig hielten, sich in eitler Untertreibung eher zu erniedrigen, als ihr Übermenschentum der Welt zu enthüllen.

Mit anderen Worten: sie agierten in Demut, um ihre Hybris zu verbergen. Bei jedem Erfolg wurde gemahnt: bitte keine Jubelschreie; geht’s auch eine Nummer kleiner?

Das war der Grund, warum sie sich nicht zur menschenfreundlichen Erklärung durchringen konnten: der Mensch ist gut. Ihr geheimes Glaubensbekenntnis war hingegen: der Deutsche ist überragend, aber bitte nicht weitersagen. Die Nichtdeutschen haben angeborene Defekte. Dann fielen die Namen Hobbes, Malthus oder sonstiger Menschheitsverächter.

Rousseaus Rehabilitation des Menschen als von Natur aus gut wurde hingegen als moralisierende Selbstbewunderung in die Ecke gestellt.

Kant war begeistert von Rousseau, weshalb er an die Autonomie des Menschen zu glauben begann.

Dieser „Glaube“ an den Menschen ist aber für „realistische“ Deutsche nichts als Überheblichkeit.

„Und doch bleibt eine letzte Gemeinsamkeit: Die planetarische Bedrohung trifft alle. War die Natur bislang stets nur Objekt, so ist es nun umgekehrt. Jetzt zwingt sie die Staaten zum Handeln, und das ist eine Pointe der besonderen Art. Ausgerechnet die überhitzte, übernutzte, vermüllte und vergewaltigte Natur zivilisiert die Zivilisation. Soeben zwang das Coronavirus die Wissenschaft, ein Wunder zu vollbringen und über Nacht einen Impfstoff zur Rettung der Art zu entwickeln (man hätte ihn nur gerecht mit der Welt teilen müssen). Alles zu komplex? Diese Ausrede gilt nicht. Der Mensch, wusste Kant, „muss so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme“. Er muss das Unerreichbare versuchen, um das Unvorstellbare zu verhindern. Es ist wahr: Ohne Hybris geht es auch jetzt nicht.“ (ZEIT.de)

Was aber ist Hybris? Kants Glaube an den Menschen, alles zu tun, „als ob alles auf ihn ankomme.“ Kants Glaube an die Autonomie ist also nichts anderes als – Hybris. Kants ewiger Frieden zwischen den Völkern wird verfälscht zum Unerreichbaren und Unvorstellbaren.

Kants Autonomie und ihr Gegenteil, die himmlische Heteronomie, werden ungerührt zur gleichen Hybris gestempelt. In beiden Fällen ist der Mensch überheblich: ob er an die göttliche Allmacht – oder an die eigene Gestaltungskraft seines Schicksals glaubt.

Damit ist das Vermächtnis der Aufklärung vom Tisch. In gewundenen Formeln regredieren die Deutschen zurück an die Altäre des Glaubens. Nicht der Mensch kann die Krise der Natur beenden, das kann sie nur selbst:

„War die Natur bislang stets nur Objekt, so ist es nun umgekehrt. Jetzt zwingt sie die Staaten zum Handeln, und das ist eine Pointe der besonderen Art. Ausgerechnet die überhitzte, übernutzte, vermüllte und vergewaltigte Natur zivilisiert die Zivilisation.“

Damit ist der Mensch endgültig aus dem Schneider. Nicht er ist zuständig, um die Natur zu retten, die Natur ist selbst zuständig, um sich zu retten.

Bleibt auf dem Boden, deutsche Malocher! Nicht ihr seid die Beneidenswerten, sondern unsere Erfinder auf dem Weg ins Unendliche. Natürlich ist der Mensch an sich nicht gut, schaut euch die Bilder von Katastrophen an. Was zeigen die Medien? Wie die Menschen plündern und ihre Mitmenschen drangsalieren. Dass viele sich gegenseitig unterstützten, wird hingegen nicht gezeigt. Only bad news are good news. Die Erbsünde ist das größte Geschenk für die schlagzeilen-süchtigen Medien.

Das mediale Motto zeigt nicht nur das Gieren nach Aufmerksamkeit, sondern offenbart das wahre Gesicht der menschlichen Bestie, die ihre Erbsünde nie überwinden wird. Es sei, sie kriecht zu Kreuze.

In anderen Ländern ist der Glaube an die Bestie Mensch keineswegs dominant. Das vorzügliche Buch „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“ von dem Niederländer Rutger Bregmann hätte in Deutschland kaum geschrieben werden können. Hier wäre der Autor als Gutmensch ausgepfiffen worden – von hochmoralisierenden Amoralisten.

Schon 200 Jahre lang werden autonome Kantianer als moralische Kammerdiener in die Ecke gestellt. Seit ihrem Aufstieg zur Großmacht hängen die Deutschen an ihrer weltmännischen Rolle der Machiavellisten, für die sich – näher besehen – die private Moral von selbst versteht. Aber bitte nicht weitersagen – sonst werden wir noch Heuchler genannt, wenn man uns näher unter die Lupe nimmt.

