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… zum Logos LXXI

Tagesmail vom 20.05.2022

… zum Logos LXXI,

mitten im fernher grollenden Kriegsgetümmel geschieht das Wunder, von dem Deutschland kaum zu träumen gewagt hatte:

noch ist er verunstaltet, entstellt von Scham, die keine sein darf, von Trotz, die nicht wissen darf, wie hässlich sie ist.

Wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich, ohne Gestalt und Schöne, kein Gesicht, das uns gefallen würde. Verachtet war er und verlassen von allen, die ihn einst bewundert, bestaunt und mit Ehren überhäuft hatten.

Doch nicht mehr lange – und Er wird ganz oben stehen und uns alle beschämen, uns, die wir rachsüchtig seine Schande wollten und nun entsetzt die Augen senken.

Alle Menschen werden Brüder,
Brüder, überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen.
Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein,
Küsse gab sie uns und Reben, einen Freund, geprüft im Tod.
Laufet, Brüder, eure Bahn, |: freudig wie ein Held zum Siegen.
Brüder, fliegt von euern Sitzen, wenn der volle Römer kreist,
laßt den Schaum zum Himmel spritzen,
Wahrheit gegen Freund und Feind,
Männerstolz vor Königsthronen,– Brüder, gält´ es Gut und Blut,
dem Verdienste seine Kronen, Untergang der Lügenbrut!

Zwei unbeugsame Männer haben sich gefunden und Freundschaft geschworen. Da komme, was will, diese Freundschaft wird unzerbrechlich sein: echte, kernige, zeitlose Männerfreundschaft, keiner Mode, keinem Zeitgeist untertan.

Weit voneinander waren sie aufgewachsen, in fremden Kulturen – und doch fanden sie zueinander, spürten unter der Hülle des Fremden – den Bruder, der die Welt sieht, wie er sie selbst sehen gelernt hatte: diese Welt ist schlecht – und zum Untergang bestimmt.

Der Eine macht Krieg, um die Welt durch Vernichtung zu erlösen. Der Andere hält ihm – trotz mancher Bedenken – die Treue. Ob Krieg oder nicht, das sind Kleinigkeiten vor der Geschichte. Entscheidend ist: diese Welt muss untergehen, damit eine neue entstehen kann.

Und sie, die beiden eisenharten Männer, sind vom Schicksal erwählt, der Welt ihre Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Ohne Wenn und Aber. Sie haben nichts mehr zu verlieren.

Alle Macht und Ehre dieser Welt, die sie erringen konnten, haben sie errungen. Eitelkeiten können sie nicht mehr locken, der Tand der Welt: lass fahren dahin.

Ihr Wahnsinnigen, wisset ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft gegen die Wahrheit sein muss? Wer die Welt retten will, der muss sie opfern – um eine neue entstehen zu lassen.

Nur sie, die beiden Bluts- und Wodkabrüder, haben dieses Gesetz erfasst und sie werden es der Welt aufzwingen, ob die Welt will oder nicht.

Deutschland hat einen neuen Giganten, einen zweiten Luther, der sich von niemandem mehr bezwingen lässt. Der Mann ist ein Wunder, aus niedrigen Verhältnissen geboren, dennoch ein Opfer seiner hochtönenden Karriere – die er unerwartet abbrechen musste.

Endlich kann er zur Sache kommen, die er lebenslang in sich trug: so kann es nicht weitergehen, ihr Mitläufer, die ihr auf mein lächerliches Gedöns reingefallen seid. Habt ihr wirklich geglaubt, dass ich nichts bin als ein Sprüchemacher? Ihr seid tatsächlich so windig, wie ihr ausseht.

Keiner seiner Vertrauten hatte es kommen sehen. Über Nacht hatte er alle zynischen Sprüche abgestreift, sein Gesicht glänzte nicht mehr von prahlender Unbesiegbarkeit, sondern war erstarrt in grauer Verwüstung: Ich weiß, was ich weiß. Ich weiß, wie die Welt ist. Komme niemand und wolle mich belehren.