Die ehemalige Kanzlerin verstand sich auf das Doppelspiel ihrer Politik aufs vortrefflichste: eine gute Tat deckt viele Sauereien.

Ähnliches geschieht bei ihrem Nachfolger. Nur kein ordinärer Bellizismus oder penetranter Pazifismus. Irgendwas dazwischen, weder Fisch noch Fleisch. Wer nichts Klares versprochen hat, kann beim bigotten Gegenteil nicht erwischt werden. Öffentliche Panzerzusagen? Aber ja, doch ohne Munition. Ständige Zusagen – doch ohne Willen, sie einzuhalten.

Und die Summa von allem: Leerformeln und Plattitüden auf dem Kirchentag, den die Politiker so lieben:

Darf man Gewalt mit Gewalt beantworten? Klingt fast wie die Bergpredigt. Klare Antwort der Politiker überflüssig. Schließlich wollen sie nur Denkanstöße geben. Und dies seit Jahrzehnten.

Das Ganze läuft in den Bahnen der augustinischen Zweireichelehre, die von Luther kritiklos übernommen wurde.

Nie ist die Kirche für Politik zuständig, sondern allein für das private Seelenheil. Denn ihr Reich ist nicht von der Welt. Was immer die Obrigkeit anordnet, tut sie auf ihre Verantwortung. Der Christ hat nur zu gehorchen, ohne zu klügeln, ob die Obrigkeit im Geist des Evangeliums handelt oder weltlichen Interessen folgt.

Der Machiavellismus der Obrigkeit (im Dienst des Herrn) und der Gehorsam der Untertanen, die über die Qualität der Politik nicht zu klügeln haben, ist seit Ende des Zweiten Weltkrieges zur Einheit verschmolzen.

Ursprünglich war nur die CDU christlich, heute sind alle Parteien zur ökumenischen Einheit zusammengewachsen. Selbst ehemalige Marxisten können sich unter christlicher Politik etwas Sinnvolles vorstellen. Eine atheistische Arbeitsgruppe wurde von der SPD-Führung sogar verboten.

Das Negative in Deutschland ist bis in die Philosophie vorgedrungen. Ein Professor bekennt:

„Der Begriff »wahres Selbst« scheint so etwas wie einen unwandelbaren Wesenskern in uns zu meinen. Dass wir also mit einem Selbst auf die Welt kommen, das als Möglichkeit existiert und das wir dann erkennen und wirklich werden lassen. So eine Vorstellung halte ich jedoch für eine Fantasie. Philosophinnen und Psychologinnen sehen das Selbst heute eher als eine Konstellation oder einen Prozess an. Es entwickelt sich in verschiedenen Verhältnissen, ist also auch anders in unterschiedlichen Lebensaltern. Dennoch gibt es sicher diesen Leistungsdruck, nicht nur, dass ich mich selbst erkennen muss, sondern auch den Druck, dass ein Leben, in dem das Glück nicht eintritt, vermeintlich ein misslungenes Leben ist.“ (SPIEGEL.de)

Erkenne dich selbst, war dereinst die Grundlage jedes selbständigen Denkens und setzte voraus, dass man beim Suchen seines Selbst auf jene Substanz stoße, die das Individuum mit der Menschheit verbindet: die naturgegebene Vernunft, die durch menschliches Bemühen entfaltet werden muss. Diese Selbsterkenntnis schloss das mäeutische Gespräch mit einem Dialogpartner keineswegs aus.

Im Gegenteil: indem ich mich mit den Argumenten des Partners auseinandersetze, komme ich mir selber auf die Spur. Das Selbst ist kein neoliberales Ich, sondern die Verbundenheit des Einzelnen mit der gesamten Menschheit mit Hilfe der natürlichen Vernunft.

Heute wird auch Sokrates vom Tisch gewischt, ohne ihn bei Namen zu nennen. Schau nicht zurück; Engel. Es gibt keine Vergangenheit, das Heil liegt allein in der Zukunft. Ein persönliches Selbst gibt es nicht, wir sind ständig wechselnde anonyme Verschmelzungen mit anderen.

Können wir optimistisch in die Zukunft schauen? Draußen in der Welt – erzählte Rutger Bregmann in einem Interview – gibt es wesentlich mehr Zuversicht als im pessimistisch-kalten Deutschland, das keine Leidenschaft zur Wahrheit kennt.

Der deutsche Mensch hat kein Selbst, aus dessen Vernunftquelle er seine Zuversicht ziehen könnte. Er lebt in Ängsten, ohne sie wahrzunehmen. Sein Ich muss er nicht suchen, denn unerkennbar verschmilzt es mit anderen Ichs. In der Masse unerkennbarer Ichs schwimmt jeder Einzelne dorthin, wo die Masse hinschwimmt.

Ein deutsches Selbst gibt es nicht, wie sollte es erkannt werden? Auf deutschem Boden wurde Descartes auf den Kopf gestellt: Ich denke nicht, also bin ich. Dächte ich, würde ich die denkfeindliche Kälte der Deutschen keinen Tag länger ertragen.

Fortsetzung folgt.