Die beiden Männer, unbeugsam vor der Welt, waren der Inbegriff schicksalhafter Kameraderie, die in Deutschland im Ersten Weltkrieg Furore gemacht hatte:

„Als Wesenskern des Kriegserlebnisses wird immer wieder die Kameradschaft bezeichnet: „Wir sind doch Kameraden! Kameraden! Da hast Du das Wort und Erlebnis“. Das Kameradschaftserlebnis ist identisch mit dem Gemeinschaftserlebnis, von dem die Frontbücher nicht genug berichten konnten. Dieses Gemeinschaftserlebnis beruht in der gemeinsamen Hinnahme des großen Schicksals eines Volkes, wobei der Einzelne sich als Werkzeug des Volksschicksals fühlte.“

Überflüssig zu erwähnen, dass zwei Völker zusammenwuchsen und ihre Geistesverwandtschaft entdecken konnten: Deutschland und Russland, schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten sie ihre Wesensverwandtschaft entdeckt. In Bewunderung und Hass. Und fast 100 Jahre danach waren zwei Männer imstande, sie als weltpolitische Kameradschaft und Freundschaft wider alle Welt unter Beweis zu stellen.

Dass es nimmer so weiter gehen kann mit der verkommenen Menschheit, das ahnte doch ein jeder. Doch wer hatte den Mumm, diese Tatsache zur Weltpolitik zu machen? Zwei Fremde aus ehedem feindlichen Ländern, die zu Freunden wurden, weil dieselbe Erkenntnis sie zusammengeführt hatte.

Welche gemeinsame Einsicht?

„Wir mussten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen“, das war das deutsche Fazit des Ersten Weltkriegs.

Wir müssen zeigen, dass es um alles oder nichts, um Sein oder Nichtsein geht: das wurde den Aufsteigern aus Leningrad und Lippe plötzlich klar. Die Welt, so ihr west-östliches Credo, muss untergehen, sie ist nicht überlebenswert:

„War nicht im Weltkrieg eine Welt der Lüge, der seichten Frivolität in sich zusammengefallen? Das einzige Beziehungszentrum im Leben ist der Tod. Nur an ihm lassen sich wirkliche Werte messen. An ihm wird die Welt gewogen und zu leicht empfunden.

„Und dies ist die Schrift, die geschrieben wurde: Mene, mene, tekel upharsin. Dies ist die Deutung des Wortes Mene – Gott hat dein Königtum gezählt und macht ihm ein Ende. Tekel – du bist auf der Waage gewogen und zu leicht befunden worden. Peres – dein Königreich wird zerteilt und den Medern und Persern gegeben.“

Das verstanden nicht nur die Deutschen, sondern auch die russischen Jünglinge, die ihre Bildung in Europa und ihren Glauben bei ihren Priestern erworben, die deutschen Philosophen gelesen und den Geist des untergehenden Europa mit Schrecken und Genugtuung wahrgenommen hatten.

Untergangs- und Auferstehungsstimmung prägte alle folgenden Epochen in Deutschland bis zum heutigen Tag. Auch Lenin, Stalin und Nachfolger waren erfüllt vom Geist des Tages Armaggedon, der Schreckliches bringen wird – um endlich ins Paradiesische zu kommen.

„Das Kriegserlebnis wurde in heftiger Reaktion gegen den Weimarer Pazifismus zu einem Politikum.“

Nein: das ist dieselbe Geschichtsfälschung wie heute, wo unwidersprochen behauptet werden kann, der Pazifismus der Nachkriegszeit würde sich wegen russischer Kriegerhorden ins Gegenteil verkehren.

Pazifismus war stets die Angelegenheit winziger Minderheiten, die sich aber mächtig ins Zeug gelegt haben. In Weimar wie zu Petra Kellys Nachkriegszeiten.

Der Nachfolgesatz widerlegt die Story vom deutschen Pazifismus, der sich ins Gegenteil wenden würde:

„Die Idee des Kriegs als einer Fügung des Schicksals, der man sich zu stellen habe, war in Deutschland trotz Kant viel vertrauter als die Idee des Ewigen Friedens, die man gern verächtlich als Humanitätsduselei abtat. „Viel Jugend bejaht den Krieg aus Grundsatz und Weltanschauung, bejaht die romantische Verzückung in hohen und höchsten Tönen, als etwas Hehres und Heiliges, das der Religion gleich …“

Kant – soll das ein Witz sein? Kaum ein Deutscher kennt den Königsberger. Hegel & Romantiker haben den Aufklärer längst ins Abseits gestellt. Für Hegel war Krieg „das wesentliche Moment der sittlichen Substanz. Nationen gewinnen durch Krieg nach außen Ruhe im Innern.“

Seit 200 Jahren ist Krieg die Prägung einer Nation, die noch immer ihre Kammerdiener-Feigheit vor sich und der Welt widerlegen muss.

Zudem war Kant auch kein eindeutiger Befürworter des Friedens:

„Der Krieg ist etwas vor der Vernunft und Ethik Verwerfliches, aber hat doch für den Fortschritt in der Geschichte einen Nutzen.“

Goethe war sauer auf Kants Erfindung des radikal Bösen, doch auch er benötigte Mephisto, der das Böse will, aber das Gute vollbringt. Das Gute war – der Fortschritt.

Das wurde zum Dogma aller christlichen Staaten: Fortschritt rechtfertigt und erfordert das Böse in Form schrecklicher Kriege. Die Wissenschaftler kommen nicht voran, wenn ihre Erkenntnisse nicht in militante Höllenmaschinen verwandelt werden. Den Laborgenies verdanken wir die überquellenden Vorräte an Atomwaffen, die die Welt nach Belieben in Asche verwandeln könnten.

Gibt es irgendwo die geringsten Proteste wider den Fortschritt des atomaren Zerstörungspotentials? Solange sie für Sensationen sorgen, bleiben die Sprengköpfe gesegnet und dürfen unbehelligt den Bestand des Menschengeschlechts in Frage stellen.

Nicht nur die Deutschen, auch die Russen sind geprägt von Übermenschen, denen die Existenz des homo sapiens gleichgültig ist. Nietzsches Übermensch bestimmt weltenweit das politische Gesamtklima.

Der Übermensch war der „wahrhaft Wissende“, zu seiner Beschreibung gehörte „ eine besondere Unmenschlichkeit.“ Das wurde mit einem Achselzucken hingenommen. Die Anziehungskraft des Übermenschen bestand darin, dass die Menschen nicht nur immer schöner und größer würden und perfekt singen konnten, sondern am Ende auch den Tod überwanden.

Fühlt sich jemand an Silicon Valley erinnert? Wäre es nicht endlich an der Zeit zu erkennen, dass der Fortschritt der Gott aller führenden Weltmächte ist?

Die russische Eroberung der Ukraine ist kein Endzweck. Sie soll den Westen erschüttern, um die Welt-Unordnung endlich in die richtigen Hände zu legen.

Nikolaj Fedorov heißt ein philosophisches Vorbild des russischen Despoten. Die Tat des Übermenschen war für Fedorov etwas, „was die Zeit überwindet – die Wiedererweckung der toten Ahnen als schöpferische Tat aller Menschen. Das Werk der Auferweckung der Toten, das mit der Auferstehung Christi begonnen hat, muss als die einzig wesentlich Aufgabe durchgeführt werden: es macht die Menschen zu Brüdern und damit den Menschen im wahrste Sinne des Wortes zum „Übermenschen.“ (Zitate in E. Benz: Der Übermensch)

Petscherin ist ein anderer russischer Denker, der um 1870 die Prophetie aussprach:

„Russland und Amerika beginnen einen neuen Zyklus der Weltgeschichte.“

Auch Bakunin gehört zu den Bewunderern des Übermenschen. Unter Demokratie verstand er die „totale Umwandlung des Weltzustandes“ als Verkündigung eines „ursprünglich neuen Lebens“, als „neue Religion. Die Lust der Zerstörung ist auch eine schaffende Lust.“

Doch das alles war nur Vorgeplänkel. Denn jetzt erst kommt der glühendste aller Europahasser, der russische Messianist mit Namen – Dostojewski.

In seinen Romanen schuf er die Hassbilder des Westens, die durch seine Werke zur Weltgeltung kamen. „Dostojewskis Erfolge im Westen gehören zur „pathologischen Wirkung“ des Ostens auf den Westen bei Beginn des Ersten Weltkriegs.

„Dostojewski hasst und verachtet die Europäer: die Deutschen, Franzosen, Polen, Italiener Juden. In Sibirien erlebt er seine große Krise, trennt sich von Europa und einer Europäisierung Russlands, wird ein seltsamer Verehrer des Zarentums und ein russischer Imperialist. Sibirien wird zur Wiege seines russischen Imperialismus.“

Die Siege des Zaren sind für ihn „der Sieg der höheren russischen Moral über die ganze Welt: als Schirmer der Gerechtigkeit gebührt Russland die Herrschaft über die ganze slawische Welt.“

Dostojewski hasst nicht nur Deutschland – sondern alle führenden Staaten Europas:

„England ist nichts als die Maske des wirtschaftlichen Imperialismus, die Franzosen sind geprägt durch unerträglichen Stolz und Selbstzufriedenheit.“

„Ich glaube an Russland.“ Die Erneuerung der Menschheit kann nur durch den „russischen Gott“ erfolgen.

Fast alle führenden Intellektuellen Russland sind überzeugt, dass „der Westen zugrunde geht“ – wenn nicht Russland „Leib und Seele des Westens retten wird.“ Nur Russland wisse den klaren Kurs zur „Pravda“, zur Wahrheit. „Der russische Geist besitzt das Fassungsvermögen für Alles und für das All, er ist universal und allein verstehend.“

Russland dürfe sich nicht von außen prägen lassen, sondern müsse den anderen „seinen Stempel aufdrücken.“

Kommt die interessante Frage: wie wird der Marxismus zu all dem eschatologisch-übermenschlichen Messianismus stehen?

Kollidieren da nicht zwei sich absolut widersprechende Weltanschauungen: eine nüchterne, positivistisch sein wollende Naturwissenschaft und eine Heilsgeschichte?

Im Zusammenprall mit der russischen Orthodoxie muss der Marxismus seine geheime Heilsstruktur offen legen:

„Ein russischer kommunistischer Messianismus kann an den Messianismus Dostojewskis anknüpfen. Der religiöse Sozialismus sieht 1918 das Proletariat als neuen Messias, er besteigt zuerst Golgatha, geht den Kreuzweg der Geschichte, um in ihr die Auferstehung zu erleben. Dostojewski sieht das russische Volk als kreuztragendes Christusvolk, in seinen Romanen wollte er die Leiden des Gekreuzigten und die Wege zur Auferstehung aufzeigen.“ (alle Zitate in F. Heer, Europa, Mutter der Revolution)

Zusammenfassend formuliert Heer:

„Kosmokratie: das russische Volk als Erlöservolk, als Weltraum-Volk, das im Universum siedelt. Die Aufgabe des Menschen ist nicht nur, die Welten des Universums zu besuchen, sondern es zu besiedeln.“

Sind das nicht Höhenflüge wie die eines großsprechenden Amerikaners namens Elon Musk?

Wir sehen mitten ins Herz der modernen Weltgeschichte. Was wir am eigenen Leib erleben, ist der unerbittliche Wettkampf zwischen Ost und West um die Messianisierung des Weltalls.

Das Reich Gottes ist auf Erden und im Weltraum, der kolonisiert werden muss.

Die moderne Zivilisation muss überwunden werden, sie ist nichts als die Zerstörung der Natur und die gegenseitige Ausrottung der Menschen. Die Vergottung des Weltalls muss durch Eingreifen der Menschheit befördert werden.

Der Tod auf Erden ist nichts als der Triumph einer blinden und amoralischen Kraft. Der Mensch ist berufen, ihn zu überwinden: die Auferstehung der Toten ist durch wissenschaftlich-technische und spirituelle Anstrengungen zu erkämpfen. „Mutter Erde muss erlöst werden.“

Das wäre der endgültige Tod des Feminismus. Das Patriarchat mit Gott-Vater würde Mutter Erde durch Zerstörung erlösen.

Die konkurrierenden Elemente der Gemeinsamkeiten von Ost und West werden dem eisernen Männerpaar aus Deutschland und Russland kaum bewusst sein. Belanglos!

Nicht, was sie wissen über ihre Beweggründe, sondern welche Triebfedern ihr Tun wirklich bestimmen, kennzeichnet die Gemeinsamkeiten des unzertrennlichen Brüderpaars.

Der deutsche Ex-Kanzler hat, nach langer Mitläuferkarriere, endlich seine Berufung gefunden.

Was verbindet die beiden, sich für unbesiegbar haltenden Herren? Das unüberbietbare Selbstvertrauen von Luther und Dostojewski: hier stehen wir, wir können nicht anders:

„Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.
Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib,
lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn,
das Reich muss uns doch bleiben.“

Letzte Meldung: „Schröder hat angekündigt, seinen Posten beim russischen Konzern Rosneft aufzugeben.“
Sieht aus wie ein taktischer Schachzug, nicht wie eine Selbstkorrektur aus Einsicht.

Fortsetzung folgt